Pierre Christin und Sébastien Verdier: "George Orwell"
Aus dem Französischen von Anja Kootz
Knesebeck Verlag, München 2019
158 Seiten, 25 Euro
Hommage an einen Visionär
06:23 Minuten
Es gibt viele Möglichkeiten, George Orwells bewegtes Leben darzustellen: Entsprechend reich und vielfältig zeigt sich dessen Leben in einer neuen Comic-Biografie, die nicht nur ästhetisch überzeugt, sondern auch Lust aufs Lesen macht.
George Orwell hat vor 70 Jahren das Szenario für die Welt von heute geschrieben. Seine Bücher über den Überwachungsstaat und über den totalitären Sozialismus, "1984" und "Die Farm der Tiere", haben ihn zu einem der bekanntesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gemacht.
Seine düsteren Vorahnungen sind heute Realität, schaut man auf die flächendeckende Beobachtung öffentlicher Räume in Großbritannien – oder besonders radikal im chinesischen Sozialkreditsystem.
Kritiker des britischen Imperialismus
Wer dieser Mann war und wie er zu seinen Ideen kam, darum geht es in der neuen Graphic Novel des Szenaristen Pierre Christin und des Zeichners Sébastien Verdier. Gleich zu Beginn zeigt das französische Duo, wie verschieden sich Orwells Vorgeschichte auch erzählen ließe: als Hymne auf das britische Kolonialreich, als exotische Geschichtensammlung oder als romantisch-feministischer Roman seiner praktisch alleinerziehenden Mutter.
Mit dieser Einführung machen Christin und Verdier klar: Ihr Buch ist ihre Lesart von Orwells Leben, viele andere wären möglich.
George Orwell ist ein Künstlername, den sich der 1903 geborene Autor erst zu Beginn der 1930er-Jahre zugelegt hat. Damals hatte er schon eine Berufslaufbahn als Polizist der Kolonialmacht in Indien hinter sich. Seine Erfahrungen dort machen ihn zu einem scharfen Kritiker des britischen Imperialismus und zu einem überzeugten Sozialisten.
Der spanische Bürgerkrieg war ein biografischer Wendepunkt
Wie später Günter Wallraff recherchiert der junge Orwell in Londoner Obdachlosenunterkünften und bei Saisonarbeitern auf dem Land, um möglichst genau darüber berichten zu können. Dasselbe Motiv bringt ihn 1936 dazu, nach Spanien zu fahren und sich den republikanischen Truppen anzuschließen.
Die Zeit in Spanien ist ein Wendepunkt für George Orwell – und auch ein Schwerpunkt im Buch von Pierre Christin und Sébastien Verdier. In Spanien erlebt Orwell, wie sowjetische Politkommissare gegen freiheitliche und anarchistische Linke hetzen und mit Gewalt gegen sie vorgehen. Orwells Verachtung des Stalinismus wurzelt in diesen Erfahrungen.
Manches kommt in dieser Biografie zu kurz
Polizist, Obdachloser, Tellerwäscher in Paris, Freiheitskämpfer, Journalist, Romancier – George Orwells Leben war ungemein vielfältig. Eine Biografie in Comicform muss daher radikal auswählen und verkürzen. Und so kommt manches zu kurz in diesem Buch, unter anderem die Frage, was Orwell zu einem so genialen Propheten der überwachten Gesellschaft gemacht hat.
Christin und Verdier machen aber andererseits die Vielfalt von Orwells Leben sichtbar, in ihrer sehr szenischen und ganz auf Dialoge setzenden Lebenserzählung, mit knappen Zitaten aus seinen Büchern und in den präzis-realistischen Schwarz-Weiß-Zeichnungen von Sébastien Verdier. Die bekommen durch eingeblendete Fotos, originale Buchcover oder Plakate eine weitere Farbe.
Eine geniale Idee hatte das Duo für die Darstellung von Orwells Büchern: sie haben sechs Comic-Zeichner eingeladen, darunter Größen wie Manu Larcenet oder Blutch, um auf Doppelseiten einen kurzen Ausblick auf Orwells Romane zu geben. So ist dieses Buch auch eine Sammlung gegenwärtiger Comic-Kunst – und eine Verlockung zum Orwell-Lesen.