50 Jahre "Sesame Street"

Wo Stevie Wonder mit Grobi groovt

06:20 Minuten
Der Musiker Stevie Wonder sitzt in der US-Kindersendung "Sesamstraße" lachend am Keyboard, neben ihm die Figur Grobi.
Ein ungeplantes Straßenfest: Stevie Wonder in der "Sesame Street", die seit 1973 als "Sesamstraße" auch im deutschen Fernsehen läuft. © picture alliance / dpa / Courtesy Everett Collection
Von Laf Überland · 11.11.2019
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Vor 50 Jahren begann die amerikanische Kindersendung "Sesame Street", die Pädagogik im TV umzukrempeln. Dazu gehörten Popsongs, die extra für die Sendung geschrieben wurden - und namhafte Gäste. Doch inzwischen ist das Revolutionäre abhanden gekommen.
B.B. King sitzt auf einem Sessel, umringt von begeisterten Stoffpuppen, und singt denen über alles Mögliche vor, das mit dem Buchstaben B anfängt: den Blues, lange Bärte – und B.B. King. Denn diese Sendung, in der er das tut, soll Vorschulkindern das Buchstabieren beibringen. Und das Zählen. Und das soziale Miteinander. Und dieser Song ist nur einer von zig Liedern allein über den Buchstaben B.
Natürlich war den jungen Machern des urprogressiven Fernsehprojekts "Sesame Street" klar, dass auch die Vorschulkinder ihrer Zeit keine Kinderlieder mehr hörten, sondern die Musik, die im Radio lief: Popmusik also. Und es ist deshalb kein Zufall, dass die Sendung wimmelte von einprägsamen Popsongs: Strophe, Refrain – und immer sehr catchy, denn Kinder haben keine besondere Aufmerksamkeitsspanne.
Das Erstaunliche aber war, wie gut das Musikteam das hinkriegte: vor allem der Komponist und Jazzpianist Joe Raposo. Er hat über 3.000 Stücke für die Show geschrieben. Abends kriegte er die Filmrollen aus dem Büro, nachts sah er sie durch und schrieb dann die Musik, wo auch immer: notfalls im Taxi. Manchmal schliefen die Musikmacher unter dem Mischpult.

Little Richard, Gloria Estefan, R.E.M.

Und diese Besessenheit von der Musik hörte man "Sesame Street" als erster Kindersendung an: Sie nahm die Musik ernst! Nicht als unterhaltsame Dreingabe, sondern als zentralen Bestandteil des Lebens und immer in Rücksprache mit Soziologen und Pädagogen.
Christopher Cerf war der Spezialist für Rockparodien: Seine Version von Springsteens "Born to Run" als Bruce Springbean und "Born to Add" – Geboren zum Addieren – war für den Grammy nominiert. Und die drei rausgeputzten Schweinedamen von den Oinker Sisters klangen wie die Pointer Sisters.
Für Muppet-Puppen zu komponieren, war natürlich eine Herausforderung: Aber es kamen ja plötzlich auch immer mehr berühmte Menschenstars in die Straße und sangen kreuz und quer durch die Genres: Wynton Marsalis und Pharrell Williams, Little Richard und die Dixie Chicks, R.E.M. und der blinde Ray Charles, der Elmo erklärte, dass er die Noten mit den Fingern liest.
Patti Labelle gospelte den Alphabet-Song, während Dave Matthews mit Grover über Gefühle sang. Cab Calloway scattete sein Hi-De-Ho zusammen mit einer Horde Muppets, und viele Kinder sahen da zum ersten Mal einen Jazzmusiker. Der Violinist Itzhak Perlman brachte klassische Musik in die armselige Straße, und Tracy Chapman und Gloria Estefan kamen die Tränen beim Singen mit den Puppen.
Irgendwann auf dieser langen Strecke – 50 Jahre lang die Sesame Street rauf und runter, rauf und runter – ist dann der rebellische Geist eingeschlafen. Die Sehgewohnheiten der Kinder haben sich der Dauerberieselung durch Kabelsender angepasst – erst recht, seit "Sesame Street" bei HBO läuft.
Und jetzt ist sie das, was man entwicklungspsychologisch als "kindgerecht" beurteilt; die Figuren sind kindlicher und die Musik wird immer inhaltsleerer, tapetenähnlicher, und die Filzmonster müssen jetzt vorsichtig und zart mit den Kids umgehen.

Techniker, Kinder und Puppen tanzten zu Stevie Wonder

So was wie der Auftritt von Stevie Wonder 1973 würde jedenfalls jetzt nicht mehr passieren, wo der 23-jährige Stevie aus irgendeinem Grund beinahe die ganze Sendung füllte und dann mit ganzer Band tatsächlich eine monstermäßig groovende Sechsminutenversion von "Superstition" hinlegte, zu der plötzlich die Techniker tanzten, die Kinder tanzten, die Puppen tanzten.
Da explodierte in der erfundenen Straße mit den vielen Ethnien ganz ungeplant ein echtes Straßenfest – und eine Sternstunde des Fernsehens überhaupt. Wow!
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