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Warum Theater?

04:28 Minuten
Kinder, Frauen und Männer sitzen vergnügt und lachend in einer Theatervorstellung.
Zusammen atmen, zusammen lachen, zusammen weinen mit Freunden, Familie oder auch mit völlig Fremden - und das ohne lästiges Handyklingeln: Im Theater geht alles. © Getty Images / UpperCut Images / Image Studios
Von Stefan Kaegi · 09.01.2021
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Corona setzt nicht nur den menschlichen Organismus außer Gefecht, sondern macht auch dem Kulturbetrieb zu schaffen. Dabei gibt es so viele Gründe, warum Theater einfach unverzichtbar ist. Stefan Kaegi vom Rimini Protokoll hat 42 zusammengetragen.
Traurig, schön, peinlich, wichtig, leise, laut, vereinend, verstörend - all das und noch viel mehr kann Theater sein. Stefan Kaegi, Mitglied des Theaterkollektivs Rimini Protokoll, zählt seine ganz persönlichen Gründe auf, warum Theater so wichtig ist. Ein Plädoyer dafür, die Bühnen möglichst bald wieder zu öffnen.
Weil im Theater das Handy aus ist. Weil ich andere atmen höre.

Weil wir den Atem gemeinsam anhalten.
Weil wir zusammen still sind.

Weil wir zusammen Hormone ausschütten.

Weil man sich leichter in Menschen verliebt, mit denen man Hormone ausgeschüttet hat.

Weil ich im Theater über etwas weinen kann, das mit mir nichts zu tun hat.

Weil ich im Theater nicht einsam bin.
Weil niemand Theater alleine machen kann.
Weil im Theater Leute sitzen, die ich nicht kenne. Sogar Leute, die ich nicht ausstehen kann.
Weil auf der Bühne Menschen nebeneinanderstehen können, die sich draußen zerfleischen würden.
Weil alle Theater spielen können.
Weil Theaterspielen nicht vorspielen, sondern zusammen spielen heißt.
Weil am Ende alle ihre eigenen Rollen spielen, selbst wenn einige versuchen, andere zu spielen.
Weil hier alles Künstliche gegen Kinder und Tiere verliert.
Weil alle wissen, was Theater ist.
Weil es niemand weiß.
Weil alle überrascht davon sind, was auch noch Theater sein kann.
Weil alles, was geschieht, zu Theater werden kann.
Weil Theater überall geschehen kann.
Weil auch das Publikum eine Rolle hat, selbst wenn es sich im Zuschauerraum versteckt.
Weil Aufführungen jederzeit durch jede*n im Raum abgebrochen werden könnten und weil das dann doch nie geschieht.
Weil Theater Verhalten vorhergesagt hat, lange bevor es Algorithmen gab.
Weil hier Zeit vergeht, die keine Zuschauerin und kein Zuschauer geplant hat.
Weil es zwei Sekunden dauert, bevor der Applaus losbricht.
Weil Theater ähnliche Regeln hat wie Politik.
Weil ich im Theater sehe, wie es gemacht wird, und mir das dann überall auffällt, wo Macht ausgeübt wird.
Weil sich auf der Probebühne Komplexität verräumlichen lässt.
Weil hier Unbeschreibliches greifbar wird.
Weil im Theater all das vorkommt, was in der Literatur nicht geschrieben steht.
Weil im Theater das künstlich inszenierte und das Unvorhergesehene aufeinandertreffen.
Weil nirgendwo sonst Hänger und Pannen so aufregend sind.
Weil Theater peinlich ist.
Weil man hier jede Fliege hört.
Weil das Nichts nirgendwo mit so viel Gewicht geschieht.
Weil wir vor der Aufführung Angst haben und weil wir danach erleichtert sind.
Weil ich im Theater mitten unter Menschen einschlafen und meine Träume nicht mehr von der Aufführung trennen kann.
Weil es im Theater im Winter warm ist.
Weil hier Erinnerungen entstehen, ohne fotografiert zu werden.
Weil Theater nicht gesammelt und überteuert weiterverkauft werden kann.
Weil Theater nicht ewig rumsteht.
Weil Theater nur einmal geschieht.

Entnommen dem Band: "Why theatre", herausgegeben von Kaatje De Geest, Carmen Hornborstel und Milo Rau – erschienen im Verbrecher Verlag Berlin.

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