40 Jahre nach dem Putsch

Argentiniens geraubte Kinder

Großmütter "Der Plaza de Mayo"
Die Großmütter der "Plaza de Mayo" mit Enkeln bei der Feier zum 35-jährigen Jubiläum. © Deutschlandradio Kultur / Foto: Regina Mennig und Jenny Hellmann
Von Regina Mennig |
Während der Militärdiktatur in Argentinien von 1976 bis 1983 sind rund 500 Säuglinge ihren später ermordeten Müttern weggenommen und regimetreuen Familien übergeben worden. Seit Jahrzehnten suchen die Großmütter nach ihren Enkeln, 119 wurden gefunden.
Die Plaza de Mayo in Buenos Aires – der Platz vor dem rosafarbenen argentinischen Präsidentenpalast: Touristen mit Kameras um den Hals flanieren über die Pflastersteine, auf die weiße Kopftücher aufgemalt sind. Die Aktivistinnen, die in Argentinien einst mit solchen Kopftüchern auf die Straße gingen, sind heute weit über 80 Jahre alt. Sie kämpfen immer noch für die Aufklärung der Diktaturverbrechen, aber ihr Kampf spielt sich inzwischen woanders ab: in Ministerbüros oder an Universitäten, vor der Kamera mit Prominenten wie Fußballstar Lionel Messi oder Papst Franziskus. Immer wieder sind Menschenrechtsorganisationen aus dem Ausland zu Besuch bei den so genannten Großmüttern der Plaza de Mayo. Termin mit einer Delegation aus Japan, im Tagungsraum eines Hotels mitten in Buenos Aires. Auf dem Podium in der Reihe der Großmütter sitzt heute ein besonderer Gast, eine zierliche Frau Mitte 30, mit langen braunen Haaren und geblümtem Sommerkleid.
Catalina de Sanctis Ovando: "Ich bin das Ergebnis der hartnäckigen Suche der Großmütter, und ich werde ihnen ewig dafür dankbar sein. Ich habe meine wahre Identität im Jahr 2008 herausgefunden. Man hat mich meinen Eltern entrissen, gestohlen, etwa zwei Tage nach meiner Geburt. Das war in "Campo de Mayo", einem geheimen Gefangenenlager. Ein Militär und seine Frau nahmen mich mit. Sie fälschten meine Geburtsurkunde und trugen mich als ihr eigenes Kind ein. Ich bin also in dem Glauben aufgewachsen, ihre leibliche Tochter zu sein."
Catalina de Sanctis Ovando gehört zu den schätzungsweise 500 Kindern, die während der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 in Foltergefängnissen zur Welt kamen. Die Eltern dieser Kinder waren junge Gewerkschafter, Studenten, Aktivisten aus der teils radikalen linken Bewegung. Die Militärjunta unter Diktator Jorge Videla brandmarkte sie als "Subversive". Bezwingen wollte man sie, indem man sie verschleppte und folterte. Und auch, indem man ihre im Gefängnis geborenen Babys an regimetreue Familien weitergab. Catalina de Sanctis Ovando lebte fast 30 Jahre lang unter dem Namen María Hidalgo Garzón. Sie wuchs auf im Viertel Belgrano: Dort leben die Wohlhabenden von Buenos Aires, in modernen Hochhäusern mit verspiegelten Eingängen und diskreten Pförtnern. Catalina schildert die verwinkelte Wohnung ihrer Kindheit als bedrückende Welt. Von klein auf habe sie das Gefühl gehabt, ihren vermeintlichen Eltern nichts recht machen zu können. Je älter sie wurde, desto häufiger gab es Streit, auch über politische Ansichten. Über all dem schwebte das dumpfe Empfinden, sie stecke in einem falschen Leben.

Der Geschichte aus dem Weg gegangen

"Ungefähr im Jahr 1997 sah ich einen Aufruf der Großmütter im Fernsehen. Da fragte ich meine Ziehmutter... nein, eigentlich fragte ich nicht, ich sagte zu ihr: ´Ich bin die Tochter von Verschwundenen, stimmt's?` Sie hat es sofort zugegeben, behauptete aber, ich sei ein Waisenkind – dass meine Eltern in einem Gefecht ums Leben gekommen seien. Und falls ich etwas unternehmen würde, um meine wahre Identität herauszufinden, würden sie und mein Ziehvater ins Gefängnis kommen."


Inzwischen erzählt Catalina mit fester Stimme von ihrer Vergangenheit und blickt dabei aufmerksam ins Publikum. Doch viele Jahre lang ist sie ihrer Geschichte aus dem Weg gegangen. Nur ihrem Freund und heutigen Ehemann Rodrigo vertraute sie anfangs an, dass sie die Tochter von Verschwundenen ist. Und Rodrigo begann, bohrende Fragen zu stellen – nicht an Catalina, sondern vor allem an ihren Ziehvater, den ehemaligen Militäroffizier Carlos Hidalgo.
Catalina de Sanctis Ovando
Catalina de Sanctis Ovando bei einem öffentlichen Auftritt mit den Großmüttern. © Deutschlandradio Kultur / Foto: Regina Mennig und Jenny Hellmann
"Von der Internetseite der Großmütter de Plaza de Mayo hatte ich Fotos von sechs oder sieben Paaren ausgedruckt, die um den Zeitpunkt von Catalinas Geburt verschwunden waren. Ich konfrontierte ihn damit und fragte, ob er jemanden erkenne. Automatisch zeigte er auf ein Bild und sagte, das sei ihre Mutter, sie sei im Folterlager ´Campo de Mayo` gefangen gewesen. Ich fragte ihn, was mit ihr passiert sei. Er antwortete, er habe zwei Tage, nachdem er Catalina aus der Entbindungsstation im Gefangenenlager abgeholt hatte, dort angerufen und gefragt, ob sie ´das Paket weggeflogen hätten`. Ich fragte, ob damit die Todesflüge gemeint seien – und er nickte."

30.000 Menschen verschwanden

30.000 Menschen sind seit der argentinischen Militärdiktatur verschwunden - laut Gerichtsaussage eines hochrangigen Militärs sind über 4000 von ihnen auf den berüchtigten Todesflügen umgekommen. Die Militärs spritzten ihnen Betäubungs-mittel, luden sie in Flugzeuge und warfen sie über dem Río de la Plata ab, dem Fluss zwischen Argentinien und Uruguay. In beiden Ländern verbreiteten die ans Ufer gespülten Leichen Angst und Schrecken unter der Bevölkerung – so funktionierte der Terror des Militärregimes. Schon unmittelbar nach dem Ende der Diktatur 1983 begann eine Kommission unter dem demokratisch gewählten Präsidenten Raúl Alfonsin, die Gräueltaten während des so genannten "Schmutzigen Krieges" zu dokumentieren. Aber was folgte, waren Jahrzehnte der Amnestie für die meisten Täter und Ohnmacht der Opfer. Erst unter der Regierung von Néstor Kirchner ab 2003 bekam die Menschenrechtsbewegung politisches Gehör. Rosa Roisinblit, die Vizepräsidentin der Großmutter der Plaza de Mayo, ist zufrieden mit den Errungenschaften der jüngeren Zeit:
Rosa Roisinblit: "In allen großen Städten des Landes gibt es jetzt Gerichtsprozesse, in denen all diese Terroristen der Militärdiktatur verurteilt werden. Für uns ist es eine Genugtuung, dass sie hohe Haftstrafen verbüßen müssen, und zwar in staatlichen Gefängnissen."
Rosa Roisinblit ist weit über 90, und immer noch kommt sie fast täglich ins Büro der Großmütter-Organisation, in einem schmucken Altbau unweit der Plaza de Mayo. Ihre dünnen, rot lackierten Finger klammern sich an einen Gehstock, aber ihre Augen blitzen, wenn sie erzählt. Wer sie trifft, der ahnt, warum die Großmütter der Plaza de Mayo das Militärregime überlebten und im Jahr 2012 erreichten, dass Ex-Diktator Jorge Videla wegen systematischen Kindesraubs zu 50 Jahren Gefängnis verurteilt wurde.
Nicht nur den obersten Verantwortlichen des Militärs wird der Prozess gemacht, sondern auch den Paaren, die die Kinder aus den Foltergefängnissen an sich nahmen. Deshalb werden auch Catalinas Zieheltern schließlich angeklagt. Über zwei Jahre zieht sich der Prozess. Catalina hat den Kontakt zu ihren Zieheltern längst abgebrochen. Dass sie vor Gericht immer wieder mit ihnen konfrontiert wird, zermürbt sie. Kurz vor dem letzten Verhandlungstag macht Catalina ein paar Tage Urlaub, sie fährt mit ihrem Mann Rodrigo an den Fluss Paraná südlich von Buenos Aires, auf einen im Wald verborgenen Campingplatz. Doch auch an diesem Rückzugsort kann sie den Gedanken nicht entfliehen, die in diesen aufwühlenden Tagen immer wieder in ihr hochkommen:
"Wenn ich Bilder aus meiner Kindheit anschaue, sehe ich ein fröhliches kleines Mädchen. Ich habe immer gelacht, gesungen, getanzt. Ich war sehr aufgeschlossen. Ich erinnere mich, wie ich stundenlang vor dem Spiegel getanzt habe. Aber all die Dinge, die ich gern tat, die aus mir selbst heraus kamen, gingen mit der Zeit verloren. Und zu diesem Kern meines Wesens möchte ich jetzt zurückfinden. Ich möchte nichts zurückbehalten, was mir meine Zieheltern mitgegeben haben. Ich möchte mich nicht damit identifizieren."
Catalina tritt im Gerichtsprozess gegen ihre Zieheltern als Klägerin auf. Der Ent-schluss reifte mit den vielen Details, die ihr im Laufe der Jahre bewusst geworden sind. Da ist ihre Ziehmutter, die ihr immer wieder sagt, wie sehr sie ihr ähnlich sehe - auch als Catalina längst weiß, dass sie nicht ihre leibliche Tochter ist. Da ist ihr Zieh-vater, der als hochrangiger Militär vermutlich in den Mord an ihrer leiblichen Mutter verstrickt war. Da ist ein Brief der Ziehmutter an den Ziehvater kurz vor Catalinas Geburt, der deutlich macht: Die beiden wussten, dass ein Baby unterwegs war, und dass sie dieses Baby an sich nehmen würden.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Der Tag der Urteilsverkündung im Prozess gegen Catalinas Zieheltern, an einem sonnigen Tag im März 2013. Dutzende Menschenrechtsaktivisten drängen sich auf der schmalen Straße vor dem Bundesgericht San Martín, in einem Außenbezirk von Buenos Aires. Auch drinnen, im kahlen Verhandlungssaal, herrscht dichtes Gedränge. In der Menschenmenge sitzt Catalina, umgeben von Rodrigo und Freunden aus dem Kreis der Großmütter der Plaza de Mayo. Im Licht der Neonlampen wirkt sie bleich, sie kämpft mit den Tränen und schließt die Augen, als der Richter das Urteil verliest.
"María Francisca Morillo wird als Mittäterin der folgenden Straftaten schuldig gesprochen: der unrechtmäßigen Aneignung eines Kindes unter zehn Jahren und der Verschleierung seiner Identität sowie der Fälschung der Geburtsurkunde von Laura Catalina de Sanctis Ovando."
Die Menge im Saal, auch Catalina, bejubelt die Gefängnisstrafen für die Zieheltern – zwölf Jahre für die Ziehmutter, 15 Jahre für den Ziehvater. Es sind mit die höchsten Haftstrafen, die in den aufgedeckten Fällen von Kindesraub in Argentinien bisher verhängt worden sind. Es sind Haftstrafen, die aus Sicht von Hilario Bacca der Horror wären. Auch Hilario ist als Kind von Verschwundenen identifiziert worden, mit Anfang 30. Zur selben Zeit wie Catalina durchlebt er den Gerichtsprozess gegen die Zieheltern. Im Februar 2013, kurz vor der letzten Anhörung, sitzt er in seinem Wohnzimmer, raucht unablässig Zigaretten und nimmt zwischendurch einen Zug von seinem Asthma-Spray. Die tiefen Ringe unter seinen dunklen Augen verraten, dass ihn Sorge und Angst umtreiben.
"Wenn dieser Fall vom Gericht wirklich nach rechtlichen Prinzipien bewertet würde, wäre ich viel ruhiger. Natürlich würden meine Eltern eine Strafe bekommen, weil sie die Geburtsurkunde gefälscht haben. Aber der Fall wäre nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft. Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben andere begangen. Nicht meine Eltern."
Kindesraub gilt in Argentinien als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das ist ein Verdienst der Großmütter der Plaza de Mayo. Jenseits der juristischen Ebene haben die alten Damen vor allem erreicht, dass das Thema der geraubten Kinder in der argentinischen Gesellschaft überaus präsent ist. Deshalb gibt es immer wieder anonyme Anzeigen gegen Paare, bei denen zur Zeit der Militärdiktatur plötzlich ein Baby auftauchte.

Auch Hilarios Fall kam so ans Licht. Als sich der Verdacht gegen seine Zieheltern erhärtete, schickte die Staatsanwaltschaft die Polizei vorbei. Um fünf Uhr morgens hämmerten die Beamten an Hilarios Wohnungstür in Buenos Aires und verlangten eine DNA-Probe von ihm. Sie wurde in der nationalen Gen-Datenbank mit dem Gen-Material der Diktatur-Opfer abgeglichen. Für Hilario ein traumatisches Erlebnis. Er suchte danach Ruhe und Abstand und zog nach Mar de Cobo, ein ver-schlafenes Dorf am argentinischen Atlantik. Aus der Ferne ist das Rauschen des Me-eres zu hören, während Hilario von seiner Kindheit erzählt.
Hilario Bacca 
Hilario Bacca in seinem Garten in Mar de Cobo© Deutschlandradio / Foto: Regina Mennig und Jenny Hellmann

"Wir hatten eine extrem liebevolle und innige Verbindung"

"Jeden Abend, wenn ich schlafen ging, kam meine Mutter an mein Bett und fragte mich, ob ich glücklich sei. Und wenn ich nein sagte, dann sagte sie mir, ich solle mich ausweinen – denn die schlechten Dinge müsse man hinauslassen. Wir hatten eine extrem liebevolle und innige Verbindung, in allem. Und das ist bis heute so."
Hilarios Zieheltern, ein Architekt und eine Frauenärztin, erzählten ihm als Kind, dass er adoptiert sei. Mehr erfuhr Hilario nicht, er wollte es auch nie. Der Gedanke, eine "andere" Familie zu suchen, machte ihm Angst. Als er 30 Jahre alt war, trat seine leibliche Familie dann doch in sein Leben. Das Ergebnis des juristisch angeordneten DNA-Tests bewies: Hilario ist das Kind eines während der Diktatur verschleppten und getöteten Paares. Hilario willigte ein, seine leibliche Großmutter Jorgelina Azzarri kennen zu lernen, bekannt unter dem Spitznamen "Coqui" von den Großmüttern der Plaza de Mayo. Coqui und Hilario, die sich unverkennbar ähnlich sehen, verstanden sich anfangs gut. Aber schon bald gab es harte Diskussionen.
"Ich wünschte, meine Oma könnte einsehen, dass man die 31 Jahre, die sie mich nicht hatte, nicht zurückholen kann. Und letztlich finde ich – auch wenn meine Oma das sehr verletzt –, dass meine leiblichen Eltern ein stückweit verantwortungslos waren. Weil sie mich nicht geschützt haben im Bauch meiner Mutter. Sie haben für politische Ideale ihr Leben aufs Spiel gesetzt, ohne an ihr ungeborenes Kind zu denken."
Für Hilarios Großmutter Coqui sind solche Worte schier unerträglich. Beim Gedanken an ihre Tochter Liliana füllen sich ihre Augen mit Tränen, und ihre vielen Falten im Gesicht wirken wie Furchen der Trauer. Am 5. Oktober 1977 nahmen die Militärs die 21-jährige Liliana mit, im Februar 1978 brachte sie ihr Kind zur Welt – mit verbundenen Augen und festgeketteten Beinen, im Foltergefängnis ESMA mitten in Buenos Aires. Augenzeugen berichteten später, Liliana habe das Baby "Federico" nennen wollen. Im Februar 2013, im Gerichtsprozess gegen Hilarios Zieheltern, bringt Coqui das alles noch einmal zur Sprache. Aufrecht, mit sorgsam frisierten grauen Locken und geschminkten Lippen sitzt sie da und blickt abwechselnd zum Richter und zu Hilarios Zieheltern auf der Anklagebank.
"Keiner konnte verheimlichen und leugnen, was damals passierte: Die Mütter wurden getötet und ihre Babys verschenkt. Es ist eine kultivierte Familie. Deswegen können sie nicht behaupten, sie hätten nicht gewusst, woher mein Enkel kam."

Gerüchte über die Verschwundenen

Hinter vorgehaltener Hand kursierten in Argentinien schon während der Militärdiktatur Gerüchte über den Verbleib der vielen Verschwundenen, über die geheimen Folterlager. Es sickerte auch durch, dass die Babys aus diesen Lagern weitergereicht wurden. Hilarios Ziehmutter Cristina Mariñelarena beteuert vor Gericht, sie und ihr Mann José hätten von alldem nichts gewusst. Leicht gebückt sitzt sie im Saal, ihr schulterlanges blondiertes Haar fällt auf die schneeweiße Bluse. Sie erzählt von ihrem tiefen Wunsch, ein Kind zu bekommen – und von ihrer Freundin Inés Lugones, die ihr schließlich ein Baby überreichte.
Cristina Mariñelarena: "Am 27. Februar 1978 rief mich Inés bei der Arbeit in der Klinik an, um 07:05 Uhr. Das haben wir später als Hilarios Geburtszeit eingetragen. Denn das ist der Moment, in dem er in mein Leben kam. Ich sagte meinem Mann Bescheid, und wir fuhren nach Buenos Aires. Dort lebte Inés damals. Es war einer der bewegendsten Momente meines Lebens. Inés öffnete uns die Haustür, und führte uns ins Schlafzimmer. Und da war er... mein Sohn. Er lag auf dem Bett, in einem Babykörbchen."
Inés Lugones war nicht nur Hilarios Übermittlerin und eine langjährige Freundin sei-ner Zieheltern – sie war auch die Ehefrau von Guillermo Minicucci. Der wiederum war Befehlshaber im berüchtigten "Olimpo", einem Folterlager der Militärdiktatur im Großraum Buenos Aires. Minicucci wurde der Taufpate des kleinen Hilario. Was Hilarios Zieheltern über die Herkunft des Babys tatsächlich wussten oder was sie bewusst ignorierten, kann im Gerichtsprozess 2013 nicht eindeutig geklärt werden. Die Richter verurteilen Hilarios Zieheltern zu jeweils sechs Jahren Haft – allerdings muss die Strafe nicht angetreten werden, so lange kein abschließendes Urteil gesprochen ist. Hilarios Ziehfamilie geht in Berufung, bis heute ist das Verfahren in der Schwebe. Der Gerichtsprozess habe seine Familie noch enger zusammenrücken lassen, sagt Hilario ein Jahr nach dem Urteil gegen seine Zieheltern. Von seiner leiblichen Familie hat er sich dagegen entfernt:
"In der ganzen Zeit, die ich mit meiner Oma verbracht habe, habe ich immer klargestellt, was meine Eltern mir bedeuten. Also wusste sie: Wenn sie meine Eltern direkt angreift, dann wird das Konsequenzen haben. Es ist nicht so, dass meine Oma und ich gar nicht mehr miteinander können. Aber für mich ist da etwas kaputt gegangen. Eine Verbindung, von der ich dachte, sie wäre stärker und echter. Im Moment weiß ich nicht, wie man das zurückholen sollte."
Hilarios Großmutter Coqui stirbt im Oktober 2015 – die Beziehung zu ihrem Enkel, nach der sie sich so lange gesehnt hatte, bestand zuletzt kaum noch. 119 der rund 500 geraubten Kinder haben die Großmütter der Plaza de Mayo bis heute wiedergefunden. Der jahrzehntelange Kampf der Frauen zeigt, wie stark der Wunsch nach Wiedergutmachtung der Diktaturverbrechen ist. Die Errungenschaften der Großmütter zeigen aber auch, wie schwierig es ist, über 30 Jahre nach der Diktatur Gerechtigkeit herzustellen.

Dieser Beitrag basiert auf Drehmaterial des Dokumentarfilms "Algo mío - Argentiniens geraubte Kinder" von Regina Mennig und Jenny Hellmann, der voraussichtlich im Herbst in die deutschen Kinos in Deutschland kommen wird.


Hier finden Sie den Trailer zum Film.

Der Link zur Facebook-Seite zum Filmprojekt.
Das Blog zum Filmprojekt finden Sie hier.
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