30 Jahre Wiedervereinigung

Die ostdeutsche Realität ist vielfältig

13:50 Minuten
Die Autorin und freie Journalistin Valerie Schönian steht in Berlin an einer Straße.
Die Journalistin Valerie Schönian hat die DDR nicht mehr miterlebt. Sie ist ein Nachwendekind – und hat doch ein ausgeprägtes Ostbewusstsein, wie sie sagt. © Paul Zinken/dpa-Zentralbild/dpa
Valerie Schönian im Gespräch mit Vladimir Balzer · 03.10.2020
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Was zeichnet ein "Ostbewusstsein" aus? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Journalistin Valerie Schönian. Dabei geht es auch um Machtverhältnisse und Klischees, die die Berichterstattung über den Osten noch 30 Jahre nach der Wende prägen.
"Ich werde ganz oft gefragt: 'Was hast du noch mit dem Osten zu tun?' Sogar meine Eltern haben mich das gefragt", erzählt die Journalistin Valerie Schönian. "Da sage ich dann immer: Na ja, der Osten hat nicht aufgehört zu existieren mit der DDR. Also nur weil es plötzlich diesen Einigungsvertrag gab, heißt das nicht, dass plötzlich dieses Land und diese Menschen andere wurden."
In ihrem aktuellen Buch beschäftigt sich die Journalistin mit dem "Ostbewusstsein", also der Frage, "warum Nachwendekinder für den Osten streiten und was das für die Deutsche Einheit bedeutet", wie es im Untertitel heißt.
Die Autorin Valerie Schönian zeigt ihr neues Buch "Ostbewusstsein".
Valerie Schönian wünscht sich einen inklusiveren Blick auf die Ostdeutschen.© Paul Zinken/dpa-Zentralbild/dpa
Nur wenige Tage vor der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 wurde Schönian in ein Land geboren, das anschließend aufhören sollte zu existieren. Das war vor 30 Jahren, dennoch sei der Osten ein anderer Sozialisations- und Erfahrungsraum geblieben, meint sie. Außerdem bleibe sie immer die Tochter ihrer Eltern. Diese hätten nun mal in zwei Systemen, inklusive einer Diktatur, gelebt, erklärt Schönian.
Die Berichterstattung über den Osten sei klischeebeladen und einseitig, findet sie. Dabei sei die ostdeutsche Realität von Vielfalt geprägt. Doch diese werde kaum abgebildet. Das liege auch daran, dass die überregionalen Medien von westdeutschen Chefredakteuren geleitet würden. Diese einseitigen Berichte machten aber wütend und lösten "eine Art kollektiven Prozess ostdeutscher Identitätsfindung" aus, so Schönians These.

Es geht um Macht und Sichtbarkeit

"Aber es ist nicht nur eine Gefühlssache. Es geht da um Machtfragen, um Repräsentationsfragen, um Verteilungsfragen", sagt sie. Das Fehlen der ostdeutschen Erzählung löse deswegen ein Gefühl aus, weil die politische, wirtschaftliche und die Diskursmacht westdeutsch geprägt sei. Von daher gehe es beim Ostbewusstsein darum, "Macht umzuverteilen und alle Perspektiven und Erzählungen sichtbar zu machen, die zu diesem Land gehören".
Schönian erzählt von ihrer ersten Lesung in Westdeutschland: Nach einem eineinhalbstündigen Vortrag über Ostbewusstsein und ostdeutsche Vielfalt habe die erste Frage aus dem Publikum gelautet: "Aber wie ist denn jetzt Pegida entstanden?" Auch wenn die Frage berechtigt sei, so sei es doch sehr bezeichnend für das aktuelle Verhältnis zwischen Ost und West, dass ausgerechnet diese Frage als erste gestellt worden sei – nach einem Vortrag über den "anderen Osten", sagt sie.
"Für mich ist es so", sagt Valerie Schönian, "dass es ganz selbstverständlich ist, dass die Einheit vielfältig ist. Und jeder Unterschied, den ich sehe, der bestätigt für mich nur diese Vielfältigkeit."
(ckr)
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