30 Jahre Theatergeschichte in China

Blitzlichter auf die chinesische Gegenwart

Chinesische Schauspieler performen im Drama "To Live", inszeniert vom chinesischen Regisseur Meng Jinghui, auf der Bühne des Deutschen Theaters in Berlin, aufgenommen am 8. Februar 2013
Das Drama "To Live", inszeniert vom chinesischen Regisseur Meng Jinghui, wurde 2013 im Deutschen Theater in Berlin aufgeführt. © imago/Xinhua
Von Michael Laages · 23.01.2016
Auch wenn Ensembles mittlerweile regelmäßig in Europa gastieren: Das Publikum weiß extrem wenig vom Theater in und aus China. Der Verlag "Theater der Zeit" hat nun ein Sonderheft über Theaterarbeit in China und einen Band mit fünf recht neuen Stücken herausgebracht.
Die Hamburger "Lessingtage" des vorigen Jahres zeigten auch Liao Yimeis "Bernstein"-Stück. Die Inszenierung von Liaos Partner und Regisseur Meng Jinghui allerdings markierte (trotz erkennbar großer Mühe mit den Übertiteln!) vor allem die grundsätzliche Fremdheit, die nachhaltig geblieben ist zwischen chinesischen und europäischen Theater-Stilen. Ganz so, als würde umgekehrt Frank Castorfs Arbeit in China als beispielhaft für den Mainstream deutscher Theater-Arbeit präsentiert ... Liao Yimei und Meng Jinghui gelten zwar als immens populär in China, zählen stilistisch allerdings eher zu einer Art Pop-Avantgarde.
Liao Yimeis "Bernstein"-Text ist nun eins der fünf mehr oder minder aktuellen Stücke, die der knapp 300 Seiten starke Sammelband nebeneinander stellt. Die Erinnerung an das Hamburger "Bernstein"-Gastspiel wird dadurch allerdings kaum klarer – schon der stark fragmentierte und sprunghafte Text strahlt "Avantgarde" aus in jeder Szene; die Blitzlichter auf die chinesische Gegenwart der durch und durch weltmarktorientierten Kommerz-Moderne wirken wie Splitter in einem Bild, das sich auch beim Lesen nie wirklich ganz zusammenfügen lässt. Eine Herztransplantation, die den ehedem so braven Geliebten einer Frau zum zynisch-gerissenen Monster von Markt und Macht werden lässt, in einer Welt, die jenseits aller Geistigkeit alter chinesischer Tradition nur noch aus ist auf den letzten Schrei, den schärfsten Kick – so viel immerhin hatte auch das Hamburger Gastspiel vermittelt.
Stücke von großer poetischer Kraft
Im Buch jetzt, umgeben von vier anderen Theatertexten, wird allerdings sehr deutlich, wie weit ab vom Normalen diese "Bernstein"-Bilder auch für chinesische Verhältnisse angesiedelt sind. Von großer poetischer Kraft sind die anderen Stücke geprägt: "Jesus, Konfuzius und John Lennon" von Sha Yexin etwa, der (ähnlich wie Brecht in "Der gute Mensch von Sezuan") Götter herab schickt in die triste Wirklichkeit, besser: göttliche Helfer und Stellvertreter in Gestalt der drei erwähnten Idole. Oder "Der Go-Mensch" und "Die Frösche", beide Stücke von Guo Shixing (der im Sonderheft von "Theater der Zeit" auch im Gespräch zu Wort kommt) – dieser Dramatiker zählt eher zur zivilisations- und fortschrittskritischen Gemeinde, die umfassend vom Verlust chinesischer Tradition im Wirbel des Wandels erzählt, mal realistisch, mal eher abstrakt und absurd. Zuweilen grüßt Beckett ganz von fern. "Auf zum letzten Gefecht" schließlich von Meng Bing weist entfernte Ähnlichkeiten mit der 'Übergangsgesellschaft' von Volker Braun auf – die Klasse alter Funktionäre bereitet sich hier letztlich widerstandslos vor auf das Ende der eigenen Macht.
Aber natürlich gibt's die noch, die Macht. Der General-Manager der Theaterakademie in Shanghai ist immerhin auch Partei-Sekretär, er vertritt also die alte Nomenklatur - mit ihm spricht im Sonderheft Hans-Georg Knopp, einst Chef am "Haus der Kulturen der Welt" in Berlin und Generalsekretär des Goethe-Instituts, jetzt Berater der Akademie in Shanghai und wohl der wichtigste Ermöglicher für die aktuellen Publikationen. Knopps kurzer Abriss chinesischer Theater-Geschichte zeigt aber auch, wie unendlich viel wir noch zu lernen haben über den Fernen Osten – etwa, dass es "Sprechtheater" unserer Art in China erst seit Beginn des vorigen Jahrhunderts gibt und dass dessen Stile stark geprägt sind von den parallelen Tendenzen in Europa. Erst im Widerstand gegen diese Form der Fremdbestimmung wird verständlich, warum sich Chinas Theatermacher in der Mehrzahl so stark konzentrieren auf die Zeitgenossenschaft im eigenen Land.
"Freie" Szene sehr überschaubar
Das "Grass Stage"-Theater, Teil der noch sehr überschaubaren "freien" Szene, entwirft die Stücke sogar gemeinsam mit dem Publikum, und "Penghao", das erste Privattheater im Land, verdankt sich dem vorurteilslosen Theater-Wahnsinn eines umtriebigen Zahnarztes. Schlaglichter wie diese machen den Reiz der aktuellen Beschäftigung mit dem trotz aller Zensur staatlich anerkannten Theater in China aus – während die westliche Fokussierung auf dissidentisches Theater den Blick bislang immer eher beschränkt hat.
Stefan Kaegis "Volksrepublik Volkswagen", in Hannover erarbeitet, steht beispielhaft für Kultur-Austausch. Aber der politische Teufel steckt noch immer im Detail – über der Liste mit 101 Theatern in China auf der letzten Doppelseite im Heft etwa prangt eine Landkarte. Und zu den über 30 farbig markierten Provinzen des riesigen Reiches gehören hier auch Taiwan und Tibet. Das wird die Theatermacher von dort nicht freuen - beide wollen bekanntlich nicht mehr Teil von China sein.

Theater der Zeit.spezial: China, 70 Seiten, 8 Euro
Mittendrin / Neue Theaterstücke aus China (in der Reihe "Dialog", 300 Seiten, 22 Euro)

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