30 Jahre nach Mandelas Freilassung

Der Traum hat sich nicht erfüllt

05:50 Minuten
Nelson Mandela und seine Frau Winnie laufen durch eine Menschenmenge und heben ihre Fäuste.
Nach 27 Jahren in Haft wird Nelson Mandela mit seiner Frau Winnie in Johannesburg von begeisterten Anhängern begrüßt. © imago images / epd
Von Leonie March · 10.02.2020
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Am 11. Februar 1990 schritt Nelson Mandela mit erhobener Faust durch das Tor des Victor Verster Gefängnisses bei Kapstadt. Der Tag markiert das Ende der Apartheid in Südafrika - doch viele Hoffnungen wurden seitdem von Korruption zunichte gemacht.
Senzo Majozi war erst fünf Jahre alt, als Nelson Mandela aus dem Gefängnis entlassen wurde. Und doch erinnert er sich, dass seine Eltern damals von einem Sieg über die Ungerechtigkeit, von Freiheit und Wohlstand für alle gesprochen hatten. Viel habe sich seitdem jedoch nicht verändert, meint der Südafrikaner, während er eine staubige Township-Straße entlang geht.
"Bislang besteht die Demokratie für uns nur darin, dass Politiker kurz vor den Wahlen zu uns kommen und alles Mögliche versprechen. Danach verschwinden sie wieder in ihren Villen, die sich keiner von uns leisten kann. Wie viele Versprechen wir schon gehört haben! Aber nur vielleicht zehn Prozent davon sind auch erfüllt worden. Diese Demokratie nutzt nur gewissen Leuten, nicht aber uns allen."
Das Township Mzinyathi, in dem Majozi mit seiner Familie lebt, ist einer der vielen Orte in Südafrika, in denen die Bürger in den letzten Jahrzehnten immer wieder für ihre Grundrechte protestiert haben: für Häuser statt Hütten, für Strom, Wasser und Toiletten.

"Am Ende bekommt immer jemand anderes den Job"

Senzo Majozi deutet im Vorbeigehen auf die Schule, in die seine Kinder gehen: Das Gebäude baufällig, die Klassen überfüllt, wegen Lehrermangels wurden drei Fächer im letzten Jahr gar nicht unterrichtet. Bei der Bildungspolitik habe die Partei Mandelas, der ANC, ebenso versagt wie auf dem Arbeitsmarkt, kritisiert er. Seinen Job als Automechaniker hat er im Herbst verloren.
"Das Problem besteht darin, dass wir zwar die Apartheid-Regierung abgeschafft haben, nicht aber die Grundlagen der Ungleichheit in unserem Land. Wir werden das Gefühl nicht los, dass es uns während der Apartheid sogar besser ging als jetzt in der Demokratie. Damals hatten viel mehr Leute Arbeit. Ich habe mich schon so oft beworben, aber am Ende bekommt immer jemand anderes den Job, selbst wenn er schlechter qualifiziert ist."
Was zähle, seien Schmiergelder und gute Verbindungen zur Regierungspartei ANC, bemängelt Majozi. Vor allem wenn es um Stellen im öffentlichen Dienst geht. Er ist nicht allein mit dieser Kritik: Korruption und Vetternwirtschaft sind spätestens unter Ex-Präsident Jacob Zuma ausgeufert.

Hat Mandela zu viele Kompromisse gemacht?

Die ohnehin riesige Kluft zwischen Arm und Reich ist gewachsen, statt zu schrumpfen. Die Zeit sei reif für Teil zwei des Freiheitskampfes – für eine wirtschaftliche Befreiung, fordern vor allem junge Südafrikaner. Und das zu Recht, meint Politikwissenschaftlerin Lubna Nadvi:
"In den 80er und 90er Jahren ging es darum, Strukturen wie die gesetzlichen Grundlagen der Apartheid abzuschaffen. Seit der Jahrtausendwende wächst das Bewusstsein dafür, dass wir andere Kämpfe wieder aufnehmen müssen, weil wir die große Ungleichheit in unserem Land noch immer nicht besiegt haben. Den Kindern der ursprünglichen Freiheitskämpfer geht es im Kern um ein besseres Leben für alle. Ein Ziel, das wir damals nicht erreicht haben."
Das sei auch Mandela anzukreiden, heißt es immer wieder. Er habe auf seinem Versöhnungskurs zu viele Kompromisse gemacht. In der Wirtschaftspolitik ebenso wie bei der konfliktträchtigen Landfrage. Politikwissenschaftlerin Nadvi weist diese Kritik am Vater der Nation jedoch als geschichtsvergessen zurück.
"Auf dem afrikanischen Kontinent gibt es etliche Beispiele für langjährige Bürgerkriege. Das war damals auch hier eine reale Gefahr, die Mandela verhindert hat. Das darf man nicht vergessen. Sein vorrangiges Ziel war es, hier trotz der gewaltsamen Vergangenheit und des während der Apartheid geschürten Hasses eine Grundlage für ein friedliches Zusammenleben zu schaffen. Aber das geht nicht über Nacht. Der Traum, dass wir die Regenbogennation sind, die alle Probleme in kurzer Zeit lösen kann, hat sich nicht erfüllt."

Südafrikas Demokratie ist wehrhaft

Sicherlich waren einige der damals überbordenden Erwartungen unrealistisch. Andere Ziele hätte die ANC-Regierung durchaus umsetzen können, wenn sie nicht im Korruptionssumpf versunken wäre. Ihn trockenzulegen, hat sich der amtierende Präsident Cyril Ramaphosa vorgenommen.
Ungeduldig wartet Südafrika nun auf erste Anklagen und zügige Verurteilungen. Die Stimmung im Land ist angespannt: Kriminalität und Proteste nehmen zu, das Vertrauen in die Regierung ab. Andererseits erweist sich die südafrikanische Demokratie als wehrhaft – mit ihrer weitgehend unabhängigen Justiz, freien Medien und einer wachsamen Zivilgesellschaft. Die Bilanz ist 30 Jahre nach Mandelas Freilassung also durchwachsen.
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