30 Jahre Mauerfall

Wie ein DDR-Forscher in der Antarktis die Wende erlebte

07:54 Minuten
Alte Schwarzweiß-Aufnahme aus den 80er-Jahren, die zeigt, wie die Expeditionsteilnehmer in der Antarktis im Freien um eine als Tisch dienende Holzkiste herumsitzen. Darauf Flaschen und ein karger Weihnachtsbaum mit ein paar Christbaumkugeln.
Zwei Weihnachtsfeste verbrachte der Potsdamer Meteorologe Norbert Flaake in der Antarktis. © privat
Von Annika Jensen · 18.12.2019
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1988 geht Norbert Flaake mit einem DDR-Forscherteam für zwei Jahre in die Antarktis. Im Herbst 1989 kommen plötzlich seltsame Nachrichten aus der Heimat. 1990 kehrt er zurück - in ein Land, das ihm fremd geworden ist.
Als Nobert Flaake als Meteorologe für die DDR in der Antarktis forscht, verpasst er Ende der 1980er-Jahre nicht nur zwei Weihnachtsfeste mit seiner Familie und die Einschulung seine Tochter. In den 561 Tagen, die er am Südpol lebt, bricht auch das politische System der DDR zusammen. Er reiste im Oktober 1988 ab und kehrte im Juli 1990 in ein Land zurück, das er nicht mehr wiedererkannte. Die Mauer war gefallen und die Währungsunion brachte die D-Mark in die DDR. Von den Unruhen in der Bevölkerung ab Sommer 1989 bekamen er und seine Kollegen, wie der Funker und DDR-Stationsleiter Gerald Taraschewski, so gut wie nichts mit. Noch zum DDR-Nationalfeiertag gab Taraschewski dem Rundfunk der DDR ein ganz normales Interview.

Taraschewski: "Ja, einen schönen guten Abend, hier ist die Antarktis-Forschungsstation Georg Forster aus der Antarktis. Ja schönen guten Abend in die Heimat."
Moderator: "Einen herzlichen Gruß von hier. Und ich muss Sie natürlich das fragen, was die Hörer vielleicht am meisten interessiert: Wie ist denn bei Ihnen das Wetter?"
Taraschewski: "Ja, das Wetter bei uns heute: Herrlicher Sonnenschein, herrlicher Sonnenschein in der Antarktis, minus zehn Grad und Windstille."

Es ist der 6. Oktober 1989, ein Tag vor dem Nationalfeiertag der DDR, als Gerald Taraschewski, Funker und Teil der zweiten DDR-Antarktis-Expedition, über eine Telefonleitung mit einem Moderator des Rundfunks der DDR spricht.

Moderator: "Wir lange sind Sie eigentlich schon mit Ihren Kollegen dort unten in der Antarktis?"
Taraschewski: "Wir sind eigentlich eine zweigeteilte Gruppe. Drei Kollegen, zu denen ich auch gehöre, sind jetzt ein Jahr in der Antarktis und die restlichen sechs Kollegen sind acht Monate in der Antarktis."

Alte Schwarzweiß-Aufnahme der Georg-Forster-Station der DDR in der Antarkis: ein Ensemble aus Baracken, einem Turm und Strommasten.
Die Georg-Forster-Station in einer Polarnacht.© privat
Unter den Expeditionsteilnehmern, die zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem Jahr in der Antarktis leben, ist auch Norbert Flaake. Der Potsdamer war im Oktober 1988 als Teil der zweiten DDR-Expedition am Südpol gelandet. Er blieb 561 Tage, so lange wie kein anderer DDR-Bürger. Mehr als eineinhalb Jahre. Heute lebt er in der kleinen Gemeinde Michendorf bei Potsdam. Flaake führt seine alte Polarkleidung vor:
"Da kriegen Sie mal ein Gefühl, wie schwer sowas ist. Das ist die Polarjacke. Passt übrigens noch, ist nicht zu klein. Erstmal aufkriegen, hier, ach Gott. Wollen Sie mal anziehen? Also noch, Antarktis-Patina. Hier ist die Hose, die passende. Kriegen Sie mal ein Gefühl dafür, wie schwer die Sachen sind, können Sie ja mal anheben. Joa, und so weiter. Hier ist mein alter Seesack. Und dann hier die. Ich ziehe die Jacke mal wieder aus, wird nämlich langsam warm."

Zwei Geburtstage feierte er in der Antarktis

1976 eröffnete die DDR eine Forschungsstation in der Schirmacher-Oase, ein schnee- und eisfreies Hügelplateau an der Küste in der Ostantarktis. 1987 bekam die Station den Namen Georg Forster, und es landete das erste offizielle DDR-Expeditionsteam. Zuvor waren die DDR-Wissenschaftler Teil des sowjetischen Forscherteams. Der Meteorologe Norbert Flaake war 32 Jahre alt, als er in die Antarktis reiste. Er untersuchte dort mit Wetterballons die Entwicklung des Ozonlochs über dem Südpol. Flaake erlebte in der Antarktis zwei Geburtstage und zwei Weihnachtsfeste.
"Auf engem Raum mit bis dahin nicht bekannten Personen klarzukommen, war schon eine Herausforderung", erinnert er sich. "Man kannte sich nicht. Also, wir waren bunt zusammengewürfelt. Man musste sich erst mal aufeinander einstellen. Es waren alle Charaktere vorhanden."
Alte Schwarzweiß-Aufnahme der bärtigen Norbert Flaake, wie er in der Station vor Geräten seine Messergebnisse auswertet.
Norbert Flaake wertet in der Forschungsstation seine Messergebnisse aus.© privat
Mit der Reise als Wissenschaftler in die Antarktis hatte sich Flaake einen Kindheitstraum erfüllt. Von dem Berg "Nunatak 1272" aus habe er einen überwältigenden Blick gehabt, erzählt er.
"Man konnte da 200 bis 300 Kilometer weit schauen. Das ist auch nicht mit europäischen Verhältnissen zu vergleichen. Das ist einfach nur traumhaft. Und man erlebt dort Stille. Also, nur leichtes Säuseln des Windes und sonst absolute Stille."
Und Polarlichter:
"Es war überwältigend. Hunderte von Kilometern riesige Blitze am Himmel. Das ist unbeschreiblich schön. Da ist ein Feuerwerk am Himmel. Das muss man gesehen haben. Zumal die Atmosphäre da sehr klar und rein ist."

Ein DDR-Fischerboot bringt Nachrichten aus der Heimat

Norbert Flaake erledigt seine wissenschaftlichen Arbeiten, genießt die Landschaft, die Tierwelt, die Polarlichter am Südpol – ein einzigartiges Privileg für einen DDR-Meteorologen. Und dann erhält seine Crew eigenartige Nachrichten aus der Heimat: Per Telex haben sie von einem DDR-Fischerboot, das vor Mosambik liegt, Schiffspresse bekommen.
"Da hat man so ein bisschen was mitbekommen, was hier in der Heimat läuft", sagt Flaake, "Wobei, die war systemgefärbt, keine freie Presse in dem Sinne, man musste sich da viel reindenken."
Das Interview mit Gerald Taraschewski am Vorabend des 40. Jahrestages der Republik vermittelt noch eine heile DDR-Welt:

Moderator: "Gerald Taraschewski, wie werden Sie, Ihre Kollegen, unsere Kollegen aus der DDR denn diesen Feiertag verbringen?"
Taraschewski: "Ja, wie werden wir den verbringen? Wir werden ganz normal morgens aufstehen. Die Station ist geputzt und gesäubert. Wir haben unsere Flaggen gehisst. Das heißt, unsere Nationalflagge, die Flagge der Sowjetunion und die indische Nationflagge. Wir erwarten zu einem kleinen Meeting morgens um zehn den Leiter der indischen Station und den Leiter der sowjetischen Station. Und um 12 Uhr Ortszeit werden wir ein kleines kaltes Buffet eröffnen."

Manchmal aber können sie die Deutsche Welle hören oder mit den Familien telefonieren.
"Über gewisse Sachen hat man nicht geredet. Aber man hat sich schon rege ausgetauscht". sagt Flaake. "Ich habe dann schon zwischen den Zeilen verstanden. Vor allem konnten unsere Frauen uns ja auch nichts erzählen. Die wollten uns ja auch nicht beunruhigen. Das war dann so vorgefiltert. Ich konnte ja nicht mal schnell 14.000 Kilometer nach Hause kommen und helfen. Unsere Damen haben die Infos für uns schon gefiltert."
Verlässlicher sind die Informationen der Deutschen Welle. Die Wissenschaftler beginnen zu ahnen: Die DDR, aus der sie aufgebrochen waren, verändert sich dramatisch.
"Als ich irgendwann mal mit meiner Frau telefoniert habe und sie sagte, sie war gerade auf dem Kudamm, da war ich sehr irritiert und dachte, sie will mich jetzt veralbern", erinnert sich Flaake.
Der eheamlige Antarktisforscher Norbert Flaake, fotografiert am 15.12.2019 in Wilhelmshorst (Brandenburg). Foto: Friedrich Bungert
Der Meteorologe Norbert Flaake war 32 Jahre alt, als er mit der zweiten DDR-Antarktisexpedition zur Georg-Forster-Station reiste. © Friedrich Bungert
In der Antarktis erledigen die Forscher weiter ihre wissenschaftliche Arbeit.
Im Mai 1990 macht sich mit den Kollegen der zweiten DDR-Antarktis-Expedition per Schiff auf den Weg in die Heimat. Am 9. Juli 1990 legen sie in Rostock-Warnemünde an, wo ihn seine Frau und seine inzwischen achtjährige Tochter sehnsüchtig erwarten. Das Mädchen ist größer geworden, und der Staat, aus dem er 1989 aufgebrochen ist, befindet sich in Auflösung. Die Währung ist schon abgeschafft.

Plötzlich konnte er einfach so über die Glienicker Brücke

"Man musste sich erst mal an diese neue Situation gewöhnen. Wir sind praktisch im wahrsten Sinne des Wortes ins kalte Wasser gestoßen", so Flaake.
"Man musste erst mal sehen, was hier gerade läuft, wie es läuft. Bin nach Ankunft ganz bewusst über die Glienicker Brücke gelaufen. Es hat ja keinen Menschen mehr interessiert. Da waren keine Grenzkontrollen mehr. Da stand zwar noch so ein Grenzhauptmann, der mich freundlich durchgewunken hat. Das war für alle Normalität. Hatte damals Berliner Straße gewohnt und kannte das Problem mit der Glienicker Brücke. Da gab es ein Grenzgebiet. Da wusste man halt, da ist Niemannsland, das darf man nicht betreten und wurde auch streng bewacht. Und plötzlich da einfach so rüber laufen zu können, das war schon sehr komisch für mich. Das konnte ich nicht so fassen."
Porträtaufnahme Norbert Flaakes heute.
Heute ist Norbert Flaake 63 und Versicherungsmakler.© Friedrich Bungert
Flaake bekommt einen Anruf, ob er noch einmal für ein Jahr in die Antarktis aufbrechen wolle. Noch einmal so lange von seiner Frau und seiner Tochter getrennt sein? Flaake winkt ab. Er gibt seinen Beruf auf und wird selbstständiger Versicherungsmakler.
Heute ist er 63 Jahre alt und hat einen Traum.
"Mich auf alle Fälle noch mal auf den Nunatak 1272 setzen, die Stille genießen und auf das Wohlthat-Massiv schauen. Also da will ich auf alle Fälle noch mal hin und auch in der Oase ganz entspannt spazieren gehen. Das würde mich schon faszinieren."
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