250 Jahre Teilungen Polens

Ein Land als Spielball der Mächtigen

29:53 Minuten
Mai 1791 in Warschau. Zahlreich festlich gekleidete Menschen habe sich vor einer Kirche versammelt.
Unter der Führung des polnischen Königs Stanisław August wurde am 3. Mai 1791 die erste polnische Verfassung in Warschau verabschiedet. Die Freude darüber währte nur kurz. © imago / United Archives International / Jan Alojzy Matejko
Von Martin Sander · 26.10.2022
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Vor 250 Jahren teilten die Großmächte Russland, Preußen und Österreich Polen unter sich auf. Auch Polen selbst hatte seinen Anteil daran. Die Auswirkungen der Teilung sind bis heute spürbar.
„Das ist heute noch ein Trauma. Man sieht es auch an der Art, wie jetzt in dem Jubiläumsjahr erinnert wird an 1772, und das ist auch spürbar in dem, was öffentlich diskutiert wird in Polen über die Bedeutung des Ukrainekriegs“, sagt der Osteuropa-Historiker Michael G. Müller. Er ist Autor eines Standardwerks über die Teilungen Polens.
„Ich spreche gerne von der Kultur der Belagerung. Die auf dem Mythos basiert, Polen sei das größte Opfer Europas und das Gewissen Europas“, ergänzt die Kulturwissenschaftlerin Agnieszka Pufelska. Sie lehrt Geschichte an der Universität Potsdam.
Polen wurde im 18. Jahrhundert drei Mal geteilt. 1772 zum ersten, 1793 zum zweiten und 1795 zum dritten Mal. Mit der dritten Teilung verschwand das Reich Polen-Litauen von der Landkarte, verschlungen von seinen Nachbarn Russland, Preußen und Österreich.
Zuvor war Polen ein europäischer Großstaat gewesen, ein Reich mit vielen Völkern und Religionen, das sich von der Ostsee fast bis zum Schwarzen Meer erstreckte und an das Osmanische Reich grenzte. Seit dem späten 16. Jahrhundert bildete es eine Union mit Litauen. Der König von Polen, zugleich Großfürst von Litauen, wurde von einer gemeinsamen Adelsversammlung gewählt, dem Sejm. Bei gemeinsamen Beschlüssen galt das Veto-Recht.
123 Jahre dauerte es nach der dritten und letzten Teilung, bis 1918 wieder ein eigenständiger polnischer Staat entstand. Der Gründer Józef Piłsudski und seine bewaffneten Legionen hatten maßgeblich dazu beigetragen, und im November 1918 rief Piłsudski in Warschau die Republik aus. Seither ist ein weiteres Jahrhundert vergangen. Die Teilungen haften aber immer noch im kollektiven Gedächtnis der polnischen Gesellschaft. Hier und dort kann man sie auch in der Landschaft betrachten.

Wo einst Russland, Deutschland und Österreich aufeinandertrafen

Einige Kilometer östlich der oberschlesischen Metropole Katowice spannt sich eine rostige Eisenbrücke. Unten fließen die Schwarze und die Weiße Przemsa zusammen. Ein Gedenkstein am Ufer erinnert daran, dass dieser Ort einmal Dreikaisereck hieß.
Hier trafen bis zum Ersten Weltkrieg Russland, Deutschland und Österreich aufeinander. Vor einiger Zeit hat man einen Pavillon für Besucher aufgestellt. In Zukunft soll das Dreikaisereck, wie schon im 19. Jahrhundert, eine Touristenattraktion werden.
An der Fernstraße bei Strzałkowo, 65 Kilometer östlich von Poznań, erinnern wiederum Grenzpfosten mit Infotafeln daran, dass hier einmal Preußen-Deutschland endete und das Russische Reich begann. Wirtschaftliche und soziale Unterschiede zwischen russischem und deutschem Teilungsgebiet sind in dieser Gegend immer noch zu erkennen.
Das sogenannte „Dreikaisereck“ in Polen. Auf einer Wiese steht in Gedenkstein, im Hintergrund ist eine Brücke zu sehen.
Am „Dreikaisereck“ im Südwesten von Polen grenzten einst Russland, Deutschland und Österreich aneinander. © imago / BE&W / imago stock&people
„Auf Luftbildern sieht man die alten Aufteilungen von Grund und Boden, und zwar als Folge der damaligen Landreformen auf russischer und preußischer Seite. Für die Bauern ist das bis heute von Bedeutung. Auf der ehemals preußischen Seite sind die Flurstücke größer, auf der russischen sind sie oft lang, aber sehr schmal“, erklärt der Historiker Jacek Kordel von der Universität Warschau.
Die gewaltsame Auflösung des polnischen Staats im 18. Jahrhundert wirkt bis heute nach. Damals war das polnisch-litauische Reich einer der größten europäischen Staaten, der dann fast sang- und klanglos verschwand. Die Liste der Ursachen dafür ist lang.
Polen sei kein lebensfähiger Staat mehr, seine Existenz bedrohe den Fortschritt Europas: Diese Behauptung kursierte bereits viele Jahre vor 1772 in vielen Ländern Europas. Im Propagandakrieg tat sich der preußische König hervor. Friedrich II. schrieb in seinem sogenannten Politischen Testament:

Polen kann sich kaum zu den Mächten in Europa zählen. (…) Die Wahlen ihrer Könige, gefolgt von Bürgerkriegen, die aufrührerischen Reichstage, von denen keiner überdauert; keinerlei Gesetzgebung, keinerlei Rechtsprechung. Es ist die Herrschaft der Anarchie. Der Adel ist stolz sowie arrogant in seinem Reichtum, feige im Unglück, begierig nach Bestechungsgeldern, ebenso unfähig, eine machtvolle Partei aufzubauen, wie diese zu unterstützen. In einem Wort, nach meiner Meinung ist dies die rückständigste Nation Europas.

Friedrich II.

Von Jugend an hatte der Hohenzollernkönig, ein Emporkömmling unter den Mächtigen Europas, schlechte Meinungen über Polen verbreitet. Nachdem er den Habsburgern in zwei Kriegen Schlesien abgenommen hatte, nannte der König sein Rezept für eine Teilung Polens: Man müsse es verzehren „wie eine Artischocke, Blatt für Blatt“.
„In negativer Weise beeindruckend ist der Hass und die Verachtung Friedrichs II. für Polen, solange dieser Friedrich gelebt hat“, hat der Historiker Michael G. Müller festgestellt. Die Kulturwissenschaftlerin Agnieszka Pufelska meint:
„Man braucht immer ein negatives Gegenbild, um das Selbstbild im besseren Licht darzustellen. Friedrich wollte sein Preußen als Musterland schlechthin präsentieren, auch nach außen, in der Korrespondenz mit den Aufklärern. Deswegen brauchte er ein negatives Beispiel.“
„Friedrich II. war nicht sonderlich antipolnisch. Schaut man auf seine Ansichten über andere Nationen, in seiner politischen Korrespondenz und anderen Texten, dann äußert er sich dort ähnlich negativ über Sachsen, Österreicher, Franzosen, Engländer und andere“, meint Jacek Kordel, Historiker an der Universität Warschau.
Stärker als das Ressentiment habe Friedrich II. nüchternes machtpolitisches Kalkül getrieben.
„Für ihn waren die Selbstbehauptung und das Interesse des preußischen Staats maßgeblich, so wie es bereits sein Vorgänger Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, Mitte des 17. Jahrhunderts formuliert hatte: Man brauchte eine Landverbindung zwischen Brandenburg und seiner Enklave Ostpreußen. Um sie zu erhalten, musste man dafür sorgen, dass Polen schwach blieb. Ein starkes Polen hätte sich die Teile Preußens, die seiner Krone unterstanden, niemals entreißen lassen. Zu Polen gehörten doch bedeutende Städte wie Danzig, Thorn oder Elbing. Das waren Kleinode.“

Die Absichten von Friedrich II.

Nicht nur auf diese Städte hatte es Friedrich II. abgesehen, sondern auf das gesamte zu Polen gehörende Westpreußen, das ostpreußische Ermland sowie auf weitere Gebiete am Unterlauf der Weichsel. Wäre die Landverbindung zwischen Brandenburg und Ostpreußen erst einmal geschaffen, könnte sich Friedrich endlich König von Preußen und nicht mehr nur König in Preußen nennen.
Doch allein konnte der Hohenzollern-König seine Absichten nicht verwirklichen. Daher hielt er nach neuen Verbündeten Ausschau. Die Habsburger zählten zu Friedrichs Feinden, seit er ihnen Schlesien abgenommen hatte. Auch Russland war Kriegsgegner gewesen. Nachdem allerdings die deutsche Prinzessin Sophie von Anhalt-Zerbst 1762 als Katharina II. den russischen Zarenthron bestiegen hatte, ergab sich eine neue Option.
„Was für die preußische Geschichte entscheidend war, sie haben sich Russland angenähert. Friedrich II. war der Erste, der behauptete, die Geschichte Preußens hängt zum wesentlichen Teil von Russland ab, und wir sollen mit Russland immer zusammenarbeiten oder kooperieren“, sagt Agnieszka Pufelska.
Ebenso wie der Voltaire-Verehrer Friedrich präsentierte sich Katharina als Anhängerin eines aufgeklärten Absolutismus. Was die russische Zarin über Polen-Litauen kundtat, stand den abfälligen Äußerungen des Preußenkönigs kaum nach.

Ich wünsche ebenfalls die Beilegung der polnischen Wirren, die jeder Vernunft entbehren. Ich habe es da mit hirnverbrannten Schädeln zu tun, von denen jeder, anstatt zum gemeinsamen Frieden beizutragen, im Gegenteil, diesem Ziel durch seine Launen und seinen Leichtsinn schadet.

Katharina II.

1764 verhalf Katharina II. ihrem Günstling und zeitweiligen Geliebten Stanisław Antoni Poniatowski zur polnischen Königswürde. Polen war zu dieser Zeit noch eine Wahlmonarchie, in der das polnisch-litauische Adelsparlament, der Sejm, den Monarchen per Abstimmung ins Amt brachte. Die mit Preußen verbündete Zarin wusste dieses Verfahren für sich zu nutzen.
Stanisław Antoni Poniatowski gehörte zur Familie des russlandfreundlichen polnischen Clans der Czartoryskis. Im September 1764 setzte er sich mit 5584 Stimmen durch und bestieg daraufhin als Stanisław II. August den polnischen Thron. Ein König von Katharinas Gnaden. Während der Wahl hatten russische Militärs und Privatmilizen in der Nähe der Abgeordneten eine Drohkulisse aufgebaut. Polen war von Kriegen und inneren Wirren geschwächt – und dennoch:
Die russische Kaiserin Katharina die Große. Eine festlich gekleidete älterer Frau mit Krone.
Die russische Kaiserin Katharina II. wusste geschickt die Schwächen Polens für sich zu nutzen. © imago / United Archives International / Dmitry Levitzk
„Das Argument, dass die innere Schwäche Polens die Ursache für die Teilungen war, ist schlicht falsch. Richtig ist, dass die polnische Gesellschaft und die polnische Staatlichkeit seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts in einer Dauerkrise waren. Und richtig ist auch, dass Versuche, moderne staatliche Institutionen zu schaffen, unter anderem ein stehendes Heer von geeigneter Größe, gescheitert sind. Sie sind auch gescheitert aufgrund der massiven Einflussnahme vor allem Russlands, aber auch Preußens“, ist Michael G. Müller überzeugt.
„Russland war die treibende Kraft, weil kein anderer Akteur in der Lage gewesen wäre, eine solche Lösung, eine gemeinsame Annexion auf Kosten Polen-Litauens durchzusetzen.“

Die Intrigen von damals wirken bis heute

Die Kulturwissenschaftlerin Agnieszka Pufelska erkennt in den Intrigen von damals den Beginn einer geopolitischen Konstellation, die bis heute andauert.
„Man muss bedenken, dass die heutigen Ansprüche Russlands auf Weißrussland, auf die Ukraine, dass Russland diese Territorien als eigene Einflusssphäre betrachtet, das geht auf die erste Teilung Polens zurück. Und die erste Teilung Polens hat Russland das Vordringen nach Westen ermöglicht.“
Gegen die zunehmende Abhängigkeit Polens von Russland gründete sich 1768 ein Kampfbund von polnischen Adligen, Geistlichen und Bürgern. Die Konföderation von Bar revoltierte auch gegen den eigenen König Stanisław August und sammelte Truppen in allen Teilen Polen-Litauens.
Die traditionell polenfreundlichen Habsburger unterstützten zunächst die Konföderierten von Bar. Um Maria Theresia auf ihre Seite zu ziehen, mussten Russland und Preußen etwas anbieten. So entstand ihr Vorschlag, man könne sich gemeinsam an Polen bereichern. Doch schien es zunächst, als schreckte die österreichische Kaiserin zurück.

Ich für meinen Teil wünsche kein Dorf zu behalten, dass mir nicht zukommt.

Maria Theresia

Das ließ Maria-Theresia noch im Sommer 1771 wissen. Sie wolle keine Unschuldigen berauben. Allerdings hatten die Habsburger bereits zwei Jahre zuvor, 1769, einige Städte der Zips im Süden Polens durch eine Militäraktion an sich gebracht. Damit war ein Präzedenzfall geschaffen, auf den sich Katharina und Friedrich nun berufen konnten. Maria-Theresia klagte, sie würde das Geraubte am liebsten wieder zurückgeben.

Kein Teilungsplan, wie vorteilhaft er auch sein möge, wird mich auch nur einen Augenblick in Versuchung führen.

Maria-Theresia

„Österreich blieb so lange außen vor, bis sich Ende 1771 in den Köpfen der russischen und preußischen Politiker der Gedanke verfestigte, man müsse es einbeziehen, um das Gleichgewicht der Mächte zu erhalten. Österreich war auf keinen Fall Urheber des Teilungsplans, sondern kam später hinzu, um die ganze Prozedur zu vereinfachen. Der Appetit der Habsburger war allerdings sehr groß, denn Österreich hatte ja in den 1740er-Jahren Schlesien an Preußen verloren. Schlesien hatte nicht nur große politische, sondern auch wirtschaftliche Bedeutung. Der Wiener Hof war daher an einem Ausgleich interessiert“, erklärt Jacek Kordel.

Drei Mächte teilen ein Land unter sich auf

Am 5. August 1772 schlossen Russland, Preußen und Österreich in Petersburg das erste Teilungsabkommen. Begründet wurden die Annexionen mit den anarchischen Verhältnissen in Polen. Durch sie wäre die europäische Ordnung bedroht. Das militärisch schwache, in sich uneinige Polen-Litauen beugte sich. Es verlor ein Viertel seines Staatsgebiets. Russland erhielt Gebiete nördlich der Düna und östlich des Dnjepr.
Österreich besetzte Galizien am Oberlauf der Weichsel. Lemberg wurde Hauptstadt von Galizien, des neuen Kronlands der Habsburger. Preußen erhielt ein kleineres Gebiet. Die von Friedrich II. begehrten Städte Danzig und Thorn blieben erst einmal unter der polnischen Krone. Doch die Besetzung Ostpommerns, des Kulmer Lands und des Ermlands schuf die lang ersehnte Landverbindung mit Ostpreußen.
Außerdem nahm sich Preußen das sogenannte Netze-Gebiet. Zum Sitz der Gebietsverwaltung bestimmte man das rund 400 Kilometer nordöstlich von Berlin gelegene Bromberg, Polnisch: Bydgoszcz.
„Als die Stadt an Preußen fällt, ist sie durch Seuchen und Brände praktisch entvölkert. Hier installiert man nun verschiedene Behörden. Dadurch zieht man neue Einwohner an, egal ob polnischer oder deutscher Sprache. Die Verwaltung wird natürlich von Deutschen besetzt.“
Bygdoszcz. Um einen Marktplatz herum stehen mehrgeschossige alte Häuser.
Die Altstadt von Bydgoszcz ist heute immer noch von preußischen Einflüssen geprägt. © picture alliance / Zoonar / Nando Lardi
Die Kunsthistorikerin und Denkmalpflegerin Bogna Derkowska-Kostkowska steht auf dem alten Markplatz von Bydgoszcz vor der Stadt- und Landesbibliothek, früher einmal Sitz der preußischen Domänenkammer.
„Hier residierte die Regierung des Netze-Gebiets. 1774 eröffnet, ein klassizistischer Barockbau, der ganz erhalten geblieben ist. Innen finden Sie noch das alte Treppenhaus aus dem 18. Jahrhundert.“
In der Altstadt von Bydgoszcz gibt es kein Haus, das nicht in preußischer Zeit errichtet, umgebaut oder wenigstens erweitert wurde. Nur die Keller und Fundamente stammen oft noch aus dem polnischen Königreich. Auch im Stadtpark von Bydgoszcz gibt es noch ein Überbleibsel der Teilungszeit, eine Kanalschleuse.
„1772 entschied sich Preußen für den Bau eines Kanals, wobei es bereits Pläne aus dem polnischen Königreich gab. Der Kanal wurde sehr schnell gebaut und 1774 eingeweiht.“
Der Netze-Kanal schuf einen wichtigen Verkehrsweg auf dem Wasser von Berlin bis zur Weichsel und ermöglichte so den raschen Aufschwung von Handel und Industrie.

Als das Ermland ein Teil Preußens war

Rund 200 Kilometer nordöstlich von Bydgoszcz liegt Olsztyn, auf Deutsch: Allenstein. Hier ist Robert Traba zu Hause. Der Historiker gilt als einer der besten Kenner polnisch-deutscher Beziehungsgeschichte.
„Ich lebe in einem Teil von Preußen, den man in Deutschland eigentlich nicht kennt, im Ermland. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts war das Ermland ein Teil Preußens, das zu Polen gehörte. 1772 hat es dann Brandenburg-Preußen annektiert. Es war keine militärische Eroberung, sondern eine Übernahme per Erlass.“
Das Ermland war katholisch, Preußen protestantisch. Vor allem die geistige Elite konnte sich mit den neuen Herren arrangieren.
„Ein kapitales Beispiel für das Funktionieren eines Staates vor dem Zeitalter des Nationalismus liefert für mich der ermländische Bischof Ignacy Krasicki, ein herausragender Dichter der Aufklärung in Polen und enger Vertrauter des polnischen Königs Stanisław August Poniatowski. Er kommt als Fürstbischof ins Ermland und wird durch die erste Teilung Polens zum Untertanen des preußischen Königs. Das stellt für ihn aber kein Problem dar.
Bald schließt er Freundschaft mit dem preußischen Kammerherren Ahasverus Lehndorff, der im masurischen Steinort residiert. Lehndorff ist natürlich Protestant, aber was kümmert das die beiden. Sie korrespondieren auf Französisch, gehen ihrer gemeinsamen Faszination für die Garten- und Theaterkunst nach. Lehndorff verschafft Krasicki Zugang zum Hof des preußischen Königs, und Krasicki gehört bald zum Kreis derjenigen, die die Anerkennung Friedrichs II. genießen", sagt der polnische Historiker Robert Traba.
Ignacy Krasicki. Ein festlich gekleideter Mann trägt ein großes Kreuz um den Hals.
Polnischer Bischof mit Weitblick: Ignacy Krasicki pflegte internationale Kontakte und Freundschaften© imago images / piemags / Per Krafft
Nach der ersten Teilung Polens führten Preußen, Österreich und Russland in den annektierten Gebieten ihre je eigene Ordnung ein. In Warschau versuchte währenddessen der polnische König Stanisław August, seinen Staat zu reformieren. Polen-Litauen wurde zwar um ein Viertel verkleinert.
Aber immer noch war es ein großes Reich, politisch und kulturell bedeutend. Die mächtigen Nachbarn und innere Gegensätze hatten es allerdings zerrüttet. Stanisław August hing von Russland ab, war Zarin Katharina aber keineswegs hörig. Der König machte sich daran, die polnische Demokratie der Adligen in eine aufgeklärte konstitutionelle Monarchie zu verwandeln.
„Es ging um eine Neufundierung der politischen und gesellschaftlichen Elite“, erklärt der Historiker Michael G. Müller.
„Bis in die Zeit der Maiverfassung von 1791 war der Geburtsadel der einzige Souveränitätsträger, also der einzige Teil der Gesellschaft mit politischen Rechten. Gleichzeitig war dieser Massenadel oft sehr arm, nicht mehr die soziale und kulturelle Elite.
Zentraler Bestandteil dieses polnischen Reformprojekts war es, diesen alten Geburtsadel zu ersetzen durch eine Elite der Gebildeten und Besitzenden, diesen Wasserkopf von politisch nicht handlungs- und denkfähigen Geburtsadligen loszuwerden und sie zu ersetzen durch eine moderne Funktionselite – und das war kühn. Das war einer der großen Schritte in die Moderne.“

Der Sejm beschließt den Weg in die Moderne

Am 3. Mai 1791, also noch vor der ersten Verfasung des revolutionären Frankreichs, verabschiedet der Sejm die Konstytucja Trezeciego Maja, eine polnische Verfassung.
Die Stimmung war erregt, ein Vorgeschmack von Revolution erfasste die Menge in Warschau, als der König – Zeitzeugen zufolge – mit einem Stapel von Papieren in der Hand vor sein Schloss trat. Die Gewaltenteilung wurde festgeschrieben. Alle Polen sollten Grundrechte besitzen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und zunächst nur auf dem Papier. Aber: Das rückständige Polen machte sich 1791 auf den Weg. Es schien Vorreiter einer modern verfassten politischen Ordnung in Europa zu werden.
„Nach der ersten Teilung Polens war Stanisław August politischer Realist. Er wusste, dass er einen gemäßigten Kurs verfolgen musste. Seine Entscheidung hatte der Vertreter Russlands in Warschau abzusegnen. Der polnische König hing von den politischen Prinzipien des Petersburger Hofs ab. Unter diesen Bedingungen eingeschränkter Souveränität versuchte er, ein Maximalprogramm durchzusetzen. Ohne Zweifel war Stanislaw August ein Staatsmann, der sich sein Leben lang für die Interessen Polens einsetzte“, sagt der Historiker Jacek Kordel.

Der Landesverrat des polnischen Adels

Der König versuchte, den Untergang Polen-Litauens zu verhindern. Doch sein Reformprogramm stieß auf Misstrauen bei den übermächtigen Nachbarn. Zumal es Katharina, die ihn einst begünstigt hatte, ablehnte. Ein schwaches, altmodisches Polen lag im Interesse der Teilungsmächte.
Ein solches Polen lag aber auch im Interesse einflussreicher polnischer Hochadliger. Sie regierten ihre Ländereien wie eigene Staaten. Von einer Stärkung der Zentralgewalt erwarteten sie Nachteile. Eine Verfassung mit Grundrechten lehnten sie rundweg ab. Um den eigenen König zu schwächen, gründeten die Verschwörer einen Kampfbund mit Russland.
Als Konföderation von Targowica ist er in die Geschichte eingegangen. Am 27. April 1792 in Petersburg vereinbart, wurde der Bund danach in Targowica, einem Potocki-Anwesen südlich von Kiew, verkündet. Seither gilt Targowica in Polen als Synonym für Landesverrat.
„Die Motive sind völlig egal. Wer sich in der Stunde der Not mit äußeren Feinden verbindet, der stellt sich in die Tradition von Targowica. Das ist das Bündnis mit dem Feind, ja…“, sagt Michael G. Müller.
Hinrichtung der "Verräter von Targowica" in Warschau. Ein Marktplatz mit einem Galgen. Darum haben sich zahlreiche Menschen versammelt.
Gemälde von der Hinrichtung der "Verräter von Targowica" in Warschau 1794. Anstelle der betroffenen Personen wurden ihre Porträts gehängt. © imago / United Archives International / Jan Piotr Norblin
In den frühen 90er-Jahren des 18. Jahrhunderts trug die Konföderation von Targowica wesentlich dazu bei, dass Polen von der Landkarte verschwand. Russland nutzte das Bündnis mit den polnischen Verschwörern und begann 1792 unter dem Deckmantel der „nachbarschaftlich-freundschaftlichen Hilfe“ einen Krieg gegen Polen. König Stanisław August vollzog bald eine überraschende Wende. Er trat der gegen ihn gerichteten Konföderation von Targowica bei.
„Es war klar, dass man sich der russischen Truppen auf längere Sicht nicht erwehren konnte. Deshalb plädierte die Partei des Königs für die Wahl des kleineren Übels und empfahl, der Konföderation von Targowica beizutreten. Man hoffte, durch Nachgiebigkeit gegenüber Russland wenigstens Teile des eigenen Reformprogramms retten zu können“, sagt Jacek Kordel.
Die damalige Kompromissbereitschaft des Königs gilt vielen Polen heute noch als Verrat. Erreichen konnte Stanisław August letztendlich nichts. Russland nutzte die Situation und schritt 1793 gemeinsam mit Preußen zur zweiten Teilung Polens. Dabei erbeutete man, ohne Österreich zu beteiligen, mehr Land als bei der ersten Teilung. Die Verfassung vom 3. Mai 1791 war nur noch Makulatur.

Polens Untergang

Viele Polen, Adlige, Bürger, Bauern, auch Juden, stemmten sich gegen den endgültigen Untergang ihres Landes. Unter der Führung von Tadeusz Kościuszko erhoben sie sich zum Volksaufstand. Den Kościuszko-Aufstand warfen Russland und Preußen nieder. 1795 teilten sie Polen ein drittes Mal, unter der Beteiligung Österreichs. Nun blieb nichts mehr übrig. Damit war die staatliche Existenz des einstigen Großreichs beendet.
123 Jahre lang lebte die polnische Bevölkerung in drei verschiedenen Staaten, die auf polnische Traditionen, Sprache und Kultur wenig oder gar keine Rücksicht nahmen. Im deutschen Teilungsgebiet war nach der Reichsgründung durch Bismarck die nationale Unterdrückung der Polen besonders ausgeprägt.
Gleichwohl profitierten dort alle Bewohner von einem vergleichsweise hohen Entwicklungsstand. 95 Prozent der polnischen Bevölkerung waren des Lesens und Schreibens kundig. Im russischen Teil war es gerade einmal die Hälfte. Dort, wie auch im österreichischen Kronland Galizien, lebte die polnische Bevölkerung zumeist in großer Armut.

1918 nutzte Polen seine Chance

Den Teilungen zum Trotz blieb aber das Bewusstsein, einer unteilbaren polnischen Nation anzugehören, erhalten. Polnische Freiheitskämpfer tauchten im 19. Jahrhundert auf den revolutionären Schauplätzen in Europa auf und vertraten ihr Anliegen mit großem Elan. Politisch aber hatte die polnische Nationalbewegung keine Chance – bis 1918, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs.
„Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen, es lebe das Neue!“
Mit diesen Worten rief der deutsche Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die Republik aus. Eine Woche später, am 16. November, telegrafierte der polnische Sozialist und Unabhängigkeitskämpfer Józef Piłsudski an die internationale Gemeinschaft:

Der polnische Staat entspricht dem Willen des ganzen polnischen Volkes. Die polnische Regierung ersetzt die Herrschaft des Unrechts (…) durch Ordnung und Gerechtigkeit.

Józef Piłsudski

Polen nutzte seine Chance und berief sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, wie es US-Präsident Wilson verkündet hatte. Doch der Weg zu einem funktionierenden Staat war steinig. Es gab sofort gewaltsame Auseinandersetzungen um die Grenzen zu Deutschland und Russland.
Und die junge polnische Republik musste die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in den ehemaligen Teilungsgebieten angleichen, vom Schulwesen bis zur Eisenbahn. Manche Unterschiede blieben bis heute erhalten.
„Bis heute teilt man Polen in Polen A und Polen B. Polen B sind die Teile, die früher zu Russland und Österreich gehörten, und Polen A sind der Teil, der früher zu Preußen gehörte. Dann erkennen Sie das an Stadtlandschaft, Architektur, Essen, auch an bestimmten Dialekten“, sagt Agnieszka Pufelska.
Bis heute prägt das kollektive Trauma der Teilungen von 1772, 1793 und 1795 die polnische Gesellschaft jenseits aller politischen Unterschiede. Derzeit engagieren sich Polen massenhaft und parteiübergreifend für die Ukraine, obwohl ihre Beziehungen im 20. Jahrhundert überwiegend feindlich waren.
Die Solidarität mit dem angegriffenen Nachbarn entspringt nicht zuletzt der über Generationen tradierten Erinnerung an die langen Zeiten der Fremdherrschaft im eigenen Land.

Es sprechen: Max Urlacher, Joachim Schönfeldt, Uta Prelle, Barbara Becker und Olaf Oelstrom
Ton: Christiane Neumann
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Redaktion: Winfried Sträter

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