25 Jahre Srebrenica

Gespaltenes Gedenken

09:49 Minuten
Zineta Ibisevic hält ein Foto ihrer Kinder in den Händen. Die Familie Ibisevic hat ihre beiden Söhne 1995 beim Völkermord an Srebrenica verloren.
Zinita Ibisevic mit einem Familienfoto ihrer Söhne. Die Familie wollte am 11. Juli 2020 den in Srebrenica getöteten Sohn Salko auf dem Potocari Gedenkfriedhof begraben. Von Samir dagegen hat man keine Überreste finden können. © picture alliance / Anadolu Agency / Denis Zuberi
Marie-Janine Calic im Gespräch mit Ute Welty · 11.07.2020
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Trotz aller Aufarbeitung: Auch 25 Jahre nach dem Massaker von Srebrenica gebe es immer noch eine Kultur der Leugnung, sagt die Historikerin Marie-Janine Calic: "Jede Gruppe zählt nur die eigenen Opfer, und die anderen sind immer nur der Täter."
Ute Welty: Es sind vor allem muslimische Männer und Jungen, die den Massenerschießungen von Srebrenica zum Opfer fallen. Heute erinnert der europäische Gedenktag an die vielen tausend Getöteten – an die Massenerschießungen vor und unter den Augen der Vereinten Nationen. Marie-Janine Calic hat sich als Professorin in München intensiv mit dem grausamen Sterben von 1995 beschäftigt. Inwieweit steht Srebrenica geradezu symbolisch für den Konflikt im ehemaligen Jugoslawien, der für Menschen außerhalb nur so schwer zu fassen ist?
Calic: In Srebrenica ist der Konflikt gewissermaßen kulminiert, das hat sich ja über insgesamt drei Jahre aufgebaut. In Srebrenica war ein Moment erreicht, als der Krieg gerade kurz vor dem Ende stand. Zu dem Zeitpunkt hatten die bosnischen Serben ungefähr die Hälfte des Territoriums von Bosnien-Herzegowina erobert, die andere Hälfte hielten kroatische und bosniakische Truppen, und die internationale Kontaktgruppe war schon dabei, einen Friedensplan für die Nachkriegszeit auszusortieren.
Demnach hätten Srebrenica und andere Enklaven, die sich da inmitten bosnisch-serbischen Territoriums befanden, nach dem Krieg zu dieser kroatisch-bosniakischen Föderation gehört. Für die Serben war das der Moment, noch mal zu versuchen, das Kriegsglück zu drehen. Das erklärt auch ein bisschen den großen Eifer und diese ganze Rache und den ganzen Hass, der sich da auf diese kleine Stadt übertragen hat.

Für die Jüngeren ein Tabuthema

Welty: Wie gehen die Menschen dort heute mit dem um, was geschehen ist?
Calic: Srebrenica selber ist heute zur Hälfte von Muslimen und Serben bewohnt. Es gibt dort einen serbischen Bürgermeister, und sein Umgang mit dem Ganzen ist in gewisser Weise symptomatisch für den Zustand in Bosnien. Dieser Bürgermeister erklärt, dass es zwar ein Verbrechen in Srebrenica gegeben habe, aber er leugnet, dass es sich dabei um einen Völkermord, also eine systematische Vernichtungsabsicht gehandelt habe. Das behaupten so auch die höchsten Spitzen der Republika Srpska bis zum einfachen Mann, und das ist natürlich eine große Provokation und eine Tragödie für die Familien der Opfer.
Bei den Jüngeren würde ich sagen, dass es einfach ein Tabuthema ist. Die jüngere Generation hat das nicht mehr miterlebt, will davon auch nichts wissen und nimmt mit Missfallen zur Kenntnis, dass das Gedenken gespalten ist. Jede Gruppe zählt nur die eigenen Opfer, die eigene Gruppe ist also kollektiv immer nur eine Opfergruppe, und die anderen sind immer nur die Täter. Und das gilt für beide Seiten.

Welty: Die Vereinten Nationen gründen ja bereits 1993 in Den Haag einen speziellen Strafgerichtshof für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien. Was hat dieser Strafgerichtshof bis zu seiner Auflösung leisten können?
Calic: Ich glaube, der hat sehr viel geleistet. Zuallererst hat er geleistet, dass die Ereignisse sicher rekonstruiert werden konnten. Wir wissen heute alles über diese Verbrechen – von den Planungsvorbereitungen, wir wissen, wer sie durchgeführt hat, wie sie durchgeführt wurden und welche Opfer es gab. Das ist sehr wichtig, weil es der Kultur der Leugnung entgegenarbeitet, die ja bis heute noch ein bisschen im Raum steht. Und dann hat das Tribunal auch dazu beigetragen, Schuld zu individualisieren, das heißt, konkrete Untaten auch konkreten Personen zuzuweisen.

"Erdrückende" Beweise gegen Mladic

Das ist wichtig, weil es immer noch diese Kollektivschuld und Kollektivopfervorstellungen gibt. Aber in dem Moment, wo wir wissen, dass eben nicht alle Serben Verbrecher waren und dass es auch serbische Opfer gab, kann man diese ewige Spirale kollektiver Schuldvorwürfe durchbrechen. Dann ist das Gericht natürlich auch eine wichtige Institution gewesen, um das Leiden der Opfer anzuerkennen und öffentlich zu machen. Ohne diese drei Elemente kann es auch gar keine Normalität, keinen Neuanfang, geschweige denn eine Versöhnung geben.
Welty: Der Strafgerichtshof in Den Haag hat auch General Mladic verurteilt – der leitete ja damals die serbischen Truppen und die Angriffe. Sein Berufungsverfahren ist wegen Corona verschoben worden – kann es sein, dass dieser Mann am Ende straffrei ausgeht?
Calic: Das kann man sich schwer vorstellen, denn die Last der Beweise ist doch erdrückend. Das Tribunal hat ja Tausende Dokumente und Zeugenaussagen zusammengetragen. Es gibt forensische Ergebnisse, die Massengräber wurden ausgehoben, und es gibt auch abgehörte Kommunikation, Funksprüche und Telefonate, die ganz eindeutig beweisen, dass Ratko Mladic hier als Befehlshaber diesen Vernichtungsbefehl gegeben haben muss und gegeben hat. Es ist übrigens auch nachgewiesen, dass da etliche weitere auch daran beteiligt waren.

Welty: Aber sind überhaupt die Haupttäter oder womöglich Haupttäterinnen jemals juristisch belangt worden, oder besteht da erheblicher Nachholbedarf, weil sich eben viele noch frei bewegen?
Calic: Die Hauptverantwortlichen sind in Den Haag verurteilt, der bosnisch-serbische Präsident und der Oberkommandierende sind ja bereits verurteilt worden. Insgesamt sind 19 Haupttäter im Zusammenhang mit Srebrenica in Den Haag verurteilt worden, aber das heißt natürlich auch, dass etliche nicht verurteilt wurden. Es sind auch einige Prozesse in den Gerichten Bosnien-Herzegowinas und Serbiens abgehalten worden, dort sind auch noch mal Täter verurteilt worden.
Die ehemalige Niederländische United Nations UN Basis gegenüber des Memorial Centers. 
Hätten die in Bosnien stationierten Blauhelme mehr tun können, um das Massaker zu verhindern?© imago / Eibner

Mladic und Karadzic werden als Helden verehrt

Aber es muss ja eine sehr große Zahl an Personen gegeben haben, die wenigstens Mitwisser waren, aber tatsächlich auch geplant und mitgewirkt und hinterher auch verschleiert haben – die laufen eben größtenteils frei rum beziehungsweise bekleiden sogar öffentliche Positionen in der Republika Srpska. Es gibt immer noch auch einen gewissen Kult um diese Personen, einschließlich Ratko Mladic und Karadzic und andere, nach denen auch Straßen benannt sind und so weiter, die geradezu als Helden verehrt werden. Das ist aus Sicht der bosnischen Muslime natürlich eine große Tragödie und eine gewaltige Provokation.
Welty: Berichten zufolge haben die Vereinten Nationen nicht nur zugeschaut, sondern auch geholfen bei der Deportation von Frauen und Kindern. Welche juristische Aufarbeitung hat denn da stattgefunden?
Calic: Es hat juristische Aufarbeitung gegeben, auch zuletzt noch Prozesse, die in den Niederlanden stattgefunden haben. Da wurden die niederländische Regierung beziehungsweise die Streitkräfte dafür verantwortlich gemacht, dass über 300 bosnische Muslime, die sich auf das Gebiet beziehungsweise diese Compounds der Blauhelmsoldaten gerettet haben, zum Verlassen aufgefordert wurden und dann zu Tode kamen.
Aber es ist im Nachhinein ein bisschen schwer auszusortieren, welche Verantwortung jetzt der Einzelne tatsächlich an den Ereignissen trägt. Ich denke, dass die Hauptverantwortung und das Hauptversagen dieser Blauhelmsoldaten wirklich darin bestand, dass sie ihren eigentlichen Auftrag nicht richtig erfüllt haben, sich nämlich um die Flüchtlinge und die Kriegsgefangenen zu kümmern. Sie haben ja teilweise sogar mitgeholfen, die Männer da in Busse zu setzen, die wurden dann abtransportiert in Gefangeneneinrichtungen und hinterher erschossen.
Zu dem Zeitpunkt hat sich einfach niemand darum gekümmert, was mit denen passieren würde. Man muss natürlich auch sagen, dass das auch niemand wirklich vorhersehen konnte und wahrscheinlich auch nicht wollte, dass es ein Verbrechen in diesem Umfang geben würde.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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