24 Stunden Jerusalem

Das wahre Leben der heiligen Stadt

Ein Jude beim Gebet an der Klagemauer in Jerusalem
Klagemauer in Jerusalem © picture alliance / Schoening
Moderation: Joachim Scholl · 11.04.2014
Sie gilt den Juden, Christen und Moslems als heilig: die Wüstenstadt Jerusalem. Grund genug, diesen Ort zu porträtieren - 24 Stunden lang in Echtzeit. Der Regisseur Thomas Kufus hat dieses Megaprojekt angeschoben und wurde mit religiös-politischen Reibereien konfrontiert.
Joachim Scholl: "24 Stunden Jerusalem" - so wirbt der Sender Arte für "24 Stunden Jerusalem", die Dokumentation, die morgen Punkt 6 Uhr früh startet, und zu uns ins Studio ist Thomas Kufus gekommen, der dieses monumentale Projekt produziert hat. Willkommen im Deutschlandradio Kultur!
Thomas Kufus: Guten Morgen!
Scholl: 70 Filmteams mit Israelis, Palästinensern, Europäern, Herr Kufus, 90 Bewohner, die begleitet wurden, einem hochbrisanten politischen Umfeld, an einem einzigen Tag - wie viele graue Haare haben Sie bekommen und wie oft sind sie Ihnen zu Berge gestanden?
Kufus: Ich hatte vorher schon graue Haare, und die habe ich noch, ich habe sie noch auf dem Kopf, aber sie standen in der Tat viele Wochen und Monate immer wieder zu Berge.
Scholl: Es gibt ja einen Vorläufer: Sie haben 2008 schon "24 Stunden Berlin" realisiert. Wie kamen Sie jetzt gerade auf Jerusalem? Weil es doch etliche Parallelen gibt zwischen diesen Städten?
Kufus: Nein, ich würde sagen, es gibt genau wenige Parallelen, und das ist das, was uns daran interessiert hat. Es gäbe eine Menge Parallelen zu anderen Städten wie, sagen wir, Paris, London, vielleicht sogar Sao Paulo oder Singapur, das sind alles Städte, die heutzutage von gewissen Globalisierungsentwicklungen "heimgesucht", in Anführungsstrichen, sind. Da haben wir drüber nachgedacht, aber das war uns letztlich doch zu ähnlich, die Strukturen zu ähnlich, wie sie in Berlin wären. Und wir hatten uns überlegt: Wenn wir dieses Format, was sowieso sehr kraftraubend und auch riskant ist, noch mal machen, dann müssen wir es mit einer Stadt machen, die so ganz anders ist als Berlin, die auch, ehrlich gesagt, ganz anders ist als alle anderen Städte, nämlich Jerusalem.
Scholl: Wir haben es im Trailer gerade gehört: 800.000 Einwohner, 500.000 Israelis, 300.000 Palästinenser, drei Weltreligionen, der heikle politische Status - und das hat sich auch in den drei Gruppen von Teams ausgedrückt. Und jetzt noch mal Stichwort graue Haare: Das Projekt wäre fast gescheitert, weil die palästinensische Seite nämlich kurz vor Drehbeginn aussteigen wollte. Was war da los?
Kufus: Ja, also Jerusalem ist wirklich der Schmelztiegel für den Konflikt. Jedes Wort und jeder Schritt, den man dort tut oder macht, ist letztlich politisch. Das war in dieser Form uns, meinem Team und auch mir, nicht so ganz klar, es war auch den Redakteuren, den begleitenden Redakteuren von Arte und vom Bayrischen Rundfunk nicht in diesem Ausmaß, in dieser Dimension klar, sodass wir das Projekt so aufstellen wollten, wie wir es ähnlich in Berlin gemacht hatten, nämlich auch analog zur Bevölkerungsstruktur - und genau das hat nicht funktioniert. Uns ist dann, nachdem wir sozusagen die Vorbereitungen fast abgeschlossen hatten, ist uns dann von verschiedensten palästinensischen Seiten vorgeworfen worden, wir würden den Zustand der Stadt heute, also die besetzte Stadt - es ist eine besetzte Stadt -, wir würden das mit diesem Projekt manifestieren, was wir eigentlich so gar nicht wollten, sondern wir wollten im Prinzip den Alltag zeigen, den Alltag in einer so besonderen Stadt, die man hier in Europa ja kaum kennt, weil man sich entweder fast nicht traut, dorthin zu fahren, weil es ja immer wieder nicht nur gute Nachrichten dorther gibt, oder weil man als Pilger dort unterwegs ist, aber das normale Zusammenleben in einer solchen Großstadt nicht wirklich kennt und auch gar nicht genug Zeit hat, kennenzulernen. Das heißt, wir wollten den Alltag, wir wollten eben zeigen, was da los ist, aber die palästinensischen Gruppen - das sind in diesem Fall sehr, ich sage mal, von der Besetzung Israels gedemütigte Gruppen -, die haben gesagt: Das geht so nicht. Wir müssen eine Gleichbehandlung haben von vornherein, wir brauchen genau so viele Kameras, genau so viele Stimmen wie auf israelischer Seite. Und wir mussten das Projekt abbrechen und mussten es neu aufbauen, wir mussten es dann auch in eine andere Richtung schieben, aber letztlich hat dieser Neuaufbau diesem Projekt sehr gutgetan.
Scholl: "24 Stunden Jerusalem", die Dokumentation ab morgen früh auf Arte in Echtzeit. Hier im Deutschlandradio Kultur sind wir im Gespräch mit dem Produzenten Thomas Kufus. Von der europäisch-deutschen Seite sind große bekannte Namen dabei, Daniel Levy, Hans-Christian Schmid, Andres Veiel, Maria Schrader, die Crème de la Crème der jüngeren intellektuellen Filmavantgarde - kann man sie nennen - in Deutschland. Mit welchem Blick, welcher Idee sind diese Künstler losgezogen? Ich kann mir vorstellen, dass sie von dem Projekt auch begeistert waren, oder?
Europäische Regisseure als neutrale Position?
Kufus: Ja, also es war ursprünglich nicht geplant, dass so viele europäische Regisseure teilnehmen, aber dadurch, dass wir es neu aufgebaut haben und die beiden dort lebenden Konfliktparteien, nämlich Israelis und Palästinenser, so sehr untereinander zerstritten sind, sodass sie eben sich auch bei dieser Größenordnung nicht wirklich begegnen können - Einzelne können das sehr wohl, aber bei so einem Projekt, wo etwa 500 Menschen an diesem einen Tag unterwegs sind, kriegt das eine politische Dimension -, sodass wir überlegt haben, einfach die europäischen Regisseure als neutrale Position dazwischen zu schieben. Und ich habe dann - viele von denen kenne ich -, ich habe dann gefragt: Habt ihr Lust, diesen einen Tag zu drehen? Wir bezahlen euch den Flug, wir bezahlen euch die Unterkunft, und ihr habt fünf Tage in einer verrückten Stadt. Viele von denen waren schon mal da, haben schon mal eigene Projekte gemacht, nicht alle, aber fast alle. Und dann sind sie gekommen, gerne gekommen und haben dann mit uns gemeinsam dieses erlebt, und das war durchaus eine heiße Phase.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Israelische Fahnen wehen in Jerusalem vor der Knesset, dem Parlament.© dpa / picture alliance / Marc Tirl
Scholl: Jeder konnte frei entscheiden, jedes Team frei entscheiden, was und über wen man dreht?
Kufus: Was man dreht, ja, nicht über wen, weil wir hatten durch langwierige Recherche versucht natürlich, die Protagonisten, die in gewisser Weise stellvertretend für bestimmte Bevölkerungsgruppen, für soziale sozusagen Strukturen in der Stadt stehen, die haben wir ihnen gesucht. Wir haben ihnen die Protagonisten vorgeschlagen, sie haben sie dann einen Tag kennengelernt und am nächsten Tag gedreht.
Scholl: Inwieweit, Herr Kufus, kann das aber überhaupt gelingen, solch eine, ja, verwirrende, zersplitterte Stadtrealität darzustellen, eine Wirklichkeit, in der so das Politische, das Religiöse, das Soziale permanent miteinander verwirbelt werden?
Kufus: Das kann in der Form gelingen oder in dem Ausmaß gelingen, wie wir es praktisch als Puzzle - diese Stadt ist ein einziges Puzzle, was nicht unbedingt zusammenfügbar ist -, ... wenn man es so darstellt. Wir haben nicht versucht, dort, ich sage mal, mit dem Projekt Frieden zu stiften. Ich würde auch heute behaupten, dass wir als Europäer den Konfliktparteien dort nicht wirklich helfen können. Wir können höchstens, höchstens moderieren, und das weiß man: Auch das funktioniert nicht wirklich. Mir war aber wichtig und uns war wichtig, dieses Projekt, dass man einen Einblick in diese Stadt bekommt, weil das ist etwas, was man hier in Europa bis jetzt so gar nicht weiß. Man spricht viel über Israel, man spricht viel über den Konflikt, die palästinensische Seite ist vergleichsweise etwas unterbelichtet, dort geht es hauptsächlich um Hamas und andere Tendenzen. Aber was in dieser Stadt, die wirklich für uns alle die Wiege der Religion ist und auch für uns Christen ja die heilige Stadt ist, was dort eigentlich tagtäglich passiert oder eben nicht passiert, das ist etwas, was wir zeigen wollen.
"Man sieht die Sonne aufgehen über den Bergen von Jerusalem"
Scholl: Es gibt auch eine crossmediale Begleitung, kann man sie nennen: Seit 24 Tagen schon gibt es das Projekt als Web-Event. Morgen sind dann nochmals Teams am Ort, um über ihre Smartphones aktuelle Eindrücke zu liefern. Dann soll es noch Sechs-Sekunden-Videos von Jerusalemer Künstlern rund um die Uhr geben. Das hat sich in unseren Ohren so angehört, oh, als wolle man jetzt auf Teufel komm raus auch noch das Internet mit ins Spiel bringen, ultra-schnell, modern sein. Entwertet das nicht ein bisschen das Traditionelle, diese traditionelle dokumentarische Form, die in diesem Film - wir haben schon ein bisschen reinspicken dürfen -, die auch wirklich sehr ruhig und gehaltvoll oft sind sozusagen, dass jetzt hier da die schnelle Internetklickzeit noch reinkommen muss, oder geht es gar nicht mehr ohne?
Kufus: Ich denke, die Idee war, dass wir versuchen, hier in Europa möglichst viele Zuschauer, möglichst viele Bevölkerungsgruppen für dieses Projekt zu interessieren. Natürlich, Sie haben völlig recht: Der traditionelle Zuschauer guckt sich noch - noch, muss man sagen - das traditionelle, analoge Fernsehen an, also die sogenannten First Screen. Aber es gibt alle Menschen unter 30, unter 35, die sitzen heute vor dem Fernseher und haben schon fast immer ihr Handy dabei oder ihren Laptop oder ihr I-Pad, und genau die wollen wir damit ansprechen. Leute, guckt mal, da ist was Interessantes im Fernsehen, guckt auch da mal rein, informiert euch darüber, und nicht nur bitte immer auf den Websites - und umgekehrt: Natürlich auch die älteren Zuschauer, die sich vielleicht nicht ständig im Web informieren, haben hier in diesem Fall eine große Bereicherung im Web zu erwarten und viel Hintergrund, was gar nicht in diese 24 Stunden reingepasst hätte.
Scholl: Nun kennen Sie schon das ganze Projekt, die ganzen 24 Stunden und werden natürlich den Teufel tun, hier eine Wertung vorzunehmen, aber doch mal Hand aufs Herz, Thomas Kufus: Um wie viel Uhr morgen, in den nächsten 24 Stunden, setzen Sie sich extra gespannt oder bewegt noch mal vor den Fernseher?
Kufus: Also ich kann sagen, für die wirklichen Frühaufsteher ist diese erste halbe Stunde von 6 bis 6.30 Uhr toll, man sieht wunderbar die Sonne aufgehen über den Bergen von Jerusalem, das ist ja eine Stadt, die mitten in der Wüste liegt, auch das wissen viele gar nicht, und dann ist schon auch sehr berührend und sehr besonders und da geht es zum ersten Mal auch schon wirklich ein bisschen heißer her, das ist die Stunde zwischen 9 und 10 und dann im Nachmittag zwischen 17 und 18 Uhr und viele Nachtstunden sind auch hochinteressant.
Scholl: Weil wir dort Protagonisten, Menschen aus Jerusalem treffen, die diesen Konflikt sehr, sehr abbilden und verkörpern. Ich danke Ihnen! Online und im TV: "24 Stunden Jerusalem" in Echtzeit, ab morgen also um 6 Uhr früh auf Arte. Thomas Kufus hat das Projekt produziert, vielen Dank für Ihren Besuch!
Kufus: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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