Vor 100 Jahren

1923 – Anfang eines Krisenjahres

08:46 Minuten
Holzsammler in der Weimarer Republik auf dem Heimweg, Deutschland im Jahr 1923.
Holzsammler auf dem Heimweg: Die Inflation stürzt im Jahr 1923 Millionen Menschen in Deutschland in Armut und Verzweiflung. © Getty Images / ullstein bild / Alfred Gross
Von Tobias Barth · 04.01.2023
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Vor 100 Jahren begann ein Krisenjahr der Weimarer Republik: Vom langfristig wirkenden Trauma ist die Rede, wenn Stichworte wie Inflation und Spaltung der Gesellschaft fallen. Große Themen, die 1923 auch und gerade für heute interessant machen.
Schlaglichter auf die erste Januarwoche 1923: Das Wetter ist schlecht. Seit Tagen Regen in Berlin bei 4 Grad plus. Frankreichs Präsident mahnt beim Neujahrsempfang für das diplomatische Korps das Deutsche Reich zur Zahlung der Reparationen.
Die Alliierten tagen zu diesem Thema und stellen fest: Deutschland hält absichtlich die Kohlelieferungen zurück. Kohle wird knapp. Wer sparen will, der badet öffentlich: 60 Mark kostet ein Wannenbad in den städtischen Bädern Hamburgs.
In Halle versuchen Anarchisten vergeblich, ein Kriegerdenkmal in die Luft zu sprengen. In Preußen verbietet die politische Polizei einen Ableger der seit November verbotenen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei.

Ein Brot kostet 250 Mark

Inzwischen fällt der Kurs der Mark, für einen Dollar muss man 8800 Mark hinblechen. Zum Vergleich: Ein Laib Brot kostet 250 Mark. Nach Kriegsende, im November 1918, waren es noch 53 Pfennig gewesen, am Kriegsbeginn sogar nur 32.
Der steigende Brotpreis als Indikator für die Inflation und als Katalysator für politische Prozesse:

Im Herbst 1922 drängte sich Deutschland immer näher an die Katastrophe heran. Das deutsche Bürgertum, das sich gegenüber den politischen Tendenzen einer revolutionären Demokratie vor vier Jahren so wenig anfällig gezeigt hatte, wurde plötzlich höchst anfällig gegenüber einem simplen ökonomischen Prozess, gegenüber der Inflation.

In diesen Monaten, das fühlte ich deutlich, entschied sich das deutsche Bürgertum, an den Urquell seiner Saga zurückkehrend, dafür, dem Zeiten-Rad in die Speichen zu fallen. Um neue Kräfte zu gewinnen, suchte sich der geschwächte Teutone seine Rekonvaleszenz beim Himmel zu erborgen."

Aus „Arnolt Bronnen gibt zu Protokoll“ von Arnolt Bronnen

Das schreibt rückblickend Arnolt Bronnen, neben Bertolt Brecht einer der prononciertesten Vertreter der Theater-Avantgarde der frühen 1920er-Jahre.

Vertrauen in die Republik fällt mit den Kursen

Was Bronnen hier beschreibt, ist das Erstarken des Konservatismus, der Rückgriff auf das Nationale. Die nach dem Weltkrieg so starke Sozialdemokratie verliert an Zustimmung: einerseits an die Kommunisten, andererseits an die Deutschnationalen. Das Vertrauen in die junge Republik fällt mit den Kursen.
Die Reichsbank druckt Geld in Massen. Nutznießer der Geldentwertung ist der überschuldete Staat und eine kleine Schicht derer, die vom Exportgeschäft leben. Jahrzehnte später erinnert sich der 1900 geborene Fabrikantensohn Karl Pielecke. 1923 lebt er in Berlin.
„Ich bin dann auch mal abends, wenn ich keine Zeit hatte, in die Stadt gegangen: Sie glauben gar nicht, was da sich tat. Was da an Luxusbauten und Nachtlokalen aufgemacht wurde. Schwerreiche Leute mit Schmuck und guten Kleidern amüsierten sich köstlich und königlich mit ihren Devisen“, erinnert er sich.

Die hatten ja Dollars oder englische Pfund oder russische Rubel. Jedenfalls haben die alle ein wunderbares Dasein geführt und haben es daher auch ‚The Golden Twenties‘ genannt. Für die deutsche Bevölkerung war das furchtbar.

Karl Pielecke, Zeitzeuge

Die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges hatte das Kaiserreich mit Kriegsanleihen finanziert, jetzt muss das Volk ein zweites Mal bluten, diesmal finanziell. Zu den Schulden des Reiches kommen noch die Reparationsforderungen hinzu.
Die Alliierten hatten im Mai 1921 die Rechnung gestellt. Am 11. Januar 1923 machen sie ihre Drohung wahr und rücken ins Ruhrgebiet ein, um die ausstehenden Zahlungen in Form von Kohle einzutreiben.
Die deutsche Regierung setzt auf passiven Widerstand: Beamte werden für das Nichtstun bezahlt, die Zechen stehen still, das Reich übernimmt die Kosten auch für die nicht arbeitenden Arbeiter. Die Besatzer reagieren mit Verhaftungen, hohen Strafen und verschärftem Belagerungszustand.
Aus dieser Situation ziehen vor allem rechte Kreise politisches Kapital.

Auftrieb für Rechte und Nationalisten

Es gibt viele Bücher und Romane in dieser Zeit über die Freiheitskriege über die Erhebung des deutschen Volkes gegen die napoleonische Fremdherrschaft in Deutschland“, sagt Helmut Kiesel. Der Kulturwissenschaftler hat sich mit der „völkischen“ Literatur der 20er-Jahre beschäftigt.
„Nach 1920 gab es nicht gerade eine Fremdherrschaft, mit Ausnahme des besetzten Rheinlandes. Aber doch steht man unter den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages, den ja viele als Diktatfrieden empfunden haben, und eines Friedensvertrags, der die deutsche Souveränität weitgehend einschränkte – beispielsweise im Bereich der Rüstung“, erklärt er.

Deutschland wurde entmilitarisiert bis auf das Heer von 100.000 Mann. Es durfte keine schweren Waffen, keine Luftwaffe, keine Kriegsmarine haben und alles das sind Dinge, die für das Souveränitätsgefühl eines Staates oder eine Staatsbevölkerung von großer Bedeutung sind.

Helmut Kiesel, Kulturwissenschaftler

Die Sehnsucht nach der Größe deutscher Nationalkultur bekommt 1923 Auftrieb. Der Autor Hans Grimm sympathisiert mit Hitler und schreibt am Buch „Volk ohne Raum“, Rudolf Herzog verfasst große Teile des künftigen Bestsellers „Kameraden“. Die Romanhelden sind Gutsbesitzersöhne, Offiziere, „Edelmenschen“. In ihrem Innenleben gewinnt Deutschland den Krieg. Zehn Millionen Leser findet das Buch.
Hitler im offenen Wagen mit den Freikorpsoffizieren Ulrich Graf, Major Buch und Christian Weber. - Foto, 1923.
Rechte Kreise ziehen politisches Kapital: Adolf Hitler präsentiert sich im Jahr 1923 im offenen Wagen mit Freikorpsoffizieren.© picture alliance/dpa/akg-image
In winziger Auflage dagegen erscheint „Vier Jahre politischer Mord“ von Emil Gumbel. Der Heidelberger Statistikdozent führt den Nachweis dafür, dass die Weimarer Justiz eine Klassenjustiz ist: Mild gegen rechte Mörder, hart gegen alles Linke. Kurt Tucholsky bespricht das Buch in der „Weltbühne“:

„Wie da politische Morde von deutschen Richtern beurteilt worden sind, das hat mit Justiz überhaupt nichts zu tun. Das ist gar keine. Verschwendet ist jede differenzierte Kritik an einer Rechtsprechung, die folgendes ausgesprochen hat:

Für 314 Morde von rechts 31 Jahre 3 Monate Freiheitsstrafe, sowie eine lebenslängliche Festungshaft.
Für 13 Morde von links 8 Todesurteile, 176 Jahre 10 Monate Freiheitsstrafe.
Das ist alles Mögliche. Justiz ist das nicht.“

Kurt Tucholsky über das Buch „Vier Jahre Politischer Mord“

Gescheiterter Hitlerputsch in München

1923 wird das Jahr, in dem Hitlers Nazipartei erstmals einen Putsch versucht, in München. Auch der sogenannte „Hamburger Aufstand“ der Kommunisten scheitert kläglich.
Politisch kann sich die junge Republik vorerst retten. Und wirtschaftlich?
Am ersten November 1923 wird ein Kilo Brot satte 260 Milliarden Mark kosten. Die Inflation stürzt Millionen in Armut und Verzweiflung, Erspartes verliert seinen Wert. Auch den Vater von Karl Pielecke trifft es. Binnen weniger Monate ist er völlig mittellos.
„Und dann hat er sich umgebracht, blieb ihm gar nichts weiter übrig. Der Staat hat ihn betrogen. Er war noch aus der wilhelminischen Zeit, wo alles anständig und geregelt war und Beamte zuverlässig und treu waren“, erinnert er sich.
„Dass es so etwas geben könnte, dass der Staat ein Vermögen eines Menschen, der sein Leben lang gearbeitet hat, einfach wegnimmt, indem er sagt: Das gilt nicht mehr, das ist nichts mehr wert – das war es, was er nicht überwinden hat können.“
Die Hyperinflation wird das Trauma des Jahres 1923 – mit jahrzehntelangen Folgen. Aber im Januar glaubten die meisten noch, dass alles nur besser werden könnte. Waren 250 Mark für ein Brot nicht absurd genug? Und musste der endlose Regen nicht auch irgendwann mal aufhören? Tat er aber erst Mitte Februar, dann wurde es richtig kalt.

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