100. Todestag des Soziologen Max Weber

Analytiker unserer entzauberten Welt

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Schwarzweißaufnahme des deutschen Soziologen Max Weber, um 1917, mit grau meliertem Bart, im schwarzen Anzug
Kühle Fassade, vulkanischer Charakter: der Sozialwissenschaftler Max Weber (1864 - 1920), aufgenommen um 1917. © Archiv Gerstenberg / ullstein bild via Getty images
Von Günter Kaindlstorfer · 14.06.2020
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Mit seinem Wort von der "Entzauberung der Welt" durch die neuzeitliche Rationalität eröffnete Max Weber einen neuen Blick auf die Moderne. Vor hundert Jahren, am 14. Juni 1920, starb der Vordenker der Soziologie in München an der Spanischen Grippe.
Der Soziologe Max Weber hat ein gewaltiges Oevre hinterlassen, ein zersplittertes und fragmentarisiertes Werk von einschüchternder Monumentalität. Gar nicht so einfach, da den Überblick zu bewahren. Und gar nicht so einfach, in einigen wenigen Sätzen zu sagen, worum es im Kern des Weberschen Denkens überhaupt geht. Hans-Peter Müller, einer der führenden Weber-Forscher der Gegenwart, wagt einen Versuch:
"Das zentrale Thema ist, ähnlich wie bei Karl Marx, der Kapitalismus, hier vor allem die Entstehung des Kapitalismus. Aber eben nicht wie bei Marx, der versucht hat, das Wesen des Kapitalismus an und für sich zu erforschen, sondern es geht um den spezifischen westlichen Kapitalismus, und da den spezifisch modernen westlichen Kapitalismus – mit der Frage: Welche Verkettung von Umständen hat eigentlich dazu geführt, dass das in diesem zerstrittenen Europa entstanden ist und nicht zum Beispiel in China – dem "Reich der Mitte", geeinigt, bevölkerungsstark, erfindungsstark – also, warum das nicht in China gelungen ist."

Geburt des Kapitalismus aus protestantischer Ethik

Eine Antwort auf diese Frage fand Weber in der Religionssoziologie. Es sei der asketische Protestantismus der Calvinisten und anderer puritanischer Gruppierungen gewesen, der die Entstehung des modernen Kapitalismus begünstigt habe, so Webers berühmte, bis heute umstrittene These.
Protestantische Kaufleute in London, Genf und Amsterdam hätten, vereinfacht gesagt, das kapitalistische Prinzip befeuert, indem sie ihre Gewinne in ihre Unternehmen re-investiert hätten, anstatt sie, wie es wohlhabende Handelsherren in Rom oder Sevilla nicht ungern taten, in genussseliger Leichtlebigkeit zu verpulvern.
Max Weber wusste, wovon er sprach, war er doch in Habitus und Prägung selbst Protestant durch und durch. Seine Mutter Helene entstammte einem strenggläubig-pietistischen Milieu. Die protestantische Leistungsethik hatte Sohn Max gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen.

Kühler Analytiker mit fragiler Psyche

Müller beschreibt Weber als innerlich zerrissenen Charakter: "Er ist gespalten. Zwei Seelen wohnen in seiner Brust." Auf der einen Seite war Weber ein preußisch-wilhelminischer Gelehrter wie aus dem Bilderbuch: sachlich, nüchtern, diszipliniert. Hinter der Fassade des kühlen Analytikers verbarg sich allerdings ein vulkanischer Charakter mit manisch-depressiven Zügen. Seine bahnbrechenden Einsichten in die Verfasstheiten der Moderne, das zeigt Müller in seinem Buch "Max Weber. Eine Spurensuche", musste Weber einer prekären psychischen Disposition abringen.
Wobei im Zentrum von Müllers Buch weniger die Biografie Max Webers als vielmehr dessen Denken steht. Streit und Konflikt sind in Webers Weltsicht die dynamischen Triebkräfte allen Seins.
"Er hat ein agonales Wirklichkeitsverständnis", sagt Müller: "Es ist alles umkämpft. Alles. Das fängt an in der Familie: Er ist der Erstgeborene, also muss er durchsetzen, dass er der Erstgeborne von acht Kindern ist. Das heißt: Er ist der Chef. Das muss man erkämpfen, das fällt einem nicht in den Schoß. Auch in der Liebe ist alles umkämpft, in der Erotik, nicht nur in der Wirtschaft, nicht nur in der Wissenschaft - wer kriegt einen Lehrstuhl, wer nicht? Es ist alles umkämpft."

Freiheit als der höchste Wert

Dass Max Weber – neben Adam Smith und Karl Popper – bis heute zu den prominentesten Denkern des Liberalismus gezählt wird, ist in Hans-Peter Müllers Augen kein Zufall: "Freiheit ist für ihn der oberste Wert. Nicht Gleichheit, auch nicht Brüderlichkeit. Obwohl er nichts gegen diese Werte hat, aber das Wichtigste ist die Freiheit."
Und heute? Leben wir hundert Jahre nach Webers Tod noch in einer "Weberschen Welt"? Auschwitz, Tschernobyl und Hiroshima hat der Meistersoziologe selbstverständlich nicht vorhersehen können, aber die Entwicklung des modernen Kapitalismus habe er im Großen und Ganzen zutreffend analysiert, findet Müller.

"Wir leben noch immer in Webers Welt"

"In was für einer Welt leben wir? Ich charakterisiere das immer durch drei Spiele. Das ökonomische Spiel ist kapitalistisch. Das politische Spiel ist Demokratie. Das kulturelle Spiel ist Individualismus. Wenn das noch gilt, dann leben wir noch in einer Weberschen Welt. Denn das war genau das, was er wollte. Kapitalismus, Demokratie, Individualismus – so konnte er sich eine halbwegs vernünftige Kombination von Wirtschaft, Politik und Kultur vorstellen."
47 Bände umfasst die Max-Weber-Gesamtausgabe, deren letzter Band vor Kurzem, nach knapp einem halben Jahrhundert Editionsarbeit, erschienen ist. Wer davor zurückschreckt, die etwa 30.000 Seiten mit viel Studierfleiß durchzuackern, was zweifellos lohnend wäre, ist mit Hans-Peter Müllers Buch gut bedient.
Die großen Linien des Weberschen Denkens, in diesem Band werden sie in einprägsamer Form - und in präzisem, sachverständigem Deutsch – noch einmal glasklar herausgearbeitet. Ein Buch, das Max-Weber-Novizen wie Fortgeschrittenen gleichermaßen etwas zu bieten hat.

Hans-Peter Müller: "Max Weber. Eine Spurensuche"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
484 Seiten, 26 Euro.

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