100 Jahre Schlacht von Verdun

Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Erinnerungskultur?

Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Hollande enthüllen eine Gedenktafel für die Opfer der Schlacht von Verdun.
Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Hollande enthüllen eine Gedenktafel für die Opfer der Schlacht von Verdun. © picture-alliance / dpa / Philippe Wojazer
30.05.2016
Bei Verdun wurde auch der deutschen Opfer dieser Schlacht im Ersten Weltkrieg gedacht. Das sei außergewöhnlich und zeige das Engagement des französischen Präsidenten für eine gemeinsame Erinnerungskultur, meint unser Kommentator Jürgen König. Auf deutscher Seite sieht er aber noch Handlungsbedarf.
Es ist alles andere als Gedenkroutine. Es ist außergewöhnlich, wenn zum 100. Jahrestag des Beginns der Schlacht von Verdun Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident François Hollande auf der deutschen Kriegsgräberstätte in Consenvoye bei Verdun Kränze niederlegen und damit gemeinsam auch der deutschen Opfer gedenken.

Verdun als zentraler Mythos der französischen Erinnerungskultur

Denn die "Schlacht von Verdun" gehört zu den zentralen Mythen französischer Erinnerungskultur. Man hat 1916 das Durchkommen der Deutschen verhindern wollen und hat es auch - unter unvorstellbar großen Opfern - tatsächlich verhindern können. La "Grande Guerre", der Große Krieg, wurde gewonnen, wird in Ehren gehalten als Symbol des nationalen Widerstandes, auch des nationalen Zusammenhalts.
Anders als in Deutschland wird die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Frankreich wach gehalten. Viele Spuren des Krieges sind immer noch sichtbar: die weit ausgedehnten Schlachtfelder, die großen Soldatenfriedhöfe, die vielen Gedenktafeln in den Städten, in so gut wie allen Familien kursieren noch Briefe und Tagebücher von den Groß- oder Urgroßeltern. Vereine und Verbände kümmern sich um den Erhalt von Denkmälern und Kriegsschauplätzen, in der Schule wird das Thema intensiv behandelt. Der 19. November, der Tag des Waffenstillstands von 1918, ist ein nationaler Feiertag.
Die deutsche Perspektive, das Leiden deutscher Soldaten, hatte in diesem Empfinden, in diesem Denken jahrzehntelang keinen wirklichen Platz. Das "Mémorial de Verdun" war 1967 als ein zentraler Gedenkort für die gefallenen Franzosen konzipiert und gebaut worden: eine Weihestätte der Veteranenverbände. Daraus wurde unter der Präsidentschaft Francois Hollandes eine mit modernsten medialen Mitteln arbeitende deutsch-französische Erinnerungsstätte – die den Blick nicht mehr nur auf eigenes Leid und eigene Größe richtet, sondern das Leid der Deutschen einbezieht und die Schlacht von Verdun aus zweierlei Perspektive dokumentiert: um jungen Leuten aus ganz Europa zu vermitteln, was damals geschehen ist.

Aktive Erinnerungspolitik im Dienst der Nation

Das muss vielleicht nicht unbedingt mutig genannt werden, bedeutet aber doch für viele Franzosen eine erhebliche Weiterung des traditionellen Geschichtsverständnisses und -bewusstseins. Auch die lockere, unfeierliche Nicht-Zeremonie, die der von Francois Hollande beauftragte deutsche Filmregisseur Volker Schlöndorff mit 4000 Jugendlichen auf dem Gräberfeld von Verdun inszenierte, dürfte bei nicht wenigen Franzosen auf Unverständnis, wenn nicht Ablehnung stoßen.
Francois Hollande betreibt eine sehr aktive Erinnerungspolitik, gerade, was den Ersten Weltkrieg angeht. Das tut er auch, um, nach eigenen Worten, die Franzosen daran zu erinnern, "wie stark eine Nation sein kann, wenn sie zusammenhält" - eine Botschaft, die ihm nötig zu sein scheint angesichts der Wirtschaftskrise und der sozialen Konflikte im Land.
Aber unübersehbar ist darüber hinaus Hollandes Wille, den Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur zu bereiten, mit dem "couple franco-allemand", dem "französisch-deutschen Paar" im Zentrum. Dafür ist er nicht genug zu loben.

Wo waren die hochrangigen Gäste aus Berlin?

Zu fragen ist, ob dieses Engagement auf deutscher Seite wirklich wahrgenommen und angemessen gewürdigt wird. Die Franzosen sind misstrauisch: Dass jetzt bei der offiziellen Begrüßung der 4000 Jugendlichen am Freitag in Verdun zwar hochrangige Politiker aus Paris, aber niemand aus Berlin angereist war, sorgte durchaus für Enttäuschung; offiziell nicht geäußert, war sie hinter den Kulissen sehr wohl spürbar.
Und zu hören war auch der Satz, schon die Handreichung zur Versöhnung, jene berühmte Geste zwischen dem Bundeskanzler Helmut Kohl und dem französischen Präsidenten François Mitterrand im September 1984, sei doch in Deutschland weitaus weniger intensiv beachtet worden als in Frankreich – was stimmt.
Bundeskanzlerin Merkel rief heute dazu auf, die gemeinsame Erinnerung "auch künftig wachzuhalten", um Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und "damit dann eine gute Zukunft gestalten." Recht hat sie – doch der Blick auf die französischen Aktivitäten zeigt: Handlungsbedarf besteht hier vor allem auf deutscher Seite.
Mehr zum Thema