100 Jahre politischer Mord in Deutschland

Primaner gegen die Republik

06:07 Minuten
Ein Blick in den Speisesaal der damaligen preußischen Hauptkadettenanstalt im Jahr 1900.
Ein Blick in den Speisesaal der damaligen preußischen Hauptkadettenanstalt - Fotopostkarte, um 1900. © picture alliance / akg-images
Von Elke Kimmel · 06.04.2022
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Widerstand gegen die neugegründete Weimarer Republik gab es auch im Bildungssystem. Etwa an der ehemaligen Hauptkadettenanstalt des Kaiserreichs. Zwar wurde sie 1920 unter neuer Leitung reformiert, doch viele alte Schüler und Lehrkräfte blieben.

"Die Relegierten in Lichterfelde.

Von der Liste der 41 relegierten Primaner an der staatlichen Bildungsanstalt in Lichterfelde sind zwei sofort wieder gestrichen worden, weil sich ihre Unschuld herausgestellt hat. An der Relegierung der übrigen 39 hält das Kultusministerium fest."

Aus dem "Vorwärts" vom 7. April 1922

So berichtet der sozialdemokratische "Vorwärts" am 7. April 1922 vom vorläufigen Ende eines aufsehenerregenden Skandals. Die Lichterfelder Bildungsanstalt ist die Nachfolgerin der am selben Ort ansässigen königlich-preußischen Hauptkadettenanstalt, an der die militärische Elite des Kaiserreichs ausgebildet wurde.

Neue Leitung, alte Schüler

Nach den Regelungen des Friedensvertrags von Versailles wird die Anstalt im Frühjahr 1920 geschlossen, eröffnet aber schon im Mai 1920 als zivile staatliche Bildungsanstalt unter neuer Leitung wieder. Das preußische Kultusministerium setzt einen Schulreformer als Rektor ein, die Lehrer und Schüler aber bleiben entgegen der ursprünglichen Planung überwiegend die alten, nur wenige neue kommen hinzu.

100 Jahre politischer Mord in Deutschland
Eine Sendereihe über mörderische Demokratiefeindschaft und ihre Hintergründe von Deutschlandfunk Kultur in Kooperation mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (Potsdam) - immer mittwochs gegen 19.25 Uhr in den "Zeitfragen".

Schon bei der Eröffnung zeigen sich tiefgreifende Widersprüche zwischen dem reformpädagogischen und demokratischen Bildungsanspruch der Schulleitung und den überwiegend monarchistisch geprägten Schülern.

Versuch, Republikfahne herunterzureißen

Die Jugendlichen versuchen, die schwarz-rot-goldene Fahne der Republik herunterzureißen. Als im April 1921 eine Gedenkfeier für die verstorbene Kaiserin Auguste-Viktoria veranstaltet wird, beschwört der ehemalige Kadettenpfarrer den alten Geist:

"Die Kadettenhäuser selbst haben uns die Entente und die Vaterlandsverräter nehmen können, aber der Geist, der ihren Zöglingen eingeimpft worden ist, bleibt bestehen und pflanzt sich fort auf Kinder und Kindeskinder."

Schikane und Selbstverwaltung

Tatsächlich lebt dieser Geist in dem Gymnasium im bürgerlichen Berliner Stadtteil Lichterfelde fort. Neben der schulischen Bildung durch die Lehrkräfte existiert auch weiterhin eine Art Selbstverwaltung in den Wohnunterkünften. Kontrolliert wird sie durch sogenannte "Hausdamen" – meist junge Frauen ohne pädagogische Vorbildung, aber mit adeligem Hintergrund.
Die Abiturienten schikanieren die jüngeren Schüler fast ungehindert. Und Feiertage aus der Kaiserzeit wie "Kaisers Geburtstag" oder Sedanstag werden mit dem Absingen von "Deutschland, Deutschland über alles" und "Heil dir im Siegerkranz" begangen.

Anfeindungen gegen "Hausdame"

Bei den Feiern zur "Reichsgründung" am 18. Januar 1922 kommt es zum Eklat, weil eine der Hausdamen Einhalt gebieten will. Der "Vorwärts" berichtet am 15. März:

"Im weiteren Verlauf kam es am 16. Februar zu einer Art Palastrevolution, bei der die Primaner gegen die Hausdame vorgingen, und es wäre wohl sogar zu Tätlichkeiten gekommen, wenn nicht ein jüngerer Lehrer und zwei Schüler die Dame in Schutz genommen hätten. Auch so hagelte es unflätige Schimpfworte, und der unerträglichen Szene wurde mit Mühe ein Ende bereitet."

Die ehamalige Hauptkadettenanstalt um das Jahr 1934. Ab dem Jahr 1933 nutzten sie die Nationalsozialisten wieder für millitärische Zwecke.
Die ehamalige Hauptkadettenanstalt um das Jahr 1934. Ab dem Jahr 1933 nutzten sie die Nationalsozialisten wieder für millitärische Zwecke. © picture alliance / arkivi
Auch die konservative "Berliner Börsenzeitung" zeigt sich am 15. März entsetzt:

"Schon ein oder zwei Tage darauf zeigte ein neuer Vorfall, daß dieses Vorkommnis kein vereinzeltes war: Bei einem Schülerabend wurde nach einer bekannten Operettenmelodie im Chor ein rohes und beschimpfendes Lied gegen dieselbe Hausdame gesungen, sodaß es im Obergeschoß gehört werden konnte. Diese und andere Vorfälle der letzten Wochen haben schließlich zu durchgreifenden Maßnahmen genötigt."

Schulverweise und Diskussionen um Schulschließung

Der Schulverweis für die hauptsächlich beteiligten Schüler sei unumgänglich, meint die "Börsenzeitung":

"Nur so erschien es, angesichts der ganz ungewöhnlichen dauernden Disziplinlosigkeiten, denen die Anstaltsleitung machtlos gegenüberstand, möglich, ohne eine Schließung der Anstalt, die einen noch größeren Kreis von Eltern und Schülern betroffen hätte, die Autorität der Schulleitung sicherzustellen."

Für die betroffenen Schüler heißt das, dass sie in Preußen keinen Schulabschluss mehr machen können. Zeitweise wird gar über die Schließung der Schule öffentlich diskutiert.

Verbindungen zum Rathenau-Mord

Das Lichterfelder Gymnasium ist indes kein Einzelfall: So weigern sich im bürgerlichen Berliner Süden die Schüler des Steglitzer Gymnasiums 1919, gemeinsam mit dem ältesten Sohn des ermordeten Kommunisten Karl Liebknecht die Schule zu besuchen und werden dabei von der Schulleitung gedeckt.

Als in demselben Gymnasium der Gymnasiast Ernst Stubenrauch im April 1922 wiederholt öffentlich davon redet, er werde den Außenminister Walther Rathenau erschießen, schreitet die Schulleitung nicht ein. Zwei Jahre zuvor hat der Oberprimaner Oltwig von Hirschfeld versucht, Matthias Erzberger zu erschießen. Es hätte Gründe gegeben, solche Ankündigungen ernst zu nehmen.

Ernst Stubenrauch lässt nur deshalb von seinem Vorhaben ab, weil ihn die späteren Mörder davon überzeugen, dass sie selbst dies tun werden. Ein anderer Schüler wird wenig später am Attentat auf Rathenau beteiligt sein. Es ist der Gymnasiast Hans Gerd Techow. Ernst von Salomon, Jahrgang 1902, hatte die Lichterfelder Kadettenanstalt bis 1918 besucht. Auch er gehört zu den Mittätern beim Rathenau-Mord.
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