100 Jahre politischer Mord in Deutschland

Eine Massenorganisation in der völkisch-rassistischen Szene entsteht

04:28 Minuten
Veste Coburg in Bayern hinter Bäumen im Winter
Burg im bayrischen Coburg: Hier fanden in den 1920er-Jahren Treffen völkischer Verbände statt. © picture alliance / Horst Schunk
Von Elke Kimmel · 20.10.2021
Audio herunterladen
Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte es völkisch-antisemitische Parteien und Vereine in Deutschland gegeben. Danach erhalten sie neuen Auftrieb. So entsteht aus dem "Alldeutschen Verband" 1919 der einflussreiche Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund.
Die Zeitung der unabhängigen Sozialdemokraten "Die Freiheit" weist in ihrer Ausgabe vom 12. Oktober 1921 auf folgende Veranstaltung hin: "Der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund hält alljährlich einen Deutschen Tag ab, der im vorigen Jahr in Weimar stattgefunden hat und dieses Jahr vom 14. bis 16. Oktober in Detmold abgehalten werden sollte."
Die propagandistische Wirkung sei allerdings beschränkt, weil in Detmold Veranstaltungen unter freiem Himmel von den Behörden verboten sind. 1919 ist der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund in Hamburg gegründet worden, 1921 ist er mit fast 150.000 Mitgliedern eine Massenorganisation, die einflussreichste Gruppierung in der stark zersplitterten völkisch-rassistischen Szene.

"Bekämpfe das Judentum!"

Von seinen Mitgliedern verlangt der Bund den Nachweis "arischer" Abstammung, sein Vereinssymbol ist das Hakenkreuz. Mit seinen millionenfach gedruckten Aufklebern, Broschüren und Flugblättern verbreitet er sehr erfolgreich radikal völkisch-antisemitische Propaganda.
Die elfte der "Lebensregeln" für seine Mitglieder lautet: "Soweit es Deine Lage gestattet, bekämpfe das Judentum auch öffentlich und lasse keine Gelegenheit vorübergehen, Volksgenossen über seine Schädlichkeit im völkischen Leben aufzuklären."

100 Jahre politischer Mord in Deutschland
Eine Sendereihe über mörderische Demokratiefeindschaft und ihre Hintergründe
Zeitfragen, immer mittwochs gegen 19.25 Uhr
Eine Kooperation von Deutschlandfunk Kultur mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (Potsdam)

Alle Lebensbereiche sind den antisemitischen Maximen des Bundes unterzuordnen. Vor allem bei den jüngeren Angehörigen der "Frontgeneration" des Ersten Weltkriegs kommt der Schutz- und Trutzbund gut an. Demokratische und linke Politiker werden als "verjudet" bezeichnet und gegen sie wird hemmungslos gehetzt. Sowohl die Mörder von Matthias Erzberger 1921 als auch die Rathenau-Mörder 1922 sind Mitglieder des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes.

Begeisterung für den Redner Adolf Hitler

Nach dem Mord an Walther Rathenau im Juni 1922 wird die Vereinigung durch das Republikschutzgesetz in weiten Teilen des Deutschen Reichs verboten, nicht aber in Bayern und Württemberg. Im fränkischen Coburg findet im Oktober 1922 ein weiterer "Deutscher Tag" statt – dieses Mal unter Beteiligung der Nationalsozialisten.
SA-Gruppenfoto beim "Deutschen Tag" in Coburg am 14. Oktober 1922, einem Treffen völkischer Verbände
SA-Gruppenfoto in Coburg: Der "Deutscher Tag" findet 1922 unter Beteiligung der Nationalsozialisten statt.© picture-alliance / akg-images
Die nationalistische "Coburger Zeitung" berichtet: "Besonders die Ansprachen Adolf Hitlers von der ‚Nat.-soz. deutschen Arbeiterpartei München‘ lösten helle Begeisterung und stürmischen Beifall aus. […] Die Rückfahrt der Südd. Teilnehmer an der Tagung erfolgte gestern abends nach 10 Uhr mittels Extrazug. In strammem Schritt ging es unter den Marschklängen der Musikkapelle, begleitet von einer vielköpfigen Menge Publikum zum Bahnhof, woselbst noch begeisterte Heilrufe den sich verabschiedenden Gästen nachklangen."

Der Abstieg des Schutz- und Trutzbundes

Ein massiver Polizeieinsatz gegen linke Proteste hat in der mehrheitlich sozialdemokratischen Stadt Coburg dazu beigetragen, dass der "Deutsche Tag" ein solcher Erfolg werden konnte. Viele Völkische suchen in der Folgezeit ihre neue politische Heimat bei den Nationalsozialisten, deren Aufmarsch in Coburg sie beeindruckt hat. Unter ihnen auch der einflussreiche Hauptgeschäftsführer des Schutz- und Trutzbundes, Alfred Roth. Er lässt sich 1924 für die Deutschnationale Volkspartei in den Reichstag wählen, wechselt aber 1932 zur NSDAP.
Auch andere später führende Nationalsozialisten wie Julius Streicher oder Werner Best sind zunächst Mitglieder im Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund, der allerdings ab 1924 – nicht zuletzt infolge des Verbots – in der Bedeutungslosigkeit versinkt – während die NSDAP um die Führung im völkischen Lager kämpft.
Mehr zum Thema