100 Jahre politischer Mord in Deutschland

Die Demokratie im Visier

22:47 Minuten
Das Schwarz-weiß-Foto zeigt Adolf Hitler mit den Freikorpsoffizieren Ulrich Graf, Major Buch und Christian Weber in einem offenen Wagen.
In der frühen Weimarer Republik ging politische Gewalt oft von den Freikorps aus. Schon früh hatten die Nationalsozialisten, auch Adolf Hitler, Verbindung zu diesen Gruppen. © picture alliance / dpa / akg-images
Moderation: Winfried Sträter · 25.08.2021
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Seit dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke und den Attentaten auf Kommunalpolitiker wächst die Sorge vor "Weimarer Verhältnissen". Vor 100 Jahren wurden Politiker von Rechtsradikalen gezielt ermordet, um die Demokratie zu destabilisieren.
Sommer 1921. Deutschland ist seit zwei Jahren eine demokratische Republik und beginnt, sich vom Krieg und den Unruhen der Revolutionszeit zu erholen. Auch Matthias Erzberger sucht Erholung bei einem Familienurlaub im Schwarzwald. Als Finanzminister hat der Politiker der katholischen Zentrumspartei eine bahnbrechende Finanzreform für die Republik auf den Weg gebracht. Aber die rechtsradikalen Feinde der Republik hassen ihn, weil er 1918 den Waffenstillstand mit den Kriegsgegnern unterzeichnet und damit das bittere Ende des Krieges besiegelt hat. Nach einer Rufmordkampagne seiner rechten Feinde ist er als Minister zurückgetreten. Zwei Mordanschläge hat er überlebt.
Zur selben Zeit machen sich Heinrich Tillessen und Heinrich Schulz, zwei ehemalige Marineoffiziere, auf den Weg. Im Frühjahr 1921 haben sie sich der geheimen Organisation Consul angeschlossen. Die plant, missliebige Politiker zu ermorden.

Beim Spaziergang im Schwarzwald erschossen

Als Erzberger seinen Schwarzwald-Urlaub angetreten hat, haben auch sie sich in einem Schwarzwald-Gasthof eingemietet. Erzbergers Spaziergang am 26. August soll der letzte vor seiner Rückreise nach Berlin sein. Auf dem Wanderweg sind Erzberger und sein Parteifreund so ins Gespräch vertieft, dass sie die beiden Männer kaum registrieren, von denen sie auf dem Weg überholt werden.
Einer zieht plötzlich seine Waffe und schießt zweimal auf Erzberger, weitere Schüsse treffen seinen Weggefährten Carl Diez. Schwer verletzt versucht Erzberger, sich abseits des Weges in Sicherheit zu bringen und rutscht den steilen Abhang hinunter. Am Fuß einer Tanne bleibt er liegen. Der zweite Attentäter setzt ihm nach und schießt ihm noch zwei weitere Male in den Kopf. Die beiden Mörder fliehen, tauchen zunächst in München unter und entkommen nach Ungarn.

100 Jahre politischer Mord in Deutschland
Eine Sendereihe über mörderische Demokratiefeindschaft und ihre Hintergründe
Zeitfragen, immer mittwochs gegen 19.25 Uhr
Eine Kooperation von Deutschlandfunk Kultur mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (Potsdam)

Die Folgen bis Jahresende:
25.08.21 Der Erzberger-Mord
25.08.21 Reaktionen auf den Mord
01.09.21 Verbot der Hass- und Hetzpresse
08.09.21 Umkämpfte Erinnerung an das Mordopfer Erzberger
15.09.21 Bayern als Rückzugsraum für Republikfeinde [AUDIO UND TEXT]
22.09.21 Rechte Netzwerke
29.09.21 Spektakuläre Rücktritte an der Polizeispitze in München [AUDIO UND TEXT]
06.10.21 Der Mythos Hindenburg und die Dolchstoßlegende [AUDIO UND TEXT]
13.10.21 Die Gewalt von links und die Presse [AUDIO UND TEXT]
20.10.21 Der Deutsch-Völkische Schutz- und Trutzbund [AUDIO UND TEXT]
27.10.21 Brennpunkt Oberschlesien [AUDIO UND TEXT]
03.11.21 Sehnsucht nach der Monarchie [AUDIO UND TEXT]
10.11.21 Umkämpfte Erinnerung an die Revolution [ AUDIO ]
17.11.21 Polizei als Sicherheitsrisiko [AUDIO UND TEXT]
24.11.21 Die Besetzung des Rheinlandes durch alliierte Truppen [AUDIO UND TEXT]
01.12.21 Das erfolglose Verbot der Freikorps [AUDIO UND TEXT]
08.12.21 Fememorde
15.12.21 Der Niedergang des Linksliberalismus
22.12.21 Die juristische Aufarbeitung des Kapp-Putsches
29.12.21 Schwarz-Rot-Gold und Schwarz-Weiß-Rot: der Flaggenstreit

Die Reaktionen auf die Ermordung eines der prominentesten deutschen Politiker seiner Zeit sind nur zum Teil von Entsetzen geprägt. Auf der anderen Seite gibt es auch Verständnis, weil Erzberger angeblich Deutschland geschadet habe. Und in nationalistischen Kreisen kursiert der Reim:
"Nun danket alle Gott
für diesen braven Mord.
Den Erzhalunken scharrt ihn ein,
heilig soll uns der Mörder sein,
die Fahne schwarz-weiß-rot."
Der Erzberger-Mord sollte nicht der einzige bleiben. Anschläge auf führende Politiker folgten, und im Juni 1922 wurde Außenminister Walter Rathenau erschossen. Wie schwach war die Weimarer Republik, dass sie das nicht verhindern konnte? Und wie gefährdet ist die Bundesrepublik heute? Das leuchtet eine Sendereihe in Deutschlandfunk Kultur aus, die in Kooperation mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) erarbeitet wurde und die mit der Erinnerung an den Erzberger-Mord startet.

Auch Kanzler Wirth und Präsident Ebert sollten ermordet werden

Die Weimarer Republik habe sich nach 1921 durchaus gewehrt, betont ZZF-Direktor Martin Sabrow, mit dem Verbot einer extrem radikalen Hetzorganisation. Ein ungelöstes Problem sei aber gewesen, dass sich die Attentäter im Rahmen einer "lizensierten Illegalität" bewegten. Sie verstanden sich als Vertreter des Staates, obwohl sie die politische Ordnung dieses Staates ins Visier nahmen. Mit Hilfe einer Reihe von Attentaten (geplant waren auch Reichskanzler Wirth und Reichspräsident Ebert) wollten sie die Demokratie destabilisieren, einen Aufstand von links provozieren, den sie dann zusammen mit der Reichswehr niederschlagen wollten, um die gewählte Regierung zu stürzen. Diese Pläne scheiterten.
"Insoweit ist der Staat nicht schwach gewesen in dieser Zeit", so der Historiker. "Er konnte am Ende aber auch nicht stärker sein als eine Gesellschaft, die der Demokratie, dem demokratischen Gedanken, nicht so gefestigt folgte, wie wir das heute haben."
Sabrow betont einen wichtigen Unterschied zur Gegenwart: Die Attentäter seien damals keine Desperados gewesen, keine Outlaws, sondern Söhne des "fundiertesten Bürgertums", die sich später auch nicht der Hitler-Bewegung angeschlossen hätten, sondern in ihrem elitären Sonderstatus verharrten. Ihre Taten hätten sie als Opfer am Staat verstanden. Und nach 1945 seien diese Leute in die Bundesrepublik viel leichter integriert worden als die Nationalsozialisten.

Kontinuitäten und Unterschiede rechtsradikaler Gewalt

Mit Blick auf die Gegenwart hebt Sabrow hervor, dass Geschichte sich nicht wiederhole. Allerdings gebe es eine Kontinuität rechtsterroristischer Gewalt und Anschläge, die von der Weimarer Republik über den NS-Terror bis nach 1945 und bis heute reiche. Angefangen mit dem Werwolf bis zu den Wehrsportverbänden, dem Dutschke- und dem Oktoberfest-Attentat und bis zum Lübcke-Mord:
Das ist eine Kontinuität rechtsradikaler Gewalt, die äußerlich durchaus zeigt, wie gefährlich Verschwörungsmythen und Legenden sind.
Sabrow sieht beim Vergleich zwischen der Weimarer und der Bundesrepublik aber auch erhebliche Unterschiede:
Dass die Attentate 1921/22 einem kalkulierten Gewalteinsatz völlig entgrenzter Gewalt entsprangen, aber keine Exzess-Gewalt im eigentlichen Sinne sein wollten. Dahinter stand ein Programm und eine absolute Gleichgültigkeit gegenüber dem menschlichen Leben. Aber nicht die aus einer Depression oder einer Psychose heraus entstehende Gewalt von Einzeltätern.

Staatliche Kumpanei mit den Attentätern gibt es heute nicht

Sabrow sieht im Vergleich zwischen 1921 und 2021 eine "Bedrohungskontinuität, die immer wieder auch aktualisiert werden kann", aber die Unterschiede seien erheblich. Die Kumpanei zwischen staatlichen Vertretern und Attentätern gebe es in der heutigen Institutionenordnung nicht mehr. Und die Gesellschaft verabscheue mehrheitlich die Gewalt von rechts.
Sabrow plädiert für eine "Empfindsamkeit für die Kipp-Gefahren der Demokratie, verbunden mit der Gelassenheit einer Gesellschaft, die sich der demokratischen Werte einer Demokratie ungleich sicherer weiß, als das früher der Fall gewesen ist".
(wist)
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