100 Jahre Heilsarmee auf St. Pauli

Helfen zwischen Sex-Kinos und Bordellen

Das Haus der Heilsarmee in der Talstraße auf St. Pauli.
In den Eingängen der Heilsarmee erleichtern sich häufig Besucher der Reeperbahn. © picture alliance/Georg Wendt/dpa
Von Axel Schröder · 06.12.2018
Essen, Kleider, Haare schneiden: Die "Heilsarmee" auf St. Pauli ist für bedürftige Menschen Anlaufstelle für viele Belange. Und das Ganze im Umfeld der trubeligen Reeperbahn. Das stellt die Mitarbeiter manchmal vor besondere Herausforderungen.
Das rote Leuchtschild über dem Bürgersteig irritiert. Mitten im Hamburger Vergnügungsviertel auf St. Pauli, gegenüber des "Gay-Kinos" und der "Mystery Hall Gay Shopping and Cruising" verkündet die Leuchtreklame: "Jesus lebt". Darunter führen vier Stufen ins 100 Jahre alte Gebäude der "Heilsarmee".
Lennart Küssner macht sein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) bei der "Heilsarmee". Er schließt auf, führt nach oben in den ersten Stock, durch den großen, schon weihnachtlich geschmückten Speisesaal. Hinein in die Küche, in der Jürgen Krämer, im roten "Heilsarmee"-T-Shirt letzte Vorbereitungen trifft: "Hier werden Sachen für den Nachmittag vorbereitet, hier ist unsere Spülmaschine und hier sind schon ein paar fleißige Helfer dabei, die Brote für heute Mittag zu schmieren. Und wir versuchen es unseren Gästen so schön wie möglich zu machen und ihnen auch gute Sachen anzubieten, dass ihnen so richtig das Wasser im Mund zusammen läuft. Heute gibt es eine tolle Suppe. Wir werden von einem Hotel versorgt. Die holen wir dann ab und geben dann den Gästen diese Suppe aus. Heute gibt es Möhren-Kartoffel-Suppe."
- "Können wir mal reingucken?"
- "Ja gerne. Kann ich mal gerne aufmachen. Damit man das ein bisschen bewundern kann. Alles frisch zubereitet. Riecht gut, oder?"
- "Ja, die riecht gut!"
- "Die riecht gut, klar!"

Menschen mit Wertschätzung begegnen

Zwischen 70 und 100 Menschen, einige davon obdachlos, besuchen jeden Tag die "Heilsarmee" auf St. Pauli. Hier bekommen sie eine kostenlose warme Mahlzeit, belegte Brötchen, frisch aufgebrühten Kaffee. Und jeden Mittwoch und Donnerstag können sich die Menschen hier, ebenfalls kostenlos, die Haare schneiden lassen, erzählt Jürgen Krämer. Zusammen mit seiner Frau Kornelia leitet er die Tagesstätte für die Hamburger Bedürftigen.
Ein Mann steht an der Essensausgabe der Heilsarmee auf St. Pauli.
Eine warme Mahlzeit, belegte Brötchen oder heißen Kaffee gibt es bei der Heilsarmee auf St. Pauli.© Deutschlandradio / Axel Schröder
Auch sie packt in der Küche mit an, erklärt, warum die Arbeit hier auf St. Pauli eine Herzensangelegenheit für sie ist: "Zum einen, weil ich, denke ich, ein sehr weites Herz für diese Menschen habe, die auf der Straße leben, die am Rand der Gesellschaft leben. Aber zum anderen ist es auch von meinem christlichen Glauben her begründet. Ich versuche einfach, den Menschen wirklich Gottes Liebe und Wertschätzung entgegenzubringen. Den Menschen, die sonst beschimpft werden oder verachtet werden, überhaupt nicht beachtet werden, wirklich mit Ehrerbietung und Wertschätzung zu begegnen. Und wir merken, dass da eigentlich auch ganz viel zurückkommt."

"Heilsarmee ist eine alte Dame"

In einer halben Stunde, pünktlich um 16 Uhr, öffnet die "Heilsarmee". Wie die Tagesstätte wird auch der Standort insgesamt von einem Ehepaar geleitet. Von Major Anette Janowski und Major Achim Janowski. Beide haben, wie Kornelia und Jürgen Krämer, eine kurze theologische Ausbildung gemacht. Organisiert von der Methodistischen Kirche, der Trägerin der "Heilsarmee". Major Janowski sitzt an einem der modernen Holztische, nicht in Uniform, aber im obligatorische roten "Heilsarmee"-T-Shirt. Janowski erklärt, was es mit den militärischen Rängen auf sich hat:
"Das hat historische Gründe, wie so vieles. Die Heilsarmee ist eine alte Dame. Nicht mehr ganz jung. Ungefähr 150 Jahre alt. Ich selbst bin ein Major der Heilsarmee. Das ist ein Dienstgrad für Offiziere, für die hauptamtlichen Geistlichen der Heilsarmee. Es drückt ein bisschen was aus von Schlagkräftigkeit, von Einsatz, von Kampf manchmal auch. Aber nicht Kampf gegen irgendjemand, sondern Kampf und Einsatz für Menschen, für Gott, für die Welt letztlich."

Erbrochenes, Kot oder Urin in den Eingängen

Und diesen Kampf müsse man eben dort führen, wo die Not besonders groß, wo viele Menschen kein Dach über dem Kopf haben oder nicht genug Geld für einen Kaffee, ein warmes Mittagessen. Natürlich nervt es manchmal, dass die Reeperbahn und die umliegenden Straßen vor allem an den Wochenenden von immer mehr feiernden Touristen heimgesucht werden. Aber mit den Begleitescheinungen haben Janowski und sein Team zu leben gelernt:
"Wir putzen hier sehr viel. Unsere Eingänge sind auch so ein bisschen so eine Art Nischen, was dann offensichtlich bei manchen Menschen zu Missverständnissen führt, dass man sich da aus allen möglichen Körperöffnungen hin entleeren kann und dann Erbrochenes oder Kot oder Urin wegzumachen, ist jetzt keine unserer Lieblingsaufgaben, aber es muss einfach weg. Das macht dann tatsächlich nicht wirklich Spaß."

Putzen, fegen, beten

Zehn Minuten vor vier kommen alle Helferinnen und Helfer nochmal zusammen, sitzen in der Sofaecke hinten im Speisesaal. Erst werden die Aufgaben für den Tag verteilt: der FSJler macht die Küche, die Tagesstättenleiterin Kornelia Krämer putzt die Klos, Major Janowski fegt den Speisesaal. Dann wird gebetet. Jeder, der möchte, spricht ein paar Sätze. Die Augen geschlossen.
"Herr, ich möchte Dir danken, dass es in diesem Jahr so lange so schönes Wetter gab. Und ich möchte Dich bitten, dass jetzt nochmal das Wetter nicht so kalt wird. Und das niemand erfrieren muss. Denk an unsere Gäste, dass sie etwas finden, was nicht allzu kalt ist."
Gleich nach dem Gebet macht sich der FSJler Lennart Küssner auf den Weg nach unten, einen Schlüsselbund in der Hand. Lennart Küssner schließt auf, eine Menschentraube strömt herein, die meisten sind Männer. Und jedem einzelnen wird die Hand geschüttelt.

Bekannte von der Straße treffen

Zurück im Speisesaal im ersten Stock. Die Gäste der Heilsarmee sitzen an den Tischen, hören der kurzen Andacht zu, die Kornelia Krämer hält. Beim Gebet falten einige die Hände, andere nicht. Und bevor es Suppe gibt, klärt die Heilsarmistin noch, wann die nächsten kostenlosen Friseurtermine anstehen und wo es die Einladungen für die Weihnachtsfeier der Einrichtung gibt.
"Heute teilen wir nochmal Karten aus und am Sonntag in der Kaffeestunde ist auch nochmal Kartenausgabe für unsere große Weihnachtsfeier. Morgen Friseur, heute Weihnachtskarten. Ist heute eine lange Liste. Und jetzt wünsche ich Euch einen guten Appetit zusammen."
Die ersten stehen gleich auf, reihen sich ein die Schlange vor der Durchreiche zur Küche, kehren mit vollen, tiefen Plastiktellern zu ihren Plätzen zurück. Einer der Gäste ist Jörg Üsing. Immer Dienstag und Donnerstag ist er hier, an den anderen Tagen arbeitet Üsing in einer Hamburger Behinderten-Werkstatt. Er findet gut, "dass man sich hier reinsetzen kann, Kaffee trinken kann. Hier trifft man Leute, die man auf der Straße zusammen gewesen ist."
"Sie haben mal auf der Straße gelebt? In öffentlicher Unterbringung?" - "In öffentlicher Unterbringung, genau." - "Aber das ist vorbei." - "Ja, zum Glück. Gott sei Dank!" - "War das schwer, da rauszukommen?" - "Ein paar Jahre hat das schon gedauert, da rauszukommen."

Über 70 Prozent Männer

Hans Jürgen Ott ist schon fertig mit der Suppe, holt sich einen Pott Kaffee. Im Gesicht tiefe Furchen, ein krauser, weißer Bart. Auch er kommt zwei Mal pro Woche hierher, mit der S-Bahn aus Pinneberg, um zu reden. "Die Gespräche! Die hat man ja nirgendwo. Wo spricht noch irgendeiner mit Ihnen? In der Heilsarmee. Sonst spricht mit Ihnen niemand mehr. Oder wo können Sie hingehen, Kaffee trinken und Gespräche führen? Wo haben Sie das noch in Hamburg?"
"Worüber spricht man?" - "Über Jesus. Über alles." - "Über Gott und die Welt?" - "Ja. Ich komme hier schon 18 Jahre her."
Hans Jürgen Ott verabschiedet sich, stellt sich an für eine Eintrittskarte für die Weihnachtsfeier. Über 70 Prozent der Gäste sind Männer. Eine der wenigen Frauen, die regelmäßig kommen, ist Monika Schlademann. Seit neun Jahren sind sie und ihr Mann obdachlos, gerade wohnen sie im Winternotprogramm der Stadt. Ansehen tut man ihr das nicht mit ihrer modernen, randlosen Brille, den akkurat frisierten dunklen Haaren.
"Die Schwierigkeit in Hamburg sind die hohen Mieten und in Bereiche zu kommen, wo man auch sozial wieder aufsteigen kann. Denn obdachlos heißt nicht gleich obdachlos. Mensch und Mensch sind unterschiedlich. Und bei uns ist so: wir bringen uns selbst auch noch mit ein, wir helfen ehrenamtlich, wir machen viel mit, wir sprechen auch mit anderen, geben Hilfestellung."
Und natürlich achte sie auf ihr Äußeres, auf ihre Kleidung, die sie ab und zu auch in der Kleiderkammer der Heilsarmee findet. Gleich gegenüber dem Speisesaal. Vor Simone Müller stapeln sich die Altkleidersäcke. Einen nach dem anderen schnürt sie auf, prüft jede Hose, jedes Hemd, jedes Paar Socken.

Dessous und Leder-Hotpants nicht angesagt

"Ich kontrolliere alles hier auf Sauberkeit, Knöpfe sind alle dran, Reißverschlüsse sind in Ordnung. Das ist also ganz, ganz wichtig, damit die Leute hier auch mit Respekt behandelt werden." Die Kleidersäcke werden von den Spendern direkt bei der Heilsarmee abgegeben. Und manchmal, erzählt Simone Müller, kommen die Sachen wohl auch aus der Nachbarschaft im Rotlichtviertel.
Simone Müller sortiert in der Kleiderkammer der Heilsarmee Kleider.
Simone Müller prüft genau, ob die gespendete Kleidung für die Kleiderkammer in Ordnung und sauber ist.© Deutschlandradio / Axel Schröder
"Es gibt so manche Sachen - wir sind ja hier nun mal auf der Reeperbahn - da gibt es auch schon mal die ein oder anderen Sachen, wo man sich überlegt: das ist hier sicherlich erforderlich, aber das sind Sachen, die ich hier auch nicht ausgeben darf: Dessous, wo ich weiß, die Leute möchten die vielleicht auch nicht so privat haben. Leder-Hotpants, Overknee-Stiefel, dass ist hier nicht so das, was angesagt ist."

50 Cent pro Kleidungsstück

In einer Umkleide können die Hosen, Pullover und Hemden anprobiert werden. Bezahlt wird in bar. 50 Cent pro Kleidungsstück. Warum die Sachen nicht umsonst abgegeben werden, erklärt Achim Janowski, der Leiter der Heilsarmee auf St. Pauli. "Es ist nicht ganz geschenkt. Man hat auch seinen eigenen Beitrag dazu geleistet. Wir schicken niemanden weg, der erkennbar kein Geld hat und es ist kalt draußen. Dann gibt es auch was umsonst. Aber ansonsten… Viele sammeln auch Flaschen. Und das sind zwei Pfandflaschen für eine Winterjacke. Das ist, glaube ich, ein fairer Preis. Und so Dinge wie Unterwäsche oder Socken, die gibt es sowieso kostenlos. Aber gerade die auch im Laden hochpreisigeren Dinge, die kosten dann eine Kleinigkeit."

Offenheit und Hilfsbereitschaft in der Stadt

Auch Heiligabend wird die Heilsarmee auf St. Pauli wieder ihre Türen öffnen. Mit viel Unterstützung von Hamburgerinnen und Hamburgern, die den Rest des Jahres kaum etwas mit der Heilsarmee zu tun haben. Für den Leiter des Standorts im Rotlichtviertel Major Achim Janowski hat diese Offenheit und Hilfsbereitschaft auch etwas mit der Stadt und der Mentalität ihrer Bewohner zu tun:
"Ich glaube, das spiegelt auch etwas von der Haltung der Hamburger und dieser Stadt wider. Man hat immer auch mit den Fremden und von den Fremden gelebt, auch davon profitiert, vom Handel, vom Austausch. Und ich glaube, das schlägt sich einfach durch. Dass man feststellt: andere Menschen sind jetzt nicht in erster Linie mal Belastung oder was Unangenehmes, Schlimmes. Sondern da steckt ein Reichtum drin. Da öffnet sich mein Blick, mein Horizont, vielleicht sogar die Brieftasche, wenn ich mit dem Geschäfte machen kann. Von daher: eine eher positive Grundeinstellung dazu." Und deshalb fühlen er und seine Frau sich auch gerade an diesem Standort, trotz des Trubels der Reeperbahn, besonders wohl auf dem Kiez.
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