100 Jahre Groß-Berlin

Als Berlin zur drittgrößten Stadt der Welt wurde

30:12 Minuten
Historische Fotografie mit Blick von der Aussichtsplattform des Roten Rathauses nach Nordost auf die Königstraße und Bahnhof Alexanderplatz, 1910.
Größer, besser, moderner: Berlin wollte schon vor mehr als 100 Jahren Weltstadt sein. © AKG-Images / Berlin, Sammlung Archiv für Kunst und Geschichte / Gebrüder Haeckel
Von Adolf Stock · 30.09.2020
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Am 27. April 1920 wurde aus Charlottenburg, Wilmersdorf, Kreuzberg und anderen Gemeinden Groß-Berlin. Der Weg dorthin war politisch umkämpft. Und bis heute ist das Verhältnis zwischen der Stadt und ihren Bezirken kompliziert.
"Warum ist der Tag so bedeutend?", fragt Jens Bisky, den man nach seinem voluminösen Werk als Berlin-Biografen bezeichnen kann. Der Tag: das ist der 27. April 1920, der Tag, an dem die Preußische Landesversammlung das "Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin" beschloss.
"Weil das, was wir Berlin nennen, da zum ersten Mal zusammenkommt", gibt Bisky selbst die Antwort. "Davor war, wie Korrespondenten aus den Vereinigten Staaten gewitzelt haben, Berlin die Stadt neben Schöneberg und die Stadt neben Charlottenburg. Das gehörte ja alles nicht zusammen, obwohl es de facto zusammengewachsen war."
Wenn man bedenkt, welche politische Bedeutung Berlin hatte, war es grotesk, wie klein diese Stadt damals war. 66 Quadratkilometer: das war ein kleiner Fleck mitten im heutigen Stadtgebiet, weniger als 10 Prozent der heutigen Fläche.
"Berlin ist eben keine Stadt, sondern ein trauriger Notbehelf. Berlin ist ein Conglomerat von Kalamitäten."
Das schrieb 1908 der Dramatiker Frank Wedekind an seinen Kollegen Arthur Holitscher. Und Hugo Preuß, Berliner Stadtverordneter und später Reichsinnenminister in der Weimarer Republik, beklagte eine "kommunale Anarchie": das kleine Berlin, umgeben von Nachbarstädten, die von der Hauptstadt profitierten, aber ihr Eigenleben pflegten und großräumige Stadtplanung abblockten.

1917 gründet sich der "Bürgerausschuss Groß-Berlin"

1912 hatten sich Berlin und einige Nachbargemeinden – darunter Schöneberg und Charlottenburg und der Landkreis Teltow – zum "Zweckverband Groß-Berlin" zusammengeschlossen. Die Verkehrs- und Grünflächenplanung sollte gemeinsam erfolgen. Ein Fortschritt, mehr nicht.
"Darum auf zu den Waffen", befahl Kaiser Wilhelm 1914, aber nicht, weil ihm die Hauptstadt zu eng geworden war, sondern weil das Reich angeblich bedroht war. Für Berlin hieß das: Warten auf bessere Zeiten – die Politik führte anderes im Schilde, als sich um die Zukunftsfähigkeit der Hauptstadt zu kümmern.
Mit einer Zeichnung von Käthe Kollwitz wirbt 1912 der Ausschuss "Für Gross-Berlin" für eine öffentliche Versammlung.
Mit einer Zeichnung von Käthe Kollwitz wirbt 1912 der Ausschuss "Für Gross-Berlin" für eine öffentliche Versammlung.© picture-alliance / dpa-Bildarchiv
Allerdings gründeten mitten im Krieg – 1917 – Alexander Dominicus, Bürgermeister der Nachbarstadt Schöneberg, und sein Berliner Kollege Adolf Wermuth den "Bürgerausschuss Groß-Berlin". Die Initiative sollte der Forderung nach einer Großgemeinde in einem 20-Kilometer-Radius um Berlin Nachdruck verleihen.
"Ganz zentral ist Adolf Wermuth, der damalige Bürgermeister von Berlin, der hat auch Erinnerungen hinterlassen, 'Aus einem deutschen Beamtenleben' heißen die, und so wie sie heißen, sind sie auch geschrieben", sagt Jens Bisky. "Sehr nüchtern wird da Punkt für Punkt seiner Karriere durchgegangen. Und er hat versucht, das normale städtische Leben einfach weiter aufrechtzuerhalten. Und der kümmert sich jetzt gemeinsam mit Dominicus aus Schöneberg darum, diese Groß-Berlin-Idee, dieses Projekt voranzubringen."
Der parteilose Politiker Adolf Wermuth war von 1902 bis November 1920 Oberbürgermeister der Stadt Berlin. Als Vorsitzender des Deutschen Städtetages war er ein weltgewandter Mann, der schon 1888 und 1893 in seiner Funktion als Reichskommissar die deutschen Beiträge der Weltausstellungen in Melbourne und Chicago gemanagt hatte.
"Der Kaiser hat abgedankt. Er und seine Leute sind verschwunden. Über sie alle hat das Volk auf der ganzen Linie gesiegt."
Als Philipp Scheidemann 1918 in einem Fenster des Reichstages stand, schaute er auf eine unübersehbare Menschenmenge, aber die Hauptstadt der Novemberrevolution existierte immer noch in ihren überschaubaren Grenzen.
"Dann kommt es nach der Abdankung und der Flucht des Kaisers zur Revolution, wo die Stadtgesellschaft sich auch sofort spaltet und wo im Zentrum, um den Reichstag herum, um das Schloss, Unter den Linden relativ schnell eine Atmosphäre der Gewaltsamkeit entsteht", sagt Berlin-Biograf Bisky. "Da waren plötzlich Waffen, und es gibt so dieses desperadohafte Verhalten auf den Straßen. Zur gleichen Zeit kann man aber in Schöneberg oder in Charlottenburg in eine Bar gehen und sich eine Revue anschauen und dort ein ganz normales Leben genießen, und das prägt die Stadt."
In den unruhigen Zeiten von Revolution und Konterrevolution.
"Ganz schlimm ist es 1919, wenn die Weißen Truppen nach Lichtenberg gehen und dort einfach die Leute abknallen. Das ist richtig Terror, staatlich geduldeter Terror, der auch nie juristisch aufgearbeitet worden ist."
Nach Krieg und Gewalt herrschte in Berlin große Ratlosigkeit und das Gefühl, man müsse einen Neuanfang wagen.
Philipp Scheidemann steht an einem Fenster und richtet sich an eine im Bild nicht sichtbare Masse.
Philipp Scheidemann ruft am 9. November 1918 die Republik aus - das Foto wurde allerdings zehn Jahre später nachgestellt.© picture-alliance / akg
Für den Stadtforscher Benedikt Goebel steht fest: Ohne die revolutionäre Stimmung im April 1920 hätte es Groß-Berlin nicht gegeben.
"Man kann schon ganz zynisch werden, dass wir überhaupt solche grundsätzlichen Verwaltungsreformen vielleicht nur noch kriegen in Bürgerkriegssituationen, weil es ja in unserer heutigen Gegenwart unmöglich zu sein scheint, grundsätzliche Verwaltungsreformen ins Werk zu setzen", sagt Goebel. "Und so war es ja auch lange gewesen vor dem Ersten Weltkrieg. Also kein glückliches Zeitfenster, aber überhaupt ein Zeitfenster in allerschwerster Zeit war es damals aus meiner Sicht, mit den bekannten Auswüchsen vom Kapp-Putsch und Freikorps-Verbänden in der Stadt."

Im Juni 1918 erreicht die Spanische Grippe die Stadt

Der verlorene Krieg und die Revolution änderten die politische Stimmung in Berlin. Hinzu kam die Spanische Grippe mit weltweit geschätzt 50 Millionen Menschen Opfern. Im Juni 1918 erreichte das Virus Berlin und verbreitete sich schnell.
"Am Dienstag hat Karl hundert Grippekranke. Er selbst wird krank am Mittwoch", schrieb Käthe Kollwitz, deren Mann eine Arztpraxis in Prenzlauer Berg hatte. 1920 ebbten die Wellen der Grippe ab.
"Zugleich beginnt dann aber so etwas wie das Gefühl: Ja, jetzt ist eine neue Zeit, jetzt fangen wir an", sagt Jens Bisky. "Es gibt Leute, die betrauern den Untergang des Alten, die betrauern den verlorenen Krieg. Man hat ja immer gesagt, all die Opfer lohnen sich für irgendetwas. Die Opfer sind gebracht worden. Sie haben sich nicht gelohnt. Die alten Autoritäten sind weg, oder man hört ihnen nicht mehr genau zu. Und in diesem Moment, in diesem Moment wird es möglich, Groß-Berlin zu bilden und dieses Gesetz im Preußischen Landtag zu verabschieden."
1930 schreibt der Stadtplaner und Architekturkritiker Werner Hegemann im Rückblick über die damalige Situation:
"Auch die endliche Einigung Berlins, 1920, war eine Errungenschaft des Krieges. Er hat schon 1915 mit der Brotkarten-Gemeinschaft die eigentliche erste Sitzung des Großberliner Magistrats zusammengeführt. (...) Vorrübergehend vermochte wenigstens der Krieg preußischen Staatsmännern klarzumachen, wie gemeinschaftsschädigend und abenteuerlich die Großberliner Unordnung war, die der preußische Staat aus Angst vor einer geeinten mächtigen Hauptstadt durch immer neue Vermehrung seiner zuverlässig hemmenden Sicherheitsmaßnahmen, (…) aufgebaut hatte."

Auf kommunaler Ebene war jeder sich selbst der Nächste

Bis zum Hauptstadtbeschluss der Preußischen Landesversammlung am 27. April 1920 hatte das kleine Berlin sieben Nachbarstädte, 59 Nachbargemeinden und 72 Gutsbezirke.
"Was hält die Leute damals davon ab zu sagen: Wir tun uns zusammen und machen Groß-Berlin?", fragt Jens Bisky. "Also Charlottenburg, Riesenstadt, wahrscheinlich die am schnellsten wachsende Stadt im Kaiserreich in dieser Zeit. Charlottenburg und Berlin waren mit den Straßenzügen komplett verwachsen. Nur die Straßenschilder hatten irgendwie unterschiedliche Farben. Warum gehen die nicht zusammen? Das ist ja unvernünftig, man hatte überall diese Konzentrationsprozesse, und eigentlich war der ganze Zeitgeist auf Zusammenfassung, auf Großunternehmen ausgerichtet wie die AEG."
Auf kommunaler Ebene war sich jeder selbst der Nächste. Gemeinden, denen es wirtschaftlich gut ging, wollten ihre Privilegien behalten. Selbstbewusste Wilmersdorfer oder Charlottenburger hatten kein Interesse, "Muss-Berliner" zu werden. Eine Situation, die Benedikt Goebel so erklärt:
"Wenn man jetzt in den Gebieten Neukölln oder Friedrichshain, Lichtenberg, Wedding, Moabit wohnte, dann gab es da sehr viele Menschen, die der Öffentlichkeit zur Last fielen und die erhebliche Steuersätze notwendig machten. Stelle man sich vor, man wäre wohlhabend gewesen in dieser Zeit, der späten Kaiserzeit. Und wäre man dann nicht in diese besseren Quartiere nach Westen gezogen? Also hätte man in den schlechteren Arbeitervierteln wohnen mögen, bleiben mögen, um dort seine Steuerlast zu erhöhen?"
Jens Bisky ergänzt: "Frohnau hat damit geworben, dass es Umsatzsteuer erlässt, damit Menschen dorthin ziehen und quasi steuerfrei in Frohnau leben. Das war extrem ungerecht, weil natürlich niemand nach Frohnau gezogen ist, um in Frohnau allein zu sein, sondern wegen der Nähe zur großen Stadt. Und zum anderen war Berlin damals ein Zentrum der Sozialdemokratie. Und weder die Steglitzer noch die Charlottenburger noch die Wilmersdorfer hatten viel Lust, in der Selbstverwaltung sich mit starken Sozialdemokraten auseinanderzusetzen."
Charlottenburg Berlin, Schloss, Brücke, Mausoleum, Wilhelm-Platz mit Rathaus 
Berlin-Charlottenburg: das Schloss, Brücke Mausoleum und der Wilhelm-Platz mit Rathaus.© imago stock/Arkivi
"Mit Groß-Berlin werden wir uns in allen entscheidenden Fragen dem Diktat des roten Berliner Magistrats fügen müssen", fürchteten die eher konservativ geprägten wohlhabenden Nachbarn, die auf ihre Selbstständigkeit pochten. Schon deshalb sprossen überall neue Rathäuser wie Pilze aus dem Boden. Mit ihnen sollte kommunale Eigenständigkeit demonstriert werden. Etwa mit dem prächtigen Rathaus Charlottenburg der Architekten Süßenguth und Reinhardt, die auch für Spandau, Treptow und Steglitz Rathäuser bauten. Oder, ein besonders drastisches Beispiel, der nicht realisierte Wettbewerb für das Rathaus Wilmersdorf: Das Amtshaus sollte repräsentativer als das Hamburger Vorbild werden, man hoffte, mit dem Dresdner Rathaus gleichzuziehen.
"Wenn Sie durch Berlin gehen und sich diese Rathäuser anschauen, ob in Lichtenberg, in Köpenick, in Schöneberg, selbst im winzigen Friedenau, dann sind die groß, als ob da die Botschaft einer Mittelmacht, die Botschaft Frankreichs, Platz finden müsste", so Bisky. "Neben den Rathäusern können Sie es an der kuriosesten U-Bahnlinie Berlins feststellen, die von der Hauptstraße bis in die Nähe des Nollendorfplatzes führte, heute Innsbrucker Platz bis Nollendorfplatz, die ist in der erstaunlich schnellen Bauzeit von zwei oder zweieinhalb Jahren fertig geworden. Die ist aber lächerlich kurz. Es ist ein kommunales Verkehrsprojekt der stolzen Kommune Schöneberg, die hier zeigt, wir können das auch. Wir machen das allein."

Bloß nicht werden wie Paris

Im 19. Jahrhundert hatte die Industrialisierung Berlin und sein Umland grundlegend verändert. Alte feudale Strukturen, Gutshöfe mit frondienstpflichtigen Bauern, verschwanden und wurden nach und nach durch bürgerlich-kommerzielle ersetzt.
Wachstum und Strukturwandel ließen weltweit die Städte explodieren. Überall wurde nach Wegen gesucht, den Bevölkerungszuwachs städtebaulich und sozial in geordnete Bahnen zu lenken. Bei dieser Entwicklung stand, so Benedikt Goebel, Paris an vorderster Front.
"Paris war das Schreckbild für die Preußen und die Berliner Stadtväter. Ich habe das in Akten immer wieder gefunden, dass sie sagen, auf gar keinen Fall, machen wir Embellissement, Stadtverschönerung à la Paris. Das ist ja wahnsinnig teuer, und wir sind in Preußen sparsam und pragmatisch, und wir machen das ganz, ganz anders. Bei uns kostet es nur einen Bruchteil, und es ist viel besser."
In Paris blieb die Stadt, wie sie war. Zwar hatte Baron Haussmann große Schneisen durch die historischen Viertel gebrochen und mit den neu entstandenen Boulevards die Stadt monumentalisiert und modernisiert, aber dazwischen blieben die kleinen Straßen mit den barocken Häusern bestehen, und diese urbane Vielfalt macht bis heute den Reiz von Paris aus.
"In Berlin, da hat man immer alles abgebrochen", sagt Goebel. "Mit Hilfe von neuen Straßen, Straßenverbreiterungen, Fluchtlinien-Politik. Und wollte aber die ganze alte Stadt loswerden und hat das meistens auch geschafft. Die haben noch ein bisschen den Zweiten Weltkrieg als Unterstützung gebraucht, und dann war die ganze alte Stadt in Berlin ja weg. Und in Paris hat man sie noch, und deswegen ist Paris auch so lebendig und so urban."
In Berlin wurde nicht nur viel abgerissen, es wurde auch viel gebaut. Am Stadtrand, im Umland und in und zwischen den Nachbargemeinden wuchs die Mietskasernenstadt unaufhaltsam. Es gibt die berühmten Fotos von Heinrich Zille, Bilder aus Charlottenburg, wo im Vordergrund gebückte Frauen Reisigkarren ziehen, während im Hintergrund unaufhaltsam die Mietskasernen dem Betrachter entgegen wachsen. Damals schrieb der Historiker und Reichstagsabgeordnete Heinrich von Treitschke über die neuen Bewohner.
"Eine zusammengewürfelte Menschenmasse, die noch nicht heimisch geworden ist, lebt eingeengt in unerschwinglich teuren Wohnungen: noch fehlen fast alle Hilfsmittel entwickelten Verkehrs, welche allein dieses bedrängte Leben wieder zur Natur zurückführen könnte."

Nur London und New York hatten mehr Einwohner

Der 27. April 1920 bildete die Zäsur in der Stadtplanung des Ballungsraums Berlin: Das "Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin" wurde in dritter Lesung in die Preußische Landesversammlung eingebracht.
"Alle Probeabstimmungen liefen schief, und dann wurde noch daran gefeilt", sagt Benedikt Goebel. "Und auch dieser Terminus Groß-Berlin: ‚Groß‘ wurde herausgenommen aus der Formulierung, weil er so viel Widerstände hatte in der Preußischen Landesversammlung. Mit diesen kosmetischen Änderungen am Gesetz und dem Zugeständnis von weitgehenden Rechten an die neu zu bildenden Bezirke war es dann möglich, mit einer sehr knappen Abstimmung im April das Groß-Berlin-Gesetz, ohne dass da groß der Titel stand, zu realisieren."
164 zu 148 Stimmen – die Mehrheit war denkbar knapp: 16 Stimmen. Fast genauso knapp wie 1991, als der Bundestag in Bonn für den gesamtdeutschen Regierungssitz in Berlin votierte – mit 18 Stimmen Mehrheit. Flächenmäßig wurde Berlin nach Los Angeles 1920 zur zweitgrößten Stadt der Welt. Und mit knapp vier Millionen Einwohnern rückte Berlin in der Bevölkerungsstatistik auf Platz drei. Nur London und New York hatten mehr Bewohner. Benedikt Goebel:
"Den Bezirken musste 1920 vor der Abstimmung im April zugestanden werden, dass sie recht viel Autonomie behalten, da sonst die Unterschriften nicht erfolgt wären. Und dann wurde bestimmt, dass in den nächsten Jahren eine Kommission einzusetzen sei, die das nochmal überarbeitet, um die Verwaltung effizienter zu machen. Und dazu ist es dann durch Inflation, Weltwirtschaftskrise und die Machtübertragung an den Nationalsozialisten nicht mehr gekommen. Und diesen Webfehler von 1920 haben wir immer noch im Gewebe dieser Stadt, dass diese Zweistufigkeit der Berliner Verwaltung ein Effizienzproblem darstellt."
Die Folgen sind bis heute spürbar. Die Frage nach einer effektiven Verwaltung, nach dem Verhältnis zwischen Bezirk und Zentralmacht, ist nach wie vor ungeklärt.
Trotzdem, urteilt der Berlin-Biograf Jens Bisky:
"Ich glaube schon, dass es sehr vernünftig gewesen ist, Groß-Berlin zu bilden, weil sowas wie Selbstverwaltung irgendwie zu den Strukturen der Wirklichkeit passen muss. Und es ist einfach absurd, dass da eine Straße ist, die zu verschiedenen Kommunen gehört. Dass, beliebtes Beispiel damals, es Teiche gab, in dem die eine Kommune ihre Abwässer eingeleitet hatte, und eine andere hat da das Trinkwasser daraus bezogen. Das sind ja die Folgen dieser kommunalen Zersplitterung gewesen, also kommunale Zersplitterung ist Unsinn, wenn in der Wirklichkeit die Strukturen zusammengewachsen sind."

Berlin wollte Weltstadt sein

Groß-Berlin ermöglichte viele Projekte der öffentlichen Infrastruktur - wie die Volksparks oder das Strandbad Wannsee. U-Bahnen wurden gebaut und die S-Bahn wurde elektrifiziert.
"Ein Riesenfortschritt war bestimmt der Einheitsfahrschein in den zwanziger Jahren, dass man in diesem großen Stadtgebilde mit einem Ticket alle Verkehrsmittel benutzen konnte", so Stadthistoriker Benedikt Göbel.
Und Jens Bisky erinnert an beherzte Kommunalpolitiker:
"Nur um zwei Beispiele zu geben. Sie haben einmal den wunderbaren Stadtbaurat Martin Wagner, der seine eigenen architektonischen Vorstellungen hat, die Idee hat, jede Generation müsse ihre eigene Stadt erfinden und Berlin müsse jetzt mal ganz modern werden. Deswegen errichtet er die Siedlungen mit seinen Architekturfreunden, deswegen lässt er den Alexanderplatz umbauen, wovon dann Alfred Döblin in ‚Berlin Alexanderplatz‘ erzählt. Das ist die eine Seite, das andere ist der Verkehrsstadtrat Ernst Reuter, später berühmt als Bürgermeister West-Berlins, der damals das Riesenunternehmen, die BVG gründet, und dem ist viel gelungen."
auf einer alten Schwarzweiß-Fotografie sind Industriegebäude in der Siemensstadt in Berlin zu sehen.
Berlin war einst eine Industriestadt, davon zeugt etwa die Siemensstadt in Berlin-Spandau (Aufnahme von 1912)© imago / Arkivi
Zum ersten Mal habe Berlin kommunalpolitische wirklich großen Ehrgeiz entwickelt, betont Bisky. "Das übertreiben sie in den zwanziger Jahren auch. Wenn Sie sich die Publikationen anschauen, die wollen ständig Weltstadt sein und das Größte, das Beste, das Modernste haben. Aber das ist ja besser als Verzagtheit."
Benedikt Goebel ergänzt:
"Man muss sich vorstellen, die großen Projekte der Infrastruktur, wie der Westhafen oder der Flughafen Tempelhof oder das Kraftwerk Klingenberg, das wäre dann nicht in Berlin, sondern in Umlandgemeinden entstanden. Da hätte man ja Verträge schließen müssen. Dass das Berliner Großprojekte sind, die trotzdem finanziert und geplant, realisiert werden müssen in Umlandgemeinden, mit deren Verwaltungen. Ein mir triftiger Vergleich scheint das mit dem Flughafen Berlin-Brandenburg zu sein. Der steht ja auch nicht auf Berliner Stadtgebiet, obwohl es unser künftiger einziger Flughafen sein wird. Nun kann man sagen, wenn denn demnächst geflogen wird, dann wird alles vergessen sein, doch bis dahin dominiert aber doch die Sicht auf die Problematik dieser Planungs- und Baugeschichte. Das ist ja doch schrecklich schiefgelaufen."

Fabriken prägten das Gesicht der Stadt

Schon im 19. Jahrhundert versuchte die damalige preußische Hauptstadt, die engen Stadtgrenzen zu überwinden. 1850 hatte Berlin 400.000 Einwohner. 30 Jahre später – nach der Reichsgründung – gab es doppelt so viele. Die Stadt platzte aus allen Nähten: Bahnhöfe und Häfen wurden gebaut. Schulen, Kasernen und Krankenhäuser sowie unzählige Mietskasernen.
"Man kann sich das heute kaum noch vorstellen, dass Berlin mal die größte Industriestadt gewesen ist", meint Jens Bisky. "Aber das war Berlin. Die beginnt in den 1830er-Jahren, als die erste Eisenbahnlinie nach Potsdam hinaus gelegt wird, als August Borsig beginnt, Lokomotiven zu bauen. Zunächst repariert er englische, dann kopiert er englische, und schließlich konstruiert er eigene, die schneller fahren als die englischen Lokomotiven. Alles hier im Norden Berlins geschehen. Und diese Entwicklung wird ungeheuer bestimmt von Unternehmern, privatkapitalistischen Interessen. Die bauen die Häuser hin für die Zehntausenden, die jedes Jahr in die Stadt kommen und zunächst kaum Unterkunft finden. Die bewirtschaften die großen Unternehmen, die Fabriken, die prägen das Gesicht der Stadt neben den Repräsentationsbedürfnissen der Monarchie und dann des Kaiserreiches."
Ein früher Plan für eine Stadterweiterung stammt von dem preußischen Stadtplaner und Gartenbaudirektor Peter Joseph Lenné, der um 1840 den Berliner Tiergarten in einen öffentlichen Volksgarten umgestaltet hatte. Aus der gleichen Zeit stammt das "Projekt der Schmuck- und Grenzzüge von Berlin mit nächster Umgebung", das zur Grundlage für eine moderne Stadtplanung werden sollte. Die Neugestaltung des Landwehrkanals und ein großzügiger Alleenring um die halbe Stadt gehören zu dem Plan, über den Lenné schreibt:
"Überall war es bei vorliegendem Projekt mein Bemühen, die Verteilung des gegebenen Raumes so zu leiten, dass neben dem Nutzen, welcher der Gemeine aus den neuen Anlagen geschafft werden soll, auch dem Vergnügen der Einwohner sein Recht widerfahre."

Lenné wollte sogar Berlin und Potsdam vereinen

Im 19. Jahrhundert gab es auch andere Ideen, Berlin zu erweitern. Da standen aber andere Ideen Pate als 1920. Lenné hatte die Idee, Berlin mit Potsdam zu vereinen, wie Jens Bisky erklärt:
"Es gab zwischen Lenné und dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. so eine Idee, man könne im Grunde Park-Züge hinaus bis nach Potsdam legen und insofern die große Stadt gestalten. Aber die Pläne von Lenné waren nicht für eine Industriestadt, waren nicht für eine explosionsartig wachsende Stadt gedacht."
Schon damals standen Lennés Plänen handfeste ökonomische Interessen entgegen. So erforderte der wachsende Zugverkehr den Bau von Bahnhöfen und Gleisanlagen anstelle von Paks und Grünanlagen.
Im späten 19. Jahrhundert griff dann der Hamburger Bauunternehmer Wilhelm von Carstenn die Idee, Berlin und Potsdam zu vereinen, noch einmal auf. Mit der südwestlich von Berlin gelegenen Villenkolonie Lichterfelde konnte Carstenn zeigen, was ein tatkräftiger Unternehmer im modernen Städtebau zu leisten vermochte. Als Kaiser Wilhelm I. zu Besuch nach Lichterfelde kam, sprach Carstenn über seine Zukunftsvision:
"Majestät, (…) was seine räumliche Ausdehnung anbelangt, so muss Berlin und Potsdam eine Stadt werden, verbunden durch den Grunewald als Park."
Aus dem Projekt ist nichts geworden, der Unternehmer hatte sich verspekuliert und war am Ende seines Lebens völlig verarmt. Im Gegensatz dazu war der preußischen Stadtplaner James Hobrecht mit seinem "Bebauungsplan der Umgebungen Berlins" auf ganzer Linie erfolgreich. 1862 trat sein Plan in Kraft, der die Straßenführung und die Bebauung der Städte Berlin, Charlottenburg und fünf weiterer Gemeinden neu regeln sollte. Hobrecht plante Ring- und Ausfallstraßen, kümmerte sich um hygienische Belange, mit einer zukunftsweisenden Kanalisation, und sorgte für sauberes Wasser. Und natürlich plante Hobrecht für die wachsende Stadt und das Umland den Wohnungsbau.
"Hobrecht erarbeitet so einen Fluchtlinienplan, in dem genau festgelegt wird, wo Blöcke gebaut werden können und wo nicht", erklärt Jens Bisky. "Er ist für den Plan viel gescholten worden, weil man gesagt hat: Na ja, dadurch sind die ganzen Mietskasernen entstanden. Inzwischen sind die Leute froh, wenn sie in so einer ehemaligen Mietskaserne eine Wohnung haben. Da ist auch sehr viel propagandistischer Unfug getrieben worden, in der Kritik an der Mietskaserne."

Die Mietskaserne als sozialer Schmelztiegel

Hobrecht wollte Arbeit und Wohnen nicht strikt trennen, und in den Mietshäusern sollten Menschen aus allen sozialen Schichten wohnen.
"Hobrecht hatte ja im Grunde eine etwas idyllische, aber doch sympathische Vorstellung: Dass in der Mietskaserne, wie er sich das vorstellte, Leute aus verschiedenen Milieus und verschiedenen Schichten zusammen wohnen und voneinander profitieren. Sein Beispiel ist dann immer, dass der Junge, der irgendwo im Hinterhaus wohnt, beim Professor im Vorderhaus was lernt und sich von dem was abschaut. Das ist übertrieben. Aber es ist im Grunde auch nicht ein originär Berliner Modell, sondern es ist eine Vorstellung, die sich sehr an Pariser Mietshäusern orientiert hat, wo man auch unten gutbürgerliche Familien hatte und ganz oben unterm Dach dann die Studenten oder die berühmten armen Künstler."
Die Wirklichkeit hielt diesen Idealen nicht stand, schon weil es damals kein ordentliches Mietrecht gab. Den Bewohnern der Mietskasernen konnte jederzeit gekündigt werden. Auch gab es keine Mietpreisbindung, und der Wohnraum war knapp, weil die Nachfrage ständig stieg.
Die Berliner Mietskasernen mit ihren zahlreichen dunklen Hinterhöfen hatten einen schlechten Ruf. Man denkt sofort an die deprimierenden Bilder von Heinrich Zille und an seinen berühmten Ausspruch:
"Man kann auch einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt."
Blick von der Freitreppe ins Innere des „Hufeisens“.
Die Hufeisensiedlung im Berliner Ortsteil Britz ist eine Siedlung des sozialen Wohnungsbaus und seit 2008 UNESCO-Welterbe.© Deutschlandradio / Paul Vorreiter
Schon 1930 hatte der Architekturhistoriker Walter Hegemann in seinem Buch "Das steinerne Berlin" Fundamentalkritik an den Mietskasernen geübt. Eine Kritik, die bis heute nachwirkt und ein Grund war für die unbändige Abrisswut nach dem Zweiten Weltkrieg, durch die mehr Bausubstanz vernichtet wurde als durch die Bombardierung Berlins.
Aber genau genommen war die Berliner Mietskaserne, als Hegemann seine Polemik schrieb, schon ein Auslaufmodell, ein Konzept von gestern. Ob Hufeisensiedlung oder Siemensstadt: Mit Groß-Berlin entstanden im Berlin der 1920er-Jahre überall neue Siedlungen und Gartenstädte, die so zukunftsweisend waren, dass einige von ihnen heute zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen.
100 Jahre, nachdem Berlin von der Fläche zur zweitgrößten und der Einwohnerzahl zur drittgrößten Stadt der Welt wurde, haben sich Verhältnisse im internationalen Vergleich drastisch verändert.
"Man war zu Recht stolz darauf, die von der Fläche und der Bevölkerung her wichtigste Stadt der Welt nach London und New York zu sein, für einige Zeit", sagt Benedikt Goebel. "Aber nur für einige Jahre, dann kamen ganz viele Metropolen, die hier an Berlin vorüberschossen, was ihre Bevölkerungszahl angeht. Und so sind wir heute ja auch irgendwo ganz hinten durchgereicht unter den Metropolen dieser Welt, was ja auch ganz gemütlich ist."
Und Jens Bisky meint: "Sie können keinen Münchner beleidigen, wenn Sie sagen, dass er Bayer ist. Aber sagen Sie mal einem Berliner, er sei Brandenburger. Dann denkt der, oh, der will mich jetzt anmachen."
1920 wurde das Verhältnis zwischen Berlin und seinem Umland durch die Eingemeindung neu geordnet. Der Stadtraum ließ sich besser planen. Geblieben ist jedoch der Widerspruch zwischen Hauptstadtgefühl und Kiezprovinzialität.
Für viele, die in der Stadt leben, ist Berlin ein Name, auf den sie anderen gegenüber stolz sind, ein Gefühl von Weltläufigkeit, aber nicht der Stadtraum, in dem sie leben. Sie leben in Kreuzberg oder Neukölln, in Schmargendorf, Charlottenburg oder Spandau, in Hellersdorf, Köpenick oder Pankow. In ihrem Bezirk, ihrem Kiez. Und immer noch: hüben oder drüben.

Wo ist das Zentrum von Berlin?

Die Teilung nach 1945 und die Mauer haben jahrzehntelang die Stadtentwicklung bestimmt, genauer gesagt: blockiert. Verkehrswege unterbrochen. Übergreifende Stadt-, Siedlungs- und Grünplanung unmöglich gemacht. Nach 1990 mussten die Zusammenhänge wiederhergestellt werden, aber die Mentalitäten haben sich nicht so schnell verändert. Ob man in einem Ost- oder in einem Westberliner Bezirk lebt: das ist vielen heute noch gegenwärtig. Für viele Zehlendorfer ist der Kudamm das Stadtzentrum, für viele Pankower die Friedrichstraße. Das ändert sich nur langsam, aber es wird im Laufe der Zeit verschwinden.
Ein anderes Problem allerdings nicht, das eher etwas mit der Problematik vor 1920 zu tun hat: Das Verhältnis zwischen der Stadt und ihrem Umland, zwischen Berlin und Brandenburg ist weiterhin schwierig. Der Versuch, die beiden Bundesländer 1996 zu vereinen, scheiterte krachend. Und eine Stadterweiterung ins Umland wäre heute keine Lösung.
"Brandenburg hat seine spezifischen Probleme, dass es so leer ist jenseits des Speckgürtels, dass da sehr wenige Menschen nur wohnen. Und Berlin hat die Probleme im Moment, dass es unter Wachstumsstress leidet, dass es voller wird. Also da könnte man doch schauen, dass man eine gemeinsame Lösung findet. Dazu würde es halt größerer Planungen bedürfen, vor allem für den Nahverkehr, der ja im Moment so ist, dass man keinem ernsthaft empfehlen möchte, irgendwo in Brandenburg in Ruhe zu wohnen und ständig nach Berlin rein zu pendeln", sagt Jens Bisky.
Und Benedikt Goebel: "Das Problem sehe ich mehr in dem Umgang mit dem älteren Berlin, also der ältere Kern, und wie mit ihm dann verfahren wurde, sowohl im späten 19. als auch dann im ganzen 20. Jahrhundert, bis heute."
Von 1200 Gebäuden im historischen Kern sind nur noch 85 vorhanden. Ein herber Verlust, bei weitem nicht nur durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs. Ein Verlust vor allem an Urbanität in jener Mitte, über die Berlin 1920 hinausgewachsen ist.
P.S.: Fast vergessen war der Mann, der 1920 Entscheidendes geleistet hat, dass Berlin zu einer zukunftsfähigen großen Stadt erweitert wurde: Adolf Wermuth. Nun aber hat er gerade noch rechtzeitig zum hundertsten Jahrestag ein Ehrengrab bekommen. Zuvor war ein entsprechender Antrag im Berliner Abgeordnetenhaus zweimal abgelehnt worden.
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