10 Jahre nachtkritik.de

Theaterkritik als Anfang eines Gesprächs

Blick in einen leeren Theatersaal mit geschlossenem Vorhang.
Kaum ist der Vorhang - hier der des Theaters Vorpommern in Stralsund - gefallen, beginnt die Arbeit des Nachtkritikers. © dpa/picture alliance/Stefan Sauer
Nikolaus Merck im Gespräch mit Vladimir Balzer · 04.05.2017
Morgens die Kritiken zu den Theaterpremieren vom Vorabend lesen: Seit mittlerweile zehn Jahren gestattet dies das Onlinemagazin nachtkritik.de. Mitbegründer Nikolaus Merck erklärt, welche Hoffnungen die Redaktion einst ans Netz geknüpft hatte - und was daraus geworden ist.
Wie waren sie gewesen, die neuen Inszenierungen von Pollesch in Berlin, von Voges in Dortmund oder von Petras in Stuttgart? Wer gar nicht warten will, schaltet am Abend Fazit auf Deutschlandfunk Kultur ein, wo wir im Anschluss an die wichtigsten Aufführungen mit unseren Kritikern telefonieren. Geduldigere sehen morgens auf nachtkritik.de nach und lesen dort die neuesten Kritiken zu den wichtigsten Premieren vom Vorabend - und das aus dem ganzen deutschsprachigen Raum, dem Magazintitel entsprechend noch in derselben Nacht verfasst.
Zehn Jahre gibt es das Onlinemagazin mittlerweile. Entstanden ist es aus einer Notsituation heraus, erklärte Redakteur und Mitbegründer Nikolaus Merck im Deutschlandfunk Kultur: Im Zuge der Zeitungskrise sparten die Verlage am Angebot - weniger Raum für Feuilleton und Theaterkritik waren die Folge. Eine Handvoll freier Autoren ergriff seinerzeit die Initiative und schuf sich kurzerhand einen neuen Wirkungsort - abseits der Zeitungsverlage, im Netz.

So schnell wie der Zug zwischen Hamburg und Berlin

Das ging auch mit ganz grundsätzlichen Erwägungen einher, sagte Merck. Das Theater wollte man zwar nicht verbessern, wohl aber "die Kritik verändern. Wir haben gesagt, als wir angefangen haben: Wir glauben nicht mehr daran, dass einer sich aufs Katheter setzt und von oben herab das Urteil fällt und das ist es dann gewesen. Zweierlei schwebte uns vor: Einerseits – Theaterkritik müsste doch eigentlich so schnell sein wie der Zug, der zwischen Hamburg und Berlin fährt. Der fuhr dann wieder so schnell wie vor dem Krieg. Und wir haben gesagt, damals, in den Zwanzigern, hat es doch diese Form der Nachtkritik gegeben. In den großen Berliner Zeitungen gab es immer vorab eine Nachtkritik – und dann später eine ausführliche, etwa von Alfred Kerr, am nächsten Tag. Das müssten wir doch jetzt, 70 Jahre später, wieder schaffen."
Aber auch das Medium selbst spielte in die Überlegungen mit ein. Schließlich verfügt das Internet über einen Rückkanal: "Und das Zweite, wenn die Menschen jetzt im Internet mitreden können, dann müsste doch eigentlich auch ein Gespräch über Theater möglich sein. Dieses Gespräch wird in unseren Kommentarspalten geführt – wenn auch etwas anders, als wir uns das gedacht haben."

Theaterkritik ist kein von Gott erlassener Spruch

Erhofft hatte man sich tatsächlich einen Dialog zwischen Machern und Publikum. Erstere reagierten jedoch mit Vorbehalten. Der Vorwurf stand im Raum, dass manch einer aus dem Betrieb in den Kommentaren seinen Frust ventilierte - und zwar im Schutzmantel der Anonymität. Dem arbeite man jedoch entgegen, versicherte Merck im Deutschlandfunk Kultur. Jeder Kommentar werde gegengelesen, moderiert und redaktionsintern diskutiert - das fresse sehr viel Zeit, räumte Merck ein. Und zeigte sich auch ein wenig desillusioniert, was die einstigen Hoffnungen an das Internet als Instrument zur Demokratisierung betrifft: Diese Vorstellung sei zwar nicht gescheitert, wohl aber hätten sich die Illusionen "zerstoben". Es gebe einfach "ungeheuer viel Boshaftigkeit in der Welt", so Merck.
Dennoch zeigte sich Merck frohen Mutes. "Wir waren uns sicher, das Schreiben über Theater muss sich ändern. Das stimmt zwar nur bedingt. Was sich aber verändert hat: Dass wir die Theaterkritik nicht mehr als einen von Gott erlassenen Spruch erachten. Sondern Theaterkritiken sind der Anfang eines Gesprächs." Deshalb erstelle man auch Presserundschauen über das, was die Kollegen in den anderen Medien schreiben - penibel verlinkt, versteht sich. Dass sich ein Onlinemagazin vernetzt, ist schließlich nur folgerichtig. (thg)
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