Vincent F. Hendricks, Mads Vestergaard: "Postfaktisch"

Die offene Gesellschaft und ihre neuen Feinde

Vincent F. Hendricks / Mads Vestergaard: "Postfaktisch. Die neue Wirklichkeit in Zeiten von Bullshit, Fake News und Verschwörungstheorien"
Buchcover: Vincent F. Hendricks / Mads Vestergaard: "Postfaktisch" © Blessing Verlag/imago/CHROMORANGE/Franz Perc
Von Marko Martin · 05.04.2018
In ihrem Buch "Postfaktisch" erläutern die dänischen Philosophen Vincent F. Hendricks und Mads Vestergaard, dass die Vermischung von Sensation und Lüge schon Ende des 19. Jahrhunderts existierte. Für unser heutiges Problem der "Fake-News" gebe es ihrer Meinung nach aber eine Lösung.
Gleich zu Beginn ihres Buchs stellen die Autoren eines klar: Dies ist kein Text "über Trump". Angesichts der aktuellen Debatte um Datenmissbrauch ließe sich hinzufügen: "Postfaktisch" ist auch keine simple Streitschrift wider Facebook. Die beiden dänischen Philosophen Vincent F. Hendricks und Mads Vestergaard, die an einem renommierten Kopenhagener Universitäts-Institut mit dem schönen Namen "Center for Information and Bubble Studies" lehren, graben intellektuell nämlich ungleich tiefer und begnügen sich nicht mit wohlfeilen Jeremiaden über Oberflächen-Phänomene. Ohne zu moralisieren, erinnern sie an einige vergessene Wahrheiten: Das auf Augenblicks-Reize angewiesene Info-Zeitalter hat mit Aufklärung ebenso viel oder so wenig zu schaffen wie der Buchdruck mit der Idee der Liberalität. Technische Innovation ist weder ein Synonym für gesellschaftlichen Fortschritt noch für "Kulturverfall".

Aufmerksamkeit verspricht Werbekunden

Auch die Vermischung von Sensation und Lüge existiert nicht erst seit gestern: Bereits zu Ende des 19. Jahrhundert hatte es einen erbitterten Kampf zwischen den sechs Cent teuren, jedoch seriösen Zeitungen "New York Times" und "Wall Street Journal" auf der einen Seite und der mit einem Penny spottbilligen "New York Sun" gegeben, deren Top-Stories etwa vom Sexleben der Fledermäuse auf dem Mond zu berichten wussten. Schon damals waren jedoch die Beinahe-Gratis-Leser viel weniger die Zielgruppe als Firmen, die mit ihren Werbeanzeigen ein solches Geschäftsmodell am Laufen hielten. Nicht anders heute bei vielen der "sozialen Medien": "Ernte Aufmerksamkeit und verkaufe sie weiter für Marketing und Reclamezwecke."
"Fake News" sind für die beiden Autoren freilich nicht lediglich Falschmeldungen, sondern "Mischprodukte" aus Wahrem, Halbwahrem, gerade noch Plausiblem und frei Erfundenem, die süchtig machen sollen und zu weiterer Konsumation reizen. Hendricks´ und Vestergaards ökonomisches Erklärungsmodell greift allerdings weder in Bezug auf Russland noch auf die vom Kreml unterstützten rechtspopulistischen Bewegungen in Europa: Nicht Gewinn-Maximierung ist hier das Motiv, sondern geostrategisches Kalkül bzw. ideologische Vernebelung.

Angebliche "Alternativlosigkeit" ruft Populisten auf den Plan

Es hätte den konzisen, mit zahlreichen Statistiken versehenen Essay der dänischen Philosophen noch plausibler gemacht, wäre auch dieser eminent wichtige Aspekt thematisiert worden. Dennoch trägt "Postfaktisch" zur notwendigen Begriffsklärung sehr viel bei – gerade weil das Heil nicht etwa in einer "faktischen" Gesellschaft gesucht wird. Im Gegenteil: Denn auch der apolitische Glaube an vermeintlich untrügliche "Fakten" gerate in die Gefahr der Manipulierbarkeit – durch dröge Technokraten und deren Gerede von angeblicher "Alternativlosigkeit". Was dann wiederum Populisten mit aufputschender Rhetorik auf den Plan rufe.
Wo aber bliebe dann der Ausweg? Hendricks und Vestergaard verweisen hier auf etwas durchaus Hoffnungsvolles: Laut empirischer Studien ist die Meinungsvielfalt und das Debattenniveau in jenen Demokratien am lebendigsten, in denen es seriöse öffentlich-rechtliche Medien gibt, die nicht genuin auf Werbeeinnahmen angewiesen sind. Ergo: Der freie Markt der Meinungen kann nicht allein garantiert werden vom freien Markt der Wirtschaft und der Aufmerksamkeits-Ökonomie. Wobei noch etwas hinzukommt: Die Analysen belegen, dass gerade Radiohörer am meisten Wert auf die Stringenz von Argumenten legen und sich weniger leicht ablenken lassen. Dass sie dafür einen Rundfunkbeitrag zahlen, bestärkt sogar noch in der rationalen, emanzipatorischen Anspruchshaltung: Was etwas kostet, darf keinen Bullshit liefern. Genau das gilt auch für dieses Buch: Wer es kauft, wird nicht mit billigen Thesen und schriller Polemik abgespeist.

Vincent F. Hendricks / Mads Vestergaard: "Postfaktisch. Die neue Wirklichkeit in Zeiten von Bullshit, Fake News und Verschwörungstheorien"
Aus dem Dänischen von Thomas Borchert
Blessing Verlag, München 2018
208 Seiten, 16 Euro

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