Poetin Ulrike Draesner

"Mich interessiert die Verbindung von Sprache und Körperlichkeit"

15:17 Minuten
Ulrike Draesner schaut in die Kamera. Sie trägt ein dunkelblaue, gemusterte Bluse. Ihre Haare trägt sie kur, ihre Lippen hat sie rot geschminkt, sie hat blaue Augen.
Veröffentlichte 2001 einen Zyklus über eine Fehlgeburt: die Lyrikerin Ulrike Draesner. © Dominik Butzmann
Ulrike Draesner im Gespräch mit Joachim Scholl · 18.01.2022
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Ulrike Draesner begann nach einem Jahr in Oxford mit dem Schreiben. Durch den Auslandsaufenthalt hatte sie Abstand zum Deutschen bekommen und sah neue Möglichkeiten. In "hell & hörig" versammelt sie Poesie aus 25 Jahren ihres Schaffens.
Die Schriftstellerin Ulrike Draesner hat kurz vor ihrem 60. Geburtstag Gedichte aus 25 Jahren in einem Jubiläumsband veröffentlicht. „hell & hörig“ enthält teils bereits publizierte, teils unveröffentlichte Werke. „Es war ein wirkliches Abenteuer, und es ist auch ein Geschenk, das ich das machen durfte, noch mal durch die eigenen Gedichte zu gehen. Und dann entdeckt man, welche Kontinuitäten es gibt“, sagt sie zu dem Band.
Im Interview erklärt sie zu der Frage nach dem Draesner-Sound: „Ich höre ihn nicht, ich glaube, da ist mein blinder Fleck. Aber ich fühle den beim Schreiben. Ich merke, wenn er kommt, wenn er sich entwickelt. Ich kann ihn nicht produzieren, willentlich, und ich kann ihn auch nicht richtig wahrnehmen. Aber ich weiß: Jetzt ist er da! Und dann entsteht auch ein Gedicht oder eins kann überarbeitet werden.“

raised/razed beaches
Von Ulrike Draesner

heben sich befreit von der schwere des eises
„befreit“ in der bedeutung von „steigen“
durch millionen jahre steinchen durch zeit
doch wohin. die see spült, sinkt, der schelf
gletschergeschliffen schiebt terrassen von kies
zur walbucklig schlafenden kuppe spielt
nach millionen jahren noch
form „meer“
wir stapfen dahin.
muschel blauklaff mikroklima schutt
schwingender grund
treiberde, vlies.
stapfen, rutschen, brillen gegen licht
im gesicht das possessivpronomen „meins“
„deins“ die sich hebenden strände
als winzige befestigungsmauern
an karabinerhaken nutzlose telefone
uns
in die kleidung gehängt
– gegen mehr
gehst gischt
geist gesicht

Auslandsaufenthalt und unglückliche Liebe

Begonnen hat sie mit dem Schreiben nach einem einjährigen Auslandsaufenthalt in Oxford, wo sie völlig ins dortige Leben eingetaucht sei: „Und dann kam ich zurück nach Deutschland und hatte eben ein Jahr Englisch gesprochen, und das Deutsche guckte mich plötzlich mit Abstand an.“
Sie erinnert an ein Wort von Karl Kraus, dass die Literatur eigentlich dort beginne, wo Wörter zu einem zurückschauten: „Ich glaube, genau diesen Spalt erlebte ich.“ Sie sei endgültig rausgefallen aus „dieser Erstsprachen-Illusion“, dass ein Baum eben ein Baum sei und Schluss. „Plötzlich sah ich ganz andere Arten und Weisen, mit Zeit umzugehen in einer Sprache, oder Metaphern zu bilden. „Da fing ich dann tatsächlich an mit dem Schreiben. Eine unglückliche Liebesgeschichte kam noch dazu. Es war also die perfekte Konstellation.“
Bis zu ihrer ersten Veröffentlichung "gedächtnisschleifen" im Jahr 1995 ließ sie sich noch Zeit. "Und das ist auch sehr gut so – die waren auch nicht so weit", erinnert sich die promovierte Germanistin, die auch Professorin am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig ist.

Sprache und Körperlichkeit

Draesner hat ihr Rückblicksbuch in thematische Kapitel geordnet, dazwischen fügt sie poetologische Reflexionen ein, wie sie es nennt, und ein Bild. Bei einer dieser Einleitungen heißt es: Gedichte - Denken des Körpers im Zustand der Sprache.
„Ich glaube, das ist wirklich ein Kern meines Schreibens, auch in der Prosa, dass mich die Frage nach der Verbindung von Sprache und Körperlichkeit interessiert“, sagt Draesner. Sie könne nicht an Sätze glauben wie den Wittgensteins, dass die Grenzen unserer Sprache die Grenzen unserer Welten seien.

„Ich kann das nicht glauben, weil ich körperlich Welt anders erlebe, als ich sie beschreiben kann: Gerüche, Geschmack, auch, was unsere Augen sehen: Er ist eine Farbskala in den Tausenden, und da haben wir dann fünf Grundwörter für Farben und der Rest ist Metaphorik. Also: Da ist die Sprache viel kleiner als der Körper. Immer wieder hängt der Körper quasi aus dem Sprachraum heraus.“

Erfahrungen eines weiblichen Körpers

Hinzu komme, dass sie mit einem weiblichen Körper auf die Welt gekommen und auch entsprechend gegendert worden sei und im Leben die Erfahrungen dieses Körpers mache. „Es braucht ja nicht viel, um zu entdecken, dass das in der deutschsprachigen Poesie mehr oder minder überhaupt nicht vorkam und wenig Stellenwert hatte. So tat sich mein Interesse zusammen mit einer Lücke", sagt Draesner.
„Als ich 2001 den Zyklus über eine Fehlgeburt veröffentlichte, wurde mir dann erst danach klar, dass das ein völlig neuer Gegenstand in der Poesie war. Und da sind so viele Stimmen und Erlebnisse, die nie poetisch gesprochen wurden. Das ist auch ein Teil meines Ansatzes. Solche Stimmen, Ränder der Sprache, auch Tierstimmen, Mond, Pflanzen – darüber zumindest nachzudenken.“
(mfu)

Ulrike Draesner: "hell & hörig"
Gedichte 1995 - 2020
Penguin, München 2022
252 Seiten, 24 Euro

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