U-Bahn-Attacken

Bereiten Videokameras den Tätern erst die Bühne?

Eine Bank auf dem Berliner U-Bahnhof Schönleinstraße
Auf dieser Bank im Berliner U-Bahnhof Schönleinstraße lag der Obdachlose, der an Weihnachten 2016 von Jugendlichen angezündet wurde. © picture alliance / dpa / Paul Zinken
Von Nils Markwardt · 16.07.2017
Tatort U-Bahnhof: Immer wieder werden dort Menschen Opfer brutaler Angriffe. Dabei gibt es an kaum einem anderen Ort so viel Videoüberwachung. Nils Markwardt fragt, ob es vielleicht gerade das Gesehen-Werden ist, das den Tätern den speziellen Kick gibt.
Alle drei Ereignisse sorgten bundesweit für Entsetzen. Transportierten die Bilder der U-Bahntreter doch die Botschaft, dass so ein Übergriff potenziell jeden treffen könnte. Täter, die ihre Opfer willkürlich wählen, üben keine strategische Gewalt aus. Ihre Gewalt ist kein Mittel zum Zweck, folgt keinem Muster.
Nur selten, so wie beim jüngst festgenommenen Igor B., ist sie auf klar diagnostizierte psychische Erkrankungen zurückzuführen. Besieht man nämlich den Fall von Svetoslav S. oder denkt an jene Jugendliche, die Ende 2016 im U-Bahnhof Schönleinstraße versuchten, einen Obdachlosen anzuzünden, scheint die Motivation eine andere: eine Mischung aus Langeweile und purer Lust an der Überschreitung.

Kameras bereiten den Tätern die perfekte Bühne

Vor diesem Hintergrund stellt sich dann aber die Frage: Warum passieren solche Attacken immer wieder in U-Bahnhöfen? Früher wäre die Erklärung klar gewesen: Als dunkle, unterirdische Transitorte waren sie dem polizeilichen Kontrollblick weitestgehend entzogen. Heute ist jedoch das Gegenteil der Fall: Kaum irgendwo anders ist die Videoüberwachung so engmaschig wie hier. Wer in einer U-Bahnstation ein Gewaltverbrechen begeht, muss mittlerweile damit rechnen, dass er dabei gefilmt und dementsprechend bald verhaftet wird.
Genau das macht die Angriffe aber so auffallend. Denn sie sind offensichtlich von solch einem Genießen der Gewalt getragen, dass es den Tätern völlig egal zu sein scheint, dass sie dabei gefilmt werden. Ja, womöglich muss man sogar noch weitergehen: Bewusst oder unbewusst ist das Gesehen-Werden für manche vielleicht sogar der Kick dabei. Dann hätte man es mit dem Effekt zu tun, dass die Kameras nicht nur keine Abschreckung darstellen, sondern aus Tätersicht erst die perfekte Bühne der Gewalt bereiten. In einer Zeit des Terrors, der von seinen Bildern lebt, wäre dies sicher nicht die beruhigendste Nachricht.

Derartige Gewalt gehörte jahrhundertelang zur Normalität

Doch es gibt einen weiteren Grund, der diese Angriffe so verstörend macht und mit moderner Überwachungstechnik nicht das Geringste zu tun hat. Denn auch wenn diese Taten gerne als "unmenschlich" verbucht werden, sind sie historisch gesehen doch leider das genaue Gegenteil: Jahrhundertelang gehörte solche Form der Gewalt zur Normalität.
Mit Blick auf die mittelalterliche Alltagserfahrung schrieb der Soziologe Norbert Elias in seiner 1969 erschienen Studie "Über den Prozess der Zivilisation": "Die Grausamkeitsentladung schloss nicht vom gesellschaftlichen Verkehr aus. Sie war nicht gesellschaftlich verfemt. Die Freude am Quälen und Töten anderer war groß, und es war eine gesellschaftlich erlaubte Freude." Und Elias bemerkt noch weiter: "Bis zu einem gewissen Grade drängte sogar der gesellschaftliche Aufbau in diese Richtung und machte es notwendig, ließ es als zweckmäßig erscheinen, sich so zu verhalten."
Die weitgehende Bannung solch eruptiver Alltagsgewalt ist folglich das Ergebnis eines langen sozialen Prozesses. Oder anders formuliert: Die Prügelattacken mahnen an ein einstiges Massenphänomen. Genau hierin liegt die eigentümliche und irritierende Dialektik der entsetzlichen Einzelfälle
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