Tratsch und Klatsch

Rezensiert von Bernd Wagner · 06.01.2008
Ein Buch voller Hass, Anklagen, Unterstellungen nennen Kritiker Florian Havemanns Biografie, in der er über seinen Vater und DDR-Dissidenten Robert schreibt. Der Suhrkamp Verlag hat das Buch "Havemann" wegen Klagen kurzfristig zurückgezogen und möchte nun eine gekürzte, überarbeitete Version auf den Markt bringen: Ein Buch voll Tratsch und Klatsch aus der DDR-Dissidentenszene.
Die Familien Havemann und Henselmann feiern zusammen Weihnachten. Wie in jedem Jahr denkt sich Onkel Hermann, der bekannte Architekt der Stalinallee, ein Spiel für die Kinder aus. Diesmal hat er eine besondere Idee: Die zwölf Kinder sollen Selbstmord spielen, eines nach dem anderen soll spielen, wie es sich umbringt. Sie quälen sich damit ab, ohne in ihren Rollen zu überzeugen.

"Da meldet sich mein Großvater, damals schon siebzig Jahre alt: Auch er wolle das jetzt mal spielen, einen Selbstmord. Er steht auf, setzt sich an einen Tisch und schreibt einen Abschiedsbrief. Wie das Selbstmörder so oft machen, natürlich hatte keines von uns Kindern daran gedacht. Und dann nimmt er Gift, er hat es schon in seiner Jackentasche. Das Gift schmeckt natürlich widerlich. Aber er überwindet seinen Widerwillen und schluckt das Gift. Dann liest er noch mal seinen Abschiedsbrief und besinnt sich. Plötzlich will er doch nicht mehr sterben. Er versucht, das Gift aus sich herauszuwürgen. Er übergibt sich fast dabei. Währenddessen nun beginnt das Gift zu wirken, sein Würgen geht in die vom Gift verursachten Krämpfe über. Er steht von seinem Tisch auf, er taumelt, er fällt vornüber. Er windet sich in Krämpfen auf dem Boden. Ein siebzigjähriger Mann. Alle halten den Atem an. Er bäumt sich noch einmal qualvoll auf. Bricht dann endgültig zusammen. Letzte Zuckungen. Dann Stille, Bewegungslosigkeit, er liegt tot auf dem Fußboden."

Dieser Großvater ist Hans Havemann, eine der drei Hauptfigu-ren im Buch seines Enkels, der darin bis zu den Wurzeln seines Stammbaumes gräbt, um herauszufinden, was es bedeutet, ein "Havemann" zu sein. Er fördert dabei bittere Erkenntnisse zutage. Dem sich so sterbensecht am Boden wälzenden Großvater etwa musste der Gedanke an Selbstmord vertraut sein, in seinem Schreibtisch fand sich ein, wenn auch verrosteter, so doch geladener Revolver, den später die Stasi bei Florian Havemann konfiszieren wird. Als Gymnasiallehrer verfasste Hans Have-mann Theaterstücke und trivialphilosophische Traktate, trat 1933 der NSDAP bei und wurde Feuilletonchef der größten Hannoverschen Zeitung; 1946 Aufnahme in die SED und Arbeit als Geologe in der Akademie der Wissenschaften der DDR.

Behilflich bei diesem Karrierewechsel war ihm sein Sohn Robert, der Havemann, der den Namen bekannt gemacht hat. "Alle kennen Havemann. Keiner kennt Havemann", behauptet der Autor und meint damit die unbekannten Flecken, die er auf der Weste des berühmtesten DDR-Dissidenten selbst wahrgenommen, die er beim Quellenstudium später entdeckt hat.

Und tatsächlich finden sich merkwürdige Widersprüche in den Dokumenten. Aus dem Zuchthaus Brandenburg schreibt der wegen seiner Widerstandstätigkeit zum Tode verurteilte Robert Havemann antisemitische Briefe an seinen Vater, die dessen Enkel Florian nicht einfach als Tarnung hinzunehmen bereit ist. Auch die Tatsache, dass Robert Havemann als einziger seiner Widerstandsgruppe nicht hingerichtet wird, dass er überlebt zum Preis der Mitarbeit an einem kriegswichtigen Forschungs-projekt, erregt das Misstrauen des Autors. Und seine Rolle als strahlender Held im Kampf gegen das SED-Regime, als mit Hausarrest belegte Ein-Mann-Opposition in der DDR?

Nun, vor dem operativen Vorgang "Leitz" gab es die rund zehnjährige Tätigkeit als Stasi-Informant unter dem gleichen Deck-namen, gab es in seiner Westberliner Zeit die Bespitzelung ehemaliger Genossen aus dem Widerstand für den KGB. Und es gab, für seinen Sohn nicht weniger wichtig, das Verhalten des Robert Havemann als Vater und Familienoberhaupt, der seine Kinder umstandslos ausquartierte, wenn er eine seiner Geliebten erwartete, ihnen den Glauben suggerierend, er führe Geheimverhandlungen mit den sowjetischen Genossen, die ihn ei-nes Tages zum Generalsekretär der SED machen würden.

Wahrlich genügend Grund für den ödipalen Furor, mit dem der Autor der Legende Havemann zuleibe rückt, mit dem er Biermann als Vergeltung für dessen höhnisches Lied "vom kleinen Flori Have" auf das Maß eines zwergenwüchsigen Liedersängers zurechtstutzt, der sich beim Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag mit abrasiertem Bart vor der Stasi versteckt, der durch seine undurchsichtige Beziehung zu Margot Honecker sehr wohl wusste, was ihm bevorstand, als er zum Konzert nach Köln fuhr. Aber das auf 1092 Seiten im Jumbo-Format ausgebreitet, was er im Kern bereits Anfang der siebzi-ger Jahre im Spiegel geschrieben hat? In einem Text, von dem Karl-Heinz Bohrer zu Recht sagte:

"In Havemanns Unternehmen steckt, wenn man will, eine noch zu schreibende blasphemische Komödie über die deutsche Intelligenz."

Hat Florian Havemann nun diese Komödie geschrieben? Nein, der Autor selbst weiß es in seiner fast beängstigenden Klugheit. "Ich schreibe nicht, weil ich muss", sagt er, sondern "weil ich kann". Und er kann fast alles, ist Herr über eine mit großer Übersetzung sich drehende Sprachmaschine, die alles ihm Zufliegende, seien es Erinnerungen, Briefe, eigene oder fremde Texte, alte Fotos oder ihn gerade beschäftigende Tagesereig-nisse, zu langen rollenden Sätzen oder blitzartig einschlagenden Kurzsequenzen verarbeitet. Das ergibt brillante Gedankengänge, feinsinnige Analysen und beeindruckende Beschreibungen, wie die der Fotofolge, die er im Archiv seines Vaters gefunden hat:

"Ich habe alle mir zur Verfügung stehenden Mittel in Bewegung gesetzt, um herauszufinden, wer diese Frau war. Ich habe es herausgefunden: Diese Frau war eine Kriegerwitwe, ihr Mann in Russland gefallen, sie hatte einen Sohn, und sie wollte keinen Krieg mehr, sie hatte endgültig genug vom Krieg, das brachte sie zum Friedensrat. Aber, und wenn man sie sich auf den drei Fotos genauer ansieht, wird man das spüren, mit ihr stimmte was nicht. Ich habe herausgefunden, was: Sie arbeitete für den amerikanischen Geheimdienst, sie war eine Agentin der CIA. Die CIA hat sie dann fallenlassen, hat ihre Kollegen vom sowjetischen KGB wissen lassen, dass diese Frau für sie tätig gewesen ist. Die Frau ist ein paar Jahre später in einem sibirischen Lager umgekommen. Erfroren. Ein Opfer des kalten Krieges. Eine deutsche Geschichte, ich habe alle Mittel in Bewegung gesetzt, sie herauszufinden, ich habe sie mir ausgedacht. Ich bin kein Historiker, ich bin ein Geschichtenerzähler."

Hier irrt der Autor. Zu einem Geschichtenerzähler gehört, dass er sich ganz in die zu schildernden Ereignisse zu versenken weiß und ihm nicht sein heutiges Besserwissen ständig in die Parade fährt. Havemann erzählt nicht, er referiert. Seine von ihm mehrfach erwähnte Tätigkeit als Verfassungsrichter des Landes Brandenburg mag ihn dazu verleitet haben, sein Buch im ersten Teil zu einer Anklageschrift gegen Robert Havemann und Co., im zweiten zu einer Verteidigungsschrift seiner selbst zu gestalten.

Nachdem er die alte Legende Havemann zerstört hat, strickt er an einer neuen. Darin ist er nicht mehr der Nachfahre der beiden alten Havemanns, sondern er stilisiert sich als der ehemalige Stasi-Häftling und Republikflüchtling Florian Havemann, als unverstandener, weil kompromissloser Maler und Musiker, Autor von Theaterstücken und eines nicht ganz 1000 Seiten starken Romans namens "Speedy".

Trotzdem hätte dies ein großartiges Buch werden können. Wenn dem Autor bei all seinen Gaben nicht eine wesentliche fehlen würde, die der Selbstkontrolle und -beschränkung, oder wenn es noch Lektoren wie jenen gäbe, der aus einem 3000-Seiten-Manuskript von Thomas Wolfe "Schau heimwärts, Engel!" gemacht hat. Ein "Geh in dich, Genosse!" hätte es werden können, so aber kam ein stalinalleebreites Opus heraus, das nur von Germanisten, Historikern und Rezensenten zu Ende gelesen werden wird, auf die es ein Autor am allerwenigsten absehen sollte.

Florian Havemann: Havemann
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2007