Tilmann Brück (SIPRI): "Politik muss präventiv über Mali hinaus denken"

Tilman Brück im Gespräch mit Michael Groth · 26.01.2013
Seit Jahresbeginn ist Tilman Brück Direktor des unabhängigen Friedensforschungsinstituts SIPRI in Stockholm. Im Gespräch mit "Tacheles" plädiert der erst 42-jährige Wirtschaftswissenschaftler für einheitliche globale Sicherheitsstandards und eine stärker präventiv ausgerichtete Sicherheitspolitik.
Vor seinem Amtsantrtt war Brück Professor für Entwicklungsökonomie an der Humboldt-Universität sowie Leiter der Abteilung für Entwicklung und Sicherheit am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Der gebürtige Hamburger ist der jüngste Direktor in der Geschichte des Friedensforschungsinstituts.

Deutschlandradio Kultur: Herr Brück, wenn man das Stockholmer Institut als führenden Think Tank für Rüstung und Abrüstung, für Waffenhandel und Kontrolle beschreibt, ist das korrekt?

Tilman Brück: Ich denke, ja. Wir versuchen uns diesen Themen aus einer sehr neutralen Sicht anzunähern. Wir möchten untersuchen, was stattfindet. Wir beobachten und wir berichten über die Trends und über die Zahlen – und das schon seit fast 50 Jahren – und kriegen dafür sehr viel Anerkennung. Die Leute vertrauen unseren Zahlen zu diesen Themen. Ich glaube, deshalb sind wir auch führend.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind 42 Jahre alt, der jüngste Chef, den SIPRI je hatte. Nun kann sich jeder bewerben, nur ein Schwede nicht. Wie kommt denn das?

Tilman Brück: Es ist ein internationales Institut mit Sitz in Stockholm. Deshalb gibt es die informelle Regel, dass der Direktor immer ein Ausländer ist und der stellvertretende Direktor ein Schwede. Ich denke, das ist eine sehr sinnvolle Kombination. Das Institut ist in seiner Arbeitsweise sehr schwedisch. Vor Ort praktizieren wir viele schwedische Rituale des Arbeitslebens. Aber unsere Sichtweise und unsere Arbeitsweise ist global.

Deutschlandradio Kultur: Sie waren vor dem Job bei SIPRI neun Jahre Leiter der Abteilung Entwicklung und Sicherheit beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Nun macht die Ökonomie in der Regel keine Aussagen über Gewalt und Konflikte. Möchten Sie an diesem Defizit in Ihrer Zeit in Stockholm versuchen etwas zu ändern?

Tilman Brück: Das ist im Prinzip das Thema meines Wissenschaftlerdaseins. Was kann die Ökonomie zu dem Thema Krieg und Frieden sagen? Fast alle ökonomische Analyse macht eine implizite Annahme, nämlich dass unsere Eigentumsrechte gewahrt sind, dass wir das Recht auf Leben haben, dass wir das Recht auf Eigentum haben und dass, wenn diese Rechte verletzt werden, wir zur Polizei gehen können, zu den Gerichten gehen können. Wir nehmen auch implizit an, dass der Staat diese Rechte definiert, dass er sie durchsetzt, dass er sie überwacht.

Aber in vielen Ländern der Welt ist diese Annahme nicht richtig. Und wir müssen als Ökonomen überlegen, das ist die typische Vorgehensweise von Ökonomen: Wenn eine Annahme nicht zutrifft, was passiert dann? Das ist im Prinzip das Thema meiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Ich finde, das ist sehr relevant, das auch aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht zu betrachten.

Deutschlandradio Kultur: Werden wir gleich mal konkret, Stichwort Mali. Da hat das Stockholmer Institut 2011 gewarnt, das Land leide unter endemischer Armut und einem Mangel an staatlicher Autorität. Damit werde es zu einem zentralen Rückzugsraum für Terroristen. – 2011, wie gesagt. Offenkundig hat ja niemand zugehört.

Tilman Brück: Das ist leider so, dass oft, wenn es zu Problemen kommt, aber sie sich erst abzeichnen, die Staatengemeinschaft noch nicht bereit ist zu intervenieren. Ich denke, wir müssen in der Außen- und in der Sicherheitspolitik dazu übergehen, viel stärker präventiv zu denken, dass wir ganz früh ansetzen und mit subtileren Maßnahmen eingreifen und versuchen, Staatlichkeit aufzubauen an allen Stellen.

Ich nutze mal ein Beispiel von der Küste. Der Deichbau ist wichtig, damit das Land am Meer geschützt ist, dass der Deich überall mindestens gleich hoch ist. Denn wenn er an einer Stelle zu niedrig ist, dann schwappt das Wasser dort über. Es nützt also nichts, einen Deich an einer Stelle besonders hoch zu bauen. Und in der Sicherheitspolitik neigen wir dazu, an wenigen Stellen hohe Deiche zu bauen. Wir brauchen aber einen Deich, der global überall mindestens gleich hoch ist. Und wenn Orte wie Afghanistan oder Mali Rückzugsorte für Terroristen geworden sind, dann ist der Deich an der Stelle zu niedrig. Aber das kann man oft früh erkennen, nur leider wird dann erst eingegriffen, wenn das Wasser überschwappt. Dann ist es schwierig und kostspielig und manchmal zu spät, um überhaupt noch das Land zu retten.

Deutschlandradio Kultur: Ich will noch mal zurück zum Konkreten. Da hat man sich also mit Bezug auf Mali unter Ihrem Vorgänger in Stockholm Gedanken gemacht, die richtigen Gedanken. Werden die zu den Regierungen nicht kommuniziert? Interessiert die Regierungen das nicht? Da gibt es doch offenkundig Kommunikationslücken, die überbrückt werden müssten?

Tilman Brück: Ich denke, der Dialog funktioniert. Ich denke, die Regierungen wissen darüber, nicht zuletzt auch über ihre Botschaften. In dem ganzen nordafrikanischen Raum wussten sie, dass Mali eine Herausforderung ist, um es vorsichtig zu formulieren. Aber der politische Wille, dann einzugreifen und etwas zu tun, die Pläne zu ändern, die Staatsausgaben anzupassen, die Mitarbeiter da hinzuschicken, daran mangelt es dann oft erst. Und das passiert oft erst über die Medien. Erst wenn der Druck über die Medien stattfindet, wenn das Thema auf der Titelseite ist, dann fangen die Politiker an, richtig zu handeln und massive Veränderungen in ihrer Politik vorzunehmen.

Ich denke, das ist ein Problem. Daran müssen wir arbeiten, nicht das Institut als solches, sondern wir insgesamt in der Gesellschaft, dass wir mehr Aufmerksamkeit auf präventive Maßnahmen legen und früher eingreifen. Wir können dann, das ist das Gute daran, viel subtiler agieren. Wir müssen nicht gleich einmarschieren. Wir können auch mit anderen Maßnahmen versuchen, diese Sicherheitslücken im globalen System zu schließen.

Deutschlandradio Kultur: Da kommen wir später drauf zurück. Herr Brück, aber noch einmal zu Mali. Da hat der Westen doch die Dramatik unterschätzt. Das kann man doch so sagen?

Tilman Brück: Ja, das ist richtig. Und in gewisser Weise überschätzt er sie jetzt. Denn wenn wir Mali retten oder lösen oder befreien oder welche Vokabel wir auch benutzen wollen - die Terroristen gehen davon ja nicht weg. Die suchen sich das nächste Schlupfloch. Also, statt jetzt in Mali so richtig drauf zu hauen, sollten wir überlegen: Selbst wenn wir uns dort durchsetzen und selbst wenn wir das mit relativ wenig Einsatz schaffen und ohne Verlust von Leben unserer Soldaten, was kommt danach?

Wir müssen jetzt wieder präventiv denken. Was wäre das Land, was nach Mali das nächste Schlupfloch für die Terroristen wäre? Die sind ja sehr fit und klug. Die überlegen sich auch jetzt schon, wo sie als nächstes hingehen. Das heißt, wir müssen eigentlich jetzt alle anderen Löcher im System auch schon schließen. Erst wenn die geschlossen sind, ist es eigentlich richtig sinnvoll, in Mali massiv einzugreifen.

Deutschlandradio Kultur: Dazu passt eigentlich die nächste Frage ganz gut. Was ist denn eigentlich die bessere Geschäftsidee – Krieg oder Frieden?

Tilman Brück: Das hängt davon ab, wen Sie fragen. Krieg ist für wenige ein sehr gutes Geschäft. Und Frieden ist für viele ein gutes Geschäft, aber vielleicht nicht so deutlich profitabel. Jeder profitiert ein kleines Bisschen vom Frieden und ganz wenige profitieren eben sehr stark vom Krieg. Das ist das Problem.

Es gibt Akteure, die sich aktiv dafür einsetzen, dass Kriege geführt werden. Diese Staaten, die sie beliefern, die sie finanzieren, für die ist das ein sinnvolles Geschäft innerhalb ihrer eigenen Geschäftslogik. Das ist nicht gesellschaftlich sinnvoll, aber für sie individuell ist das sinnvoll.

Deutschlandradio Kultur: Deutschland gehört dazu.

Tilman Brück: Deutschland hat Firmen, die Güter liefern, die dann in Kriegen benutzt werden können. Ob wir das wollen, dass die dort eingesetzt werden oder nicht, sei dahingestellt. Aber gleichzeitig gibt es natürlich viele Menschen, praktisch alle Menschen in Deutschland, die davon profitieren, dass Deutschland eigentlich ein sehr friedliches Land ist und in Frieden mit seinen Nachbarn lebt. Aber es gibt wenig Akteure, die sich für diesen Frieden einsetzen. Und es gibt wenig gesellschaftliche Gruppen, die diesen Frieden repräsentieren, während Firmen und die Industrie, die haben alle ihre Verbände. Das ist eigentlich das Ungleichgewicht, was gesellschaftspolitisch gesehen insgesamt ein Problem ist.

Deutschlandradio Kultur: Wir sehen Jahr für Jahr steigende Rüstungsausgaben, obwohl die Zahl der Konflikte ja nicht unbedingt in jedem Fall zunimmt. Ist es trotzdem ein unumkehrbarer Trend?

Tilman Brück: Nein, unumkehrbar ist dieser Trend sicherlich nicht. Ich glaube, wir müssen zwei Arten von Trends unterscheiden. Das eine sind die Rüstungsausgaben. Immer noch sind ja die USA das Land in der Welt, was mit Abstand die allergrößten Rüstungsausgaben hat. China nimmt dramatisch zu, nicht zuletzt, weil die chinesische Wirtschaft wächst und die chinesische Führung versprochen hat, einen fixen Anteil am Bruttoinlandsprodukt in die Rüstung zu stecken. Bei vielen anderen Staaten sind die Ausgaben deutlich konstanter. Und in Deutschland überlegen wir ja sogar auch, ob wir nicht kürzen wollen bei den Verteidigungsausgaben. Aber diese Ausgaben dienen eigentlich eher der Sicherung des Status quo in Westeuropa, in Nordamerika, in den OECD-Staaten, also in den reichen westlichen Industrieländern.

Ein nur sehr kleiner Teil der Verteidigungsausgaben weltweit treibt eigentlich die Konflikte an, die wirklich aktiv sind, wenn wir vielleicht mal von Afghanistan im Moment absehen. Aber in Zentralafrika, in Südasien, in Südostasien gibt es viele, viele Konflikte, die sehr viele Tote leider hervorbringen jedes Jahr, die aber mit ganz geringer Intensität und mit sehr wenig Waffen geführt werden. Oft reicht es in Afrika, eine Machete zu besitzen, mit der dann Menschen umgebracht werden können oder verletzt werden können. Und diese Art von Ausgaben wiegen in der Statistik nicht sehr schwer, sind aber trotzdem deutliche Treiber von Krieg und Unsicherheit.

Deutschlandradio Kultur: Die Frage der Transparenz ist ja sicher auch nicht unwichtig. Es gibt Aufwendungen für Kriege, aber die Zahlen werden, das ist jedenfalls mein Eindruck und ich glaube, Sie sehen das ähnlich – zumindest habe ich da einiges von Ihnen drüber gelesen –, die Zahlen werden eher heruntergerechnet. Nehmen wir jetzt doch mal vielleicht das Beispiel Afghanistan. Wie sieht es da um die Transparenz aus, wenn es um die Kostenfrage geht?

Tilman Brück: Es ist sehr schwer zu definieren, was genau zu den Kosten eines Krieges oder auch insgesamt zu den Verteidigungsausgaben, was noch alles dazu gehört. Da haben wir in Deutschland zum Beispiel einmal den Etat des Verteidigungsministeriums, aber wir sehen am Beispiel Afghanistan, dass die Bundesregierung natürlich auch viele andere Ausgaben hat, weil Deutschland dort am Krieg beteiligt ist. Das Auswärtige Amt kümmert sich verstärkt nicht nur um Afghanistan selbst, sondern die ganze Region. Der Nachschub muss organisiert werden. Es müssen Überflugrechte organisiert werden. Wir müssen den Nachschub der Rebellen abschneiden etc., die Frage des Irans – also, die ganze Region wird zu einem diplomatischen Sonderfall, Sonderstatus. Dann gibt es die Entwicklungszusammenarbeit. Die erfordert dann zusätzliche Ausgaben in diesem Umfeld. Es entstehen Folgekosten der Soldaten, die dort eingesetzt worden waren, versehrt worden sind oder getötet worden sind. Es entstehen Kosten in den sozialen Sicherungssystemen, bei Arbeitsmarktunterstützung und Eingliederungshilfen.

Deutschlandradio Kultur: Wie ist so das Verhältnis der Zahlen, die uns genannt werden zu den realen, die all das, was Sie jetzt beschreiben, mit einrechnen würden?

Tilman Brück: Wir müssen unterscheiden zwischen den fiskalischen Kosten und den gesamtwirtschaftlichen Kosten. Wir können im Prinzip davon ausgehen, von jedem Euro, den die Bundesregierung als unseren Beitrag für den Krieg in Afghanistan ausgibt, kommt ein anderer Euro hinzu an sonstigen Ausgaben des Staates für den Krieg. Und dann kommt ein dritter Euro hinzu für sonstige Kosten des Krieges in unserer Wirtschaft. Also, das Verhältnis liegt ungefähr bei 1:3 von den Kosten, die im Bundeshaushalt genannt sind für den Krieg, und den gesamtwirtschaftlichen Kosten insgesamt, die anfallen, wenn wir uns für einen militärischen Einsatz entscheiden.

Deutschlandradio Kultur: Herr Brück, die Menschen fühlen sich bedroht, nicht nur dort, wo tatsächlich Konflikte entstehen oder in Gang sind, sondern auch hierzulande. Nach Ihrem Eindruck, wie kann man das Sicherheitsgefühl der Menschen erhöhen?

Tilman Brück: Ja, das ist ein Paradox, dass wir in Deutschland in einem der friedlichsten und am wenigsten bedrohten Länder der Welt wohnen in einer Epoche, in der es wenig Gewalt und wenig Krieg gibt, und doch ist das Sicherheitsgefühl der Menschen nicht so hoch, wie man hätte vermuten können.
Teilweise hat das mit dem Einfluss der Medien zu tun. Teilweise hat es mit der Fähigkeit der Menschen zu tun, diese Informationen zu verarbeiten. Es gibt deutliche Unterschiede zwischen ganz unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in der Wahrnehmung des Sicherheitsgefühls. Ich denke, es ist auch eine Frage, wie wir mit Bedrohung umgehen.

Zum Beispiel der Terrorismus: Die Deutschen haben eine große Sorge um den globalen Terrorismus, den islamistischen Terrorismus, obwohl die Wahrscheinlichkeit, ein tödliches Opfer von Anschlägen in Deutschland zu werden, extrem gering ist. Die Wahrscheinlichkeit, an einem Blitzschlag zu sterben, ist deutlich höher in Deutschland, aber wir machen uns relativ wenig Sorge um Blitz und Donner.

Ich denke, es ist wichtig, dass wir uns von den Terroristen nicht so sehr einschüchtern lassen. Das ist eigentlich genau das Ziel der Terroristen. Sie möchten uns Angst machen. Sie möchten Sorgen machen. Das ist der Hauptzweck. Es geht weniger ums Töten. Das ist nur ein Mittel zum Zweck für die Terroristen. Also, dieser alte Sponti-Spruch, stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin, könnte hierauf in gewisser Weise angewandt werden. Stell dir vor, es ist Terrorismus und keiner macht sich Sorgen drum. Das ist vielleicht etwas flapsig, aber gleichzeitig beschreibt es die Situation sehr realistisch. Wenn wir uns nicht erpressen lassen, wenn wir nicht reinfallen auf die Provokationen der Terroristen, sondern sehr sachlich, sehr ruhig bleiben, sehr unaufgeregt uns damit auseinandersetzen, dann haben wir eigentlich schon den halben Kampf gegen den Terrorismus gewonnen.

Deutschlandradio Kultur: Nun könnte man ja auch das subjektive Sicherheitsgefühl erhöhen – mehr Überwachungskameras, mehr Kontrollen an Flughäfen. Wir haben all das, aber all das lässt sich erhöhen. Aber da kommt man doch wahrscheinlich auch wieder in eine Kosten-Nutzen-Falle, wo man sehr abwägen muss, was man tut.

Tilman Brück: Ja, es ist eigentlich sehr gut bekannt aus der Forschung, dass die Erhöhung dieser Maßnahmen zum Beispiel an Bahnhöfen, an Flughäfen und in den Innenstädten, gerade Überwachungskameras, eigentlich eher nur das Sicherheitsgefühl steigern und nicht die Sicherheit, nicht die objektive Sicherheit. Also, es senkt nicht die Wahrscheinlichkeit, Opfer von Raub oder Diebstahl zu werden in den Innenstädten. Und gerade ältere Menschen schätzen es sehr, diese Maßnahmen zu haben. Und sie gehen lieber in die Innenstadt, wenn es dort Überwachungskameras gibt, zum Einkaufen oder zum Stadtbummel.

Ich glaube, es ist legitim, das Sicherheitsgefühl bewusst und direkt zu erhöhen, aber man muss hier ehrlich sein. Man muss der Bevölkerung sehr klar kommunizieren, dass diese Kameras eventuell dazu dienen, das Sicherheitsgefühl zu erhöhen und nicht die Sicherheit. Und ich finde, das Gefährliche ist, wenn wir das eine mit dem anderen vermischen. Wir brauchen eine ehrliche Diskussion, was nützt der Sicherheit? Und es gibt viele Maßnahmen, die nicht unbedingt die Sicherheit schützen. Und es gibt andere Maßnahmen, die erhöhen das Sicherheitsgefühl. Ich glaube, das auseinanderzutrennen wird in der Wissenschaft zunehmend getan, aber in der Politik und in der öffentlichen Diskussion noch nicht.

Wenn ich höre, es gibt eine Bedrohung, eine andere Sicherheitslage, ich sehe auf einmal die bewaffneten Polizisten am Hauptbahnhof, dann ist die Frage: Löst das bei mir nicht eher Sorge aus, als dass ich mich beschützt fühle? Ich kenne keinen Fall, in dem ein Terroristenanschlag von bewaffneten Polizisten unter Einsatz der Waffe verhindert werden konnte. Also, ich glaube, das ist eigentlich eine Demonstration der Macht. Es ist eine Demonstration des staatlichen Selbstbewusstseins oder vielleicht auch der staatlichen Reaktion auf die Provokation, dass sie sich von den Terroristen haben überraschen lassen und provozieren lassen. Also, ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich immer hilfreich ist.

Deutschlandradio Kultur: Die internationalen Konflikte sind zunehmend asymmetrisch. Wir stellen auch eine veränderte Kriegsführung fest, zum Beispiel die Kriegsführung mit Drohnen. Nun überlegt sogar die Bundesregierung, bewaffnete Drohnen einzuführen. Sinkt die Einsatzschwelle bei dieser Art von veränderter Kriegführung?

Tilman Brück: Ja, massiv. Drohnen verleiten dazu, einen scheinbar chirurgischen minimalinvasiven Krieg führen zu wollen. Ich bin mir nicht sicher, wie Drohnen in Deutschland in unsere Verteidigungspolitik, in unser Sicherheitskonzept eingebettet werden, welche Rolle sie dort erfüllen sollen. Ich denke, das wäre eine Frage, die die Politik erst beantworten müsste. Was ist das Bedrohungsszenario? Welches Problem sollen die Drohnen eigentlich beantworten? Bei der Technologie und den technischen Entwicklungen ist immer ein bisschen das Problem, es gibt neue Möglichkeiten, dann will man das haben. Aber eigentlich muss man erst innehalten und überlegen: Wozu dient das eigentlich? Und gibt es überhaupt kein Problem oder eine Bedrohung, die dadurch gelöst werden kann?

Deutschlandradio Kultur: Aber das ist ein generelles politisches Problem. Die Politik schafft in der Regel Fakten, trifft Entscheidungen. Und dann denkt sie über die Folgen dieser Entscheidungen nach.

Tilman Brück: Ja, das ist vielleicht sogar eine Stufe davor. Die Industrie entwickelt ja diese Technologien und bietet sie dann an. Und dann ist das Produkt da und der Kunde, in diesem Fall die Bundesregierung, überlegt, oh, vielleicht sollten wir das haben. Aber richtiger wäre es eigentlich zu überlegen, wovor können wir uns eigentlich schützen, wenn wir dieses Produkt kaufen würden für unsere Bundeswehr. Braucht die Bundeswehr das wirklich? Und möchten wir so Krieg führen wie die Amerikaner, mit einem Bundeswehroffizier irgendwo in Deutschland am Computer und den deutschen Drohnen, die dann irgendwo weltweit rumschwirren und unsere Gegner ausschalten? So genau sind die Drohnen dann doch nicht. Es werden auch Zivilisten getötet. Manchmal schlagen sie woanders ein oder es werden mehrere Leute getötet.

Und auch die Frage der Auswahl der Ziele, wer soll dadurch angegriffen werden, wer entscheidet das? Müssten deutsche Gerichte überprüfen, ob Drohnen jemanden angreifen dürfen? In den USA ist das eine extrem umstrittene Frage. Ich glaube, Deutschland täte gut daran, diese Fragen auch erst innenpolitisch zu klären. Was darf man damit eigentlich machen? Wo dürfen diese Sachen eingesetzt werden? Wo sind die Grenzen? Entscheidet zukünftig die Bundeskanzlerin über den Einsatz von Drohnen, der Verteidigungsminister? Da gibt es, glaube ich, Fragen, rechtliche Fragen, die politisch noch gar nicht in Deutschland diskutiert worden sind.

Deutschlandradio Kultur: Wir haben Mali schon angesprochen. Das Problem ist ja die mangelnde Staatlichkeit. Mit Blick auf Mali, aber auch darüber hinaus auf andere Länder: Nach Ihrem Ansatz, nach Ihren Ideen, wie lässt sich mehr Staatlichkeit schaffen in diesen Ländern?

Tilman Brück: Ich glaube, wir brauchen gleichzeitig einen Ansatz von unten und von oben. Wir müssen überlegen, Staatlichkeit hat manchmal auch mit ganz informellen Institutionen zu tun – in den Dörfern, in den Gemeinden vor Ort. Wie gehen die Leute miteinander um? Welche Regeln gibt es, die beachtet werden? Wer ist in Entscheidungen eingebunden? Welche Informationen gibt es – also, zum Beispiel Presse, Internetzugang, Telefon, Radio? Das sind alles Sachen, die man direkt vor Ort auch in der Entwicklungszusammenarbeit stärken kann – bis hin zu den Rechten der Frauen, mehr Selbstbestimmung, so dass die Menschen verantwortlicher, vertrauensvoller miteinander umgehen und offener, dass weniger Gewalt im Alltag herrscht, dass weniger Konflikte durch Gewalt ausgetragen werden. Das ist sozusagen die Politik von unten.

Gleichzeitig die Politik von oben, wie kann man helfen, die Polizei so zu organisieren, dass sie weniger korrupt ist, dass sie effektiver ist, dass die Gerichte wirklich entscheidungsfähig sind, dass das Militär sich möglichst aus der Politik raus hält, auch hier kann man durch Entwicklungszusammenarbeit, durch Partnerschaften und durch Unterstützung helfen, Prozesse zu verstärken und zu beschleunigen. Man kann sie nicht von außen übernehmen oder gar steuern, aber man kann Hilfe leisten und Unterstützung leisten.

Ich denke, das ist langfristig im gemeinsamen Interesse aller Staaten. Es stabilisiert nicht zuletzt auch Märkte. Es schafft Absatzmärkte. Es befriedet Regionen und Länder, schafft Vertrauen. Diese positiven Effekte haben auch so genannte externe Effekte. Sie setzen sich nach außen fort. Wenn ein Land stabiler wird, profitieren auch die Nachbarn davon. Es gibt Ansteckungseffekte zwischen Staaten dieser positiven Natur.

Also, es ist praktisch eine positive Spirale, die man in Gang bringen kann, von der alle profitieren, sowohl sicherheitspolitisch als auch wirtschaftspolitisch. Ich denke, man muss an mehreren Ebenen gleichzeitig ansetzen.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir doch mal bei dem Blick von unten. Sie haben sich ja in vielen dieser Länder aufgehalten. Wenn Sie mal eins herausnehmen und Ihre Arbeit dort ganz konkret beschreiben und was das zu tun hat mit dem, was Sie eben sagten, nämlich sozusagen die Schaffung von Staatlichkeit durch ganz konkrete Hilfe bei individuellen Projekten.

Tilman Brück: Ich möchte vielleicht ein Beispiel aus Mosambik bringen, wo über viele Jahrzehnte Bürgerkrieg geherrscht hat, erst, um unabhängig zu werden von den Portugiesen in der Kolonialzeit. Dann gab's einen blutigen Bürgerkrieg zwischen verfeindeten Gruppen im Land, der endlich 1992 sich aufgelöst hat, der Konflikt, und zum Frieden übergegangen ist.

In der Hauptstadt hat die Regierung gefeiert und die Geber und alle waren sich sicher, dass Mosambik eine positive Zukunft haben würde. Die Erwartungen sind sogar in Erfüllung gegangen, aber das war die Sicht aus der Hauptstadt damals. Und vor Ort in den Dörfern, weit weg von der Hauptstadt, überwog die Skepsis. Ich habe damals viele Orte besucht, vor Ort mit vielen Landwirten gesprochen über ihre Rolle und ihre Pläne und ihre Ängste und ihre Sorgen. Und ganz oft kam das Bild, dass sie gesagt haben, ich habe mein ganzes Leben im Krieg verbracht. Ich hab immer Krieg erlebt. Ich musste immer wieder fliehen und meine Familie schützen und retten. Und ich weiß jetzt schon, wenn der nächste Krieg startet, wo ich mich verstecken werde. Ich kann meine Sachen alle mitnehmen, mein Koffer ist praktisch gepackt. Ich kann sofort fliehen.

Das war zu einer Zeit, wo kein Mensch in den Hauptstädten der Welt dachte, dass dieser Krieg je wieder starten würde. Er ist auch nicht wieder gestartet, aber dieser Frieden ist bei den Menschen nicht angekommen. Sie hatten Angst und Sorge.

Und dann passierte ein zweiter Prozess. Die Solidarität, die im Krieg auch zwischen den Menschen geherrscht hatte, die den Zivilisten geholfen hatte, mit dem Krieg fertig zu werden, die ihr Überleben gesichert hat, zerbrach und das Individuum rückte in den Vordergrund. Man musste reicher werden. Man musste schnell Geld verdienen. Man musste sich durchsetzen gegen die anderen. Und das führte dazu, dass Kriminalität zunahm. Man musste sich in seinem Haus verbarrikadieren. Die Sachen waren nicht mehr sicher. Man hatte also einerseits Angst, dass der Krieg wieder startet, und hat dem Staat nicht getraut. Man hat dem Frieden nicht getraut. Und andererseits hat man den lokalen Institutionen nicht vertraut. Man hatte Angst, der Bürgermeister würde einen bestehlen. Man konnte sich nicht an die Polizei wenden. Die waren korrupt. Man hatte Angst vor den Nachbarn, die würden einem was stehlen oder was neiden. Und so gab es in vielen, und das wirkt bis heute nach, in vielen Dörfern in Mosambik eine Spirale nach unten – der Desolidarisierung, der Angst, der Sorge.

Das hat dazu geführt, dass viele Leute in die Städte gezogen sind oder einfach nur sehr stark sich auf sich selbst gestellt haben und versucht haben, nur an sich zu denken. Diese Spirale hat sich verstärkt. Ich denke, das ist nicht gut für eine Gesellschaft und es schafft auch keinen sozialen Frieden und es macht es auch schwieriger zu investieren. Es macht es schwieriger in die Zukunft zu schauen und in langfristigen Abschnitten zu denken.

Deutschlandradio Kultur: Also, Vertrauen schaffen ist wahrscheinlich das eine Wort, und in dem Fall Vertrauen schaffen zwischen Regierungen und den Individuen, wenn ich das mal so zusammenfassen darf, was Sie sagen, das wäre das Mikrolevel. Wenn wir auf das Makrolevel gehen, kommen wir zu den globalen Institutionen, zu den Vereinten Nationen. Spielen die nach Ihrer Ansicht eine angemessene Rolle? Könnte das besser werden?

Tilman Brück: Ja, natürlich könnte es besser werden. Man darf vielleicht die Vereinten Nationen nicht mit zu vielen Erwartungen überfrachten. Sie sind nur so stark wie die Mitgliedsstaaten erlauben, dass sie stark sind. Aber oft können gerade die Vereinten Nationen vor Ort eine wichtigere Rolle spielen als in New York, wo sich die Diplomaten dann gegenseitig verhaken in ihren komplizierten Verhandlungen.
Um bei dem Beispiel Mosambik zu bleiben: Da gab es eine ganz wichtige Friedensmission der Vereinten Nationen. Zwei Jahre lang ist das Land praktisch von den Vereinten Nationen regiert worden und auch besetzt gewesen mit Militär. Das war sehr wichtig, damit der Krieg beendet werden konnte. Und es hatte sehr positive Impulse. Aber es war viel zu kurz.

So eine Nachkriegszeit ist sehr fragil und sehr labil und es dauert, bis sich ein Land stabilisiert. Und mit einmal kam sozusagen der Einmarsch der Vereinten Nationen. Sie waren zwei Jahre da. Dann sind sie wieder abgezogen. Und das hat das Land in ein Wechselbad der Gefühle gestürzt. Ich glaube, sozusagen um diese Kette, die Sie eben sagten Makro/ Mikro, um das wieder zurückzudenken, auch globale Institutionen wie die Vereinten Nationen haben vor Ort eine wichtige Rolle. Und sie müssen auch dran denken, welche Wirkung sie vor Ort haben. Und sie müssen sich vor Ort sinnvoll einbringen, und sei es über einen längeren Zeitraum – vielleicht mit einer etwas kleineren Mission, aber deutlich länger, beispielsweise 10 Jahre, um das Land zu stabilisieren.

Wir sitzen hier in Berlin, im ehemaligen Westberlin. Wir wissen, wie lange die Stadt quasi fremdregiert wurde oder mitregiert wurde oder zumindest profitiert hat von der Anwesenheit ausländischer Streitkräfte, die intern für Frieden und Stabilität gesorgt haben. Und ich denke, ähnliche Modelle müssen wir auch in Entwicklungsländern planen und implementieren. Das erfordert aber einen sehr langen Atem der globalen Institutionen.

Deutschlandradio Kultur: Ich denke, dies alles wird Sie auch in den nächsten Jahren in Stockholm beschäftigen. Dazu viel Erfolg und eine glückliche Hand.

Tilman Brück: Danke schön.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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