Friedensforscher warnt vor neuem Wettrüsten

Im Gespräch mit Ernst Rommeney und Ulrich Ziegler · 09.06.2007
Der Friedensforscher Harald Müller hat vor einem neuen Wettrüsten gewarnt. Durch das wirtschaftliche und militärische Aufschließen von China, Indien und Russland drohe ein multipolarer Großmachtkonflikt mit den USA, sagte Müller, Geschäftsführendes Mitglied des Vorstandes der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Dieses Risiko sei nur durch stetige Rüstungskontrollen einzudämmen.
Harald Müller: Bis zu einem gewissen Grad sicher. Was in Europa entsteht, ist zunächst natürlich keine direkte Bedrohung Russland, aber es steht in einem strategischen und geostrategischen Kontext. Russland hat seit dem Ende des Kalten Krieges die NATO-Erweiterung bis an die eigenen Grenzen gesehen. Es sieht eine amerikanische Präsenz, die im Grunde den ganzen südlichen Bogen der russischen Grenze umfasst. Dort sind die Amerikaner massiv militärisch da. Und sie wissen natürlich, dass das, was in Osteuropa entstehen soll, Teil eines Ganzen ist, eines Projekts, das seit Ronald Reagan die Republikaner in den USA beschäftigt, nämlich Amerika unverwundbar zu machen.

Es wäre vielleicht nicht das Schlimmste, wenn es sich mit einem entschlossenen Übergang zur Defensive kombinieren ließe. Aber wir haben gerade das Gegenteil erlebt. Wir haben festgestellt, dass die Vereinigten Staaten offensiv enorm aufgerüstet haben. Sie sind ja das einzige Land der Welt, das in der Lage ist, den Krieg des 21. Jahrhunderts militärisch zu führen und zu gewinnen. Die Vereinigten Staaten bauen durchaus auch die technischen Fähigkeiten ihrer strategischen Intensivwaffen aus. Das gibt ein Gesamtbild, das für Russland bedrohlich ist. Und Russland – mit Putin an der Spitze – hat diesen Casus belli gewählt, weil es sich davon verspricht, auf westeuropäischer und vielleicht auch auf osteuropäischer Seite Verbündete zu gewinnen, die es im direkten Dialog mit den Vereinigten Staaten nicht hat. Das ist ein taktischer Zug, der nicht unklug ist.

Deutschlandradio Kultur: Aber noch mal konkret: Sind denn die Fronten zwischen den USA und Russland im Moment so verhärtet, dass gar nichts geht? Oder gibt es möglicherweise auch kleine Fenster? Denn sowohl der amerikanische als auch der russische Präsident haben ja gesagt, wir könnten ja vielleicht in irgendeiner Form auch gemeinsam zusammenarbeiten.

Müller: Die amerikanisch-russischen Beziehungen sind sicher in einer Grauzone. Sie sind gekennzeichnet von einer Melange aus Kooperation und Konflikt. Es gibt natürlich auf beiden Seiten ein Interesse, es nicht zu einem großen Kladderadatsch kommen zu lassen. Putin nutzt diese Situation aus, in der er sich stark fühlt aufgrund der hohen Energieeinnahmen, die Russland aus den Erdgas- und Erdölexporten erzielen kann. Und er versucht das zu nutzen – in meinem Urteil –, um mit den Vereinigten Staaten wirklich auch ein Geschäft zu machen.
Das Angebot, die Überlegung, ein solches Raketenabwehrsystem unter Umständen gemeinsam aufzubauen und zu betreiben, ist ernst zu nehmen. Man wird es ausloten müssen. Es wird im besten Fall nicht einfach sein, weil auch die Erfahrungen der NATO-Verbündeten die ist, dass die Vereinigten Staaten Kooperationen gerne entgegennehmen, aber beim Teilen der Technologie sehr eigen sind. Wenn Russland in ein solches System einsteigen würde, wäre das sicher als Gleichberechtigter, das heißt, mit vollem Technologieteilen. Das ist für die Amerikaner eine enorm hohe Hürde. Selbst wenn man sich grundsätzlich einigt, man macht das zusammen, ist damit die Sache noch nicht in den trockenen Tüchern. Aber – ich sage es noch mal – die Chance ist sicher da.

Deutschlandradio Kultur: Aber wie kommt man denn aus diesem Dilemma raus, das Sie benannt haben?

Müller: Die Grundfrage ist natürlich: Braucht man diese Raketenabwehr überhaupt, die nicht funktioniert? Die Frage ist von den Vereinigten Staaten parteiübergreifend mit Ja beantwortet worden. Das ist der erste bedauerliche Fakt. Man kann immer hoffen, dass das Schiefgehen der Technik den Amerikanern, die ja im Großen und Ganzen vernünftige Leute sind, irgendwann das Signal gibt, dass man vielleicht doch nicht weitergeht. Aber nehmen wir mal an, das geht voran, dann wäre sicher die beste Möglichkeit zu sagen, wir verbinden das Ganze mit einer Abrüstungsinitiative. Wir sind bereit, hier völlig neu zu denken. Wir sind bereit, an dem entlang zu denken, was Henry Kissinger u.a. im Januar im Wallstreet Journal geschrieben haben, nämlich die offensiven Nuklearkapazitäten wirklich abzurüsten. Und wir sind auch bereit, westlicherseits Schritte zu unternehmen, die Russland und letzten Endes auch China die Furcht vor der fulminanten militärischen Überlegenheit des Westens nehmen.

Sie müssen sich vorstellen, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, die in Europa und die in Asien, bringen zusammen 77 Prozent der Weltmilitärausgaben. So etwas hat es überhaupt noch nicht gegeben, dass ein Bündnis derartig brutal überlegen war. Wir müssen also hier Schritte unternehmen, vor allen Dingen Schritte in Vertrauensbildung und Abrüstung, die diese Befürchtungen etwas dämpfen.

Deutschlandradio Kultur: Warum soll es jetzt stattfinden? Und warum sollen die anderen mitmachen? Wir haben ja eher den Eindruck, als ob Amerikaner und auch die Russen aufrüsten.

Müller: Wir haben es in der Tat – und da haben Sie die Grundschwierigkeit benannt – mit einer Regierung in der Weltführungsmacht zu tun, die so katastrophal ist, wie wir das von Amerika noch nie gesehen haben. Ich bin weit davon entfernt, des Antiamerikanismus verdächtig zu sein, aber die Vereinigten Staaten haben ihre Riesenchance, nach dem Kalten Krieg multilaterale Weltführung zu leisten, die das gesamte Gefüge der Weltpolitik stabilisiert, in einer unglaublichen Weise verschlampt. Und sie haben die Weltordnung in den letzten sechseinhalb Jahren unter Präsident Bush so gründlich durcheinander gebracht, wie es Osama Bin Laden selbst optimalem strategischen Einsatz nicht zustande gebracht hat.

Wir müssen diese Regierung aussitzen. Sie beginnt ihre Fehler einzusehen, aber sie ist ideologisch viel zu sehr in den Schützengräben, um da noch wirklich grundlegend Besserung zu erzielen. Also müssen wir auf die nächste warten.

Ich habe ein großes Grundvertrauen in die Grundvernünftigkeit der Amerikaner. Das habe ich schon gesagt. Die amerikanische Politik ist wie ein Pendel. Der Ausschlag, den wir gesehen haben, war besonders heftig. Er wird zurück zur Mitte gehen. Und man sieht das, wie es sich im Kongress anbahnt. Man sieht es, wie es sich in der Republikanischen Partei anbahnt und in der Wählerschaft – nachweislich der Umfragen. Also, das wird besser. Damit entstehen auch größere Chancen, auch größere Chancen für wichtige und auch verlässliche und geschätzte Verbündete, wie das die Bundesrepublik darstellt, vor allen Dingen unter der gegenwärtigen Koalition und unter der Bundeskanzlerin, Hinweise zu geben, Richtungen vorzuschlagen, die auch für den amerikanischen Bündnispartner in Zukunft akzeptabel sein werden.

Ich habe überhaupt keinen Zweifel daran, dass die Rüstungskontrolle, die im Moment vollkommen an die Peripherie gedrängt ist und von der viele glaubten, sie sei bereits zum Tod verurteilt, in zwei Jahren wieder im Zentrum amerikanischer und westlicher Sicherheitspolitik stehen wird, weil man einfach sieht, dass es anders nicht geht. Die Vorstellung, das ist alles kaltes Kriegszeug, passt nicht auf die heutige Welt, ist völlig unsinnig, wenn man feststellt, dass ein neuer Rüstungswettlauf ja schon im Gange ist, dass neue Instabilitäten drohen, dass wir am Horizont eine Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und China in Asien aufziehen sehen, dass wir sehen, dass China mit viel höheren Wachstumsraten als die Vereinigten Staaten wächst, dass das bedeutet, dass in 15, 20, 30 Jahren China mit den USA auf Augenhöhe ist, das heißt auch militärisch, dass Russland wieder da ist, dass Indien wächst. Das heißt, wir haben durchaus wieder das Risiko eines dieses Mal multipolaren Großmachtskonflikts. Den kriegen Sie überhaupt nicht irgendwie stabilisiert, wenn Sie nicht an die Rüstungskontrolle gehen.

Deutschlandradio Kultur: Aber sind nicht auch die Russen – jedenfalls in letzter Zeit scheint man den Eindruck zu haben – mittlerweile an Abrüstung desinteressiert? Man könnte sagen, der alte Schrott, die alten Raketen sind alle weg und jetzt, wo man sich auf einem neuen Niveau gefunden hat, denkt man an Modernisierung. Es reut die Russen, dass die Mittelstreckenraketen nicht mehr da sind und sie überlegen, ob sie im Bereich der Langstreckenraketen, der Beschränkung der Gefechtsköpfe und dergleichen mehr weitermachen wollten. Das heißt, die Luft ist raus, auch bei den Russen.

Müller: Also, da würde ich mal abwarten, was Russland sagt, wenn die Vereinigten Staaten mit einer vernünftigen Stabilisierungsinitiative kommen. Da bin ich ganz optimistisch. Es wird kein russischer General, auch schon gar nicht Herr Putin die Illusion haben, dass er wieder in die Vorhand kommen könnte. Dazu langt einfach eine Wirtschaft, die sich ausschließlich auf den Primärsektor abstützt, nicht aus. Das ist ja keine moderne Wirtschaft, sondern es ist eine Rentenökonomie, die ausschließlich davon lebt, dass im Moment aufgrund der Weltmarktbedingungen Öl und Gas teuer ist. Ich habe über Energiepolitik in den 70er Jahren promoviert. Ich habe das alles schon mal gesehen. Ich habe damals die Prognosen gesehen, dass der Ölpreis linear oder gar logarithmisch nach oben geht, Prognosen von Leuten, die nicht verstehen, wie der Markt funktioniert.

Wir werden sehen, dass in den nächsten zehn Jahren andere Energien und auch anderes Öl und anderes Gas auf den Markt kommen. Und wir werden sehen, dass die Nachfrage gedrosselt wird, und zwar auch in den Wachstumsländern wie China und Indien. Es wird dort auch eine Abkoppelung von Wirtschaftswachstum und Energiewachstum stattfinden und Russland wird erleben, was es schon mal in den 80er Jahren erlebt hat und was die arabischen Ölproduzenten in den 80er Jahren erlebt haben, einen völlig unerwarteten Einbruch der Rohölpreise. Dann ist es mit der Weltmachtherrlichkeit auch schon vorbei. Und außer der Energie und einer Waffenproduktion, die auch inzwischen zweitklassig ist, hat Russland nichts anzubieten. Das weiß der Putin auch und das wissen seine Generäle. Deswegen werden sie, wenn ein vernünftiges Angebot aus den USA kommt, im Interesse der eigenen Sicherheit im Zweifelsfall Ja sagen. Ich rechne damit auch im Falle Chinas, um das noch hinzuzufügen, obwohl China bessere Ausgangsbedingungen hat.

Deutschlandradio Kultur: Sie werden ja in der nächsten Woche gemeinsam mit anderen Forschungsinstituten Ihr Gutachten vorlegen. Der Schwerpunkt Abrüstungsinitiative ist von Ihnen genannt worden. Welche Rolle könnten die Europäer in diesem Zusammenhang spielen?

Müller: Das ist eine Frage, die mich zu einer äußerst gespaltenen Antwort veranlasst. Die Europäer haben in den letzten Jahren im Grunde eine ganz wesentliche Rolle gespielt, wenigstens noch die Trümmer zu bewahren. Die haben zum Beispiel dafür gesorgt, dass im Rahmen der Biowaffenkonvention, die von den Vereinigten Staaten fast ruiniert worden ist, durch die Absage an das wichtige Projekt, diese Konvention mit einem Verifikationssystem zu versorgen. Sie haben dafür gesorgt, dass es da ein Leben nach dem Tode gab. Das heißt, dass es kooperative Aktivitäten der Mitgliedsstaaten gab, wie man zum Beispiel das Abkommen implementiert, wie man intern dafür sorgt, dass gefährliche potenzielle Kampfagenzien nicht in die Hände von Terroristen fallen – eine Reihe von vernünftigen Aktivitäten, die dazu geführt haben, dass dieses Abkommen noch lebt. Das kann man in einer Reihe von anderen Rüstungskontrollfeldern auch zeigen, wo die Europäer im Grunde die Bannerträger in ganz schwerem Wetter gewesen sind.

Gespalten ist die Antwort dennoch, weil – wenn es an das wichtigste Thema, nämlich die Nuklearwaffen, geht – die Europäer tief gespalten sind, wie eine alte Eiche, in die der Blitz gefahren ist. Wir haben Großbritannien und Frankreich, genau wie die übrigen europäischen Staaten größenwahnsinnige Gartenzwerge, deren Größenwahnsinn außer auf ihrem Sicherheitsratssitz auch auf ihren nuklearen Kapazitäten beruht, die sicherheitspolitisch überhaupt nicht zu begründen sind, die aber einerseits aus Statusgründen und zum anderen wegen dem doch beträchtlichen Einfluss der militärischen und nuklearen Bürokratien offensichtlich nicht aufzugeben sind. Solange das der Fall ist, spricht Europa in Fragen der nuklearen Abrüstung nicht mit einer Stimme und nimmt auch ein Land wie die Bundesrepublik eine – wie ich finde – übergroße Rücksicht auf diese im Prinzip völlig rücksichtslosen und verantwortungslosen Politiken der europäischen Verbündeten. Das ist einfach schlecht.

Ich würde mir hier wünschen, in diesem einen Themenfeld, dass die Bundesrepublik gelegentlich den Mut hätte, sich von den anderen Europäern, von den beiden Kernwaffenstaaten nämlich, wegzubewegen und mit anderen Nichtkernwaffenstaaten, die aktiv sind, wie – sagen wir – Südafrika oder Malaysia oder Argentinien oder Mexiko, Schweden, Irland, also auch europäische Partner, zusammenzugehen und zu sagen: Bis hierher und nicht weiter! Wir sehen, dass die Welt schrittweise auf eine Lage zuläuft, die dem Albtraum von Präsident Kennedy von 1961 entspricht, 30, 40 Kernwaffenstaaten. Das ist überhaupt nicht mehr zu kontrollieren. Wir sehen, dass Frankreich und Großbritannien dazu massiv beitragen. Und wir fordern eine Umkehr. Das würde ich mir wünschen. Wenn man dann die europäischen Kernwaffenstaaten zu einer etwas flexibleren Politik bewegen könnte, könnten wir auch gegenüber den anderen Kernwaffenstaaten gemeinsame Positionen haben. Aber das steht in diesem einen Feld ganz massiv im Wege.

Deutschlandradio Kultur: Welche Rolle spielt dabei das Iranproblem? Wir reden ja immer über die möglichen Atomwaffen des Iran. Aber so, wie ich Sie jetzt verstehe, gibt es noch eine zweite Seite, die friedliche Nutzung der Kernenergie, die durchaus spannend sein könnte für die Dritte Welt oder für alle Nichtkernwaffenstaaten. Worin könnte da die Lösung bestehen?

Müller: Um das noch mal zu verklaren, was ich gerade sagte: Die Kernwaffenstaaten, einschließlich der beiden Europäer, geben dem Rest der Welt ein leuchtendes Beispiel, dass Kernwaffen a) militärisch nützlich und b) politisch wichtig sind. Dieses Signal ist eindeutig und es läuft natürlich dem erklärten Ziel, die Nichtverbreitung von Kernwaffen zu betreiben und zu unterstützen, total zuwider. Das Signal wird anderswo so übrigens auch gehört und wahrgenommen.

Die friedliche Nutzung der Kernenergie ist in großen Teilen der Dritten Welt eine populäre Idee. Man muss da völlig aus dem deutsch-österreichischen Antinuklearismus herausdenken. Das mag für uns gut und richtig sein. Wir können es auch machen, aber in Indien, in Indonesien, in Malaysia, in Vietnam, in Südafrika ernten wir damit keinen Blumentopf. Die stellen sich die Kernenergie als einen Teil der Energiegrundversorgung vor und sie arbeiten darauf zu.

In diesem Zusammenhang sind Ideen, Pläne, Vorschläge, wie sie in der Iranfrage westlicherseits – vor allen Dingen seitens der USA – auf den Tisch gebracht worden sind, nämlich die friedliche Nutzung der Kernenergie anderswo zu beschränken, Brennstoffkreislaufaktivitäten anderswo zu verbieten und mit einem Embargo dieses Verbot auch durchzusetzen, extrem unpopulär. Ob das Brasilianer oder Argentinier sind, ob Südafrikaner oder Ägypter, ob Malaysier oder Indonesier, die gehen ganz scharf rechts ran, wenn irgendwo die Idee vertreten wird, im Gefolge oder unter dem Vorwand der Irankrise, jetzt sozusagen den Deckel auf die Kernenergieentwicklung in der Dritten Welt zu setzen. Das läuft nicht. Und wenn wir das ernsthaft von Seiten des Westens betreiben würden, würden wir damit endgültig das Nichtverbreitungsregime in die Luft sprengen. Ich kann davon nur abraten.

Deutschlandradio Kultur: Sie wollen doch mehr. Sie wollen doch nicht nur das Gespräch, Sie wollen ein Pilotprojekt mit dem Iran, ein Pilotprojekt, das zukunftsweisend ist: Wie stellt man unter multinationaler Kontrolle für die Atomkraftwerke Kernbrennstäbe her? Und können das auch die Produzenten in eigener Regie machen, ohne von den großen Industrienationen des Nordens abhängig zu sein, die Atomwaffen haben?

Müller: Ich denke jetzt mal ein bisschen mit Fantasie und Utopie. Unter welchen Umständen wäre eine Anreicherungsanlage in Iran gewissermaßen friedensverträglich?

Sie wäre es dann, wenn sie multinational betrieben würde, im Rahmen einer kernwaffenfreien Zone im Nahen und Mittleren Osten, das heißt, unter israelischer Beteiligung, auf einem Gelände, das extraterritorial angelegt wäre. Das heißt, der Iran stellt dieses Gelände zur Verfügung unter Regie und Kontrolle der internationalen Atomenergieorganisation, die einen Zugang zu dieser Anlage hat, der die bisherigen Sicherungsabkommen bei Weitem übertrifft und wo jeder Versuch des Sitzlandes, hier irgendwie faul zu spielen, einen erheblichen Gewalteinsatz bedingen würde, damit die Konfrontation mit der gesamten internationalen Gemeinschaft, und zudem von denjenigen, die in der Anlage arbeiten, wenn sie das unbedingt wollen, auch sabotiert werden könnte. So stelle ich mir das vor.

Das verlangt natürlich nicht nur vom Iran was. Das verlangt auch zum Beispiel von Israel was. Es verlangt auch was von den Vereinigten Staaten. Mit einem solchen Vorschlag könnte man vielleicht den Iran nicht gewinnen, aber man könnte die iranische Elite komplett in ihre Einzelteile zerlegen. Weil für manche wäre das extrem attraktiv. Für andere wäre es wirtschaftlich lukrativ und für Dritte wäre es der Pakt mit dem Teufel, nämlich für diejenigen, die im Moment die Regierung stellen. Aber man hätte denen ihre Unterstützungsbasis weitgehend weggenommen und man hätte einen Trend, der im Iran sowieso sichtbar ist, nämlich die schrittweise Isolierung der Gruppierung Ahmadinedschad innerhalb der politischen Elite Irans, weit vorangetrieben. Und das ist, denke ich mal, letztlich der einzige Weg, auf dem eine Nichtverbreitungspolitik in dieser Region Erfolg haben würde.

Deutschlandradio Kultur: Also nicht Konfrontation, sondern Diplomatie, wie auch immer. Das ist der eine Weg, den auch Europa eigentlich verstärkt sucht.

Müller: Richtig.

Deutschlandradio Kultur: Wenn es aber um die Bekämpfung des internationalen Terrorismus geht, gibt es auch andere Wege, beispielsweise Afghanistan – man interveniert einfach. Deshalb noch mal da die Frage: Wird denn eigentlich unsere nationale Sicherheit wirklich auch am Hindukusch und anderswo verteidigt?

Müller: Man wird ja sehr nachdenklich, wenn man nach sechs Jahren die Bilanz gerade dieses Einsatzes zieht, von dem ich zugeben muss, ihn auch unterstützt zu haben. Wann hat Militär gegen Terrorismus überhaupt Sinn? Es hat dann Sinn, wenn der Terrorismus aus seiner Gestaltlosigkeit heraustritt und sich sozusagen territorial konkretisiert, wenn man den Terrorismus an einer bestimmten Stelle lokalisieren kann – etwa in Gestalt eines Hauptquartiers, in Gestalt von Ausbildungslagern, in Gestalt von Waffenlagern, von Laboratorien. Das war 2001 ganz zweifelsohne in Afghanistan der Fall. Deswegen war es legitim, das auch zu bekämpfen.

Ob man über die Zerstörungen dieser Einrichtungen hinaus klug daran getan hat, das zu einer gigantischen und eigentlich gar nicht mehr durchschaubaren Mischung von Kampfeinsatz, Staatenbildung, Umkrempelung einer traditionalen Gesellschaft in moderne Demokratisierung, Polizeiaktion und vieles mehr zu machen, ich glaube, da muss man heute Zweifel dran haben. Wir haben es jedenfalls nicht gehebelt.

Deutschlandradio Kultur: Brauchen wir eine Exit-Strategie?

Müller: Ich fürchte beinahe, ja. Ich hasse es, das zu sagen, weil möglicherweise dabei auch nichts Gutes herauskommt, sondern weil wir wieder ein Afghanistan haben, was in die 90er Jahre zurückfällt. Ich würde mir auch nicht anmaßen wollen, das jetzt in diesem Interview gewissermaßen ex Friedensforscher cathedra, als den richtigen Weg zu bezeichnen.

Was ich mir wünschen würde, wäre eine gründliche und unparteiliche Untersuchung, nicht nur dieses Einsatzes, sondern der gesamten Bilanz der Auslandseinsätze der Bundeswehr. Ich bin der Meinung, dass der Bundestag eine Enquetekommission einsetzen sollte, die das macht. Eine Enquetekommission hat den großen Vorteil, dass sie im Unterschied zum Bundestag und auch natürlich im Unterschied zur Regierung nicht dadurch vorbelastet wäre, dass die Beteiligten selbst verantwortlich sind für das, was da passiert, und deswegen im Grunde gezwungen sind zu sagen: Eigentlich war alles gut und richtig. Das wäre notwendig. Eine solche Kommission könnte dann nach einer gründlichen Prüfung der Bilanz und der Aussichten vielleicht tatsächlich zu dem Schluss kommen zu sagen: Im Vergleich der beiden Übel, die entstehen, wenn wir dort bleiben oder wenn wir rausgehen, ist das Rausgehen das geringere. Aber das würde ich gerne einer solchen Untersuchung vorbehalten.

Bündnisfähigkeit, Partnerdruck darf in diesen Überlegungen überhaupt keine Rolle spielen. Warum? Weil wir damit die Demokratie natürlich völlig entkernen, wenn irgendwo in Brüssel entschieden wird, ihr habt da mitzumachen und dann unsere Exekutive nach Berlin marschiert und im Parlament sagt, ihr dürft da eigentlich überhaupt nix mehr sagen, denn wir verlieren unsere Bündnisfähigkeit, wenn nicht. Das ist eine Entkernung der Demokratie in einem ihrer wichtigsten und vornehmsten Themen, nämlich der Entscheidung zwischen Krieg und Frieden, die absolut nicht tolerabel ist, die aber bei uns gerade sehr stark ist.

Deutschlandradio Kultur: Wer entscheidet heute über Krieg und Frieden?

Müller: Im Prinzip der Deutsche Bundestag, was die deutsche Beteiligung angeht.

Deutschlandradio Kultur: Und tatsächlich?

Müller: Tatsächlich ist mein Eindruck, dass der Deutsche Bundestag sich von der Exekutive unverträglich unter Druck setzen lässt, letztlich nicht wirklich prüft, ob die Sache Sinn macht oder nicht. Ich bin der Meinung, das Parlament muss sich hier, auch gegenüber einer von der Parlamentsmehrheit getragenen Exekutive, seinen eigenen Entscheidungsspielraum wiederholen. Das halte ich für eine der vordringlichsten Aufgaben unserer Demokratie.

Deutschlandradio Kultur: Spielen Sie da als Friedensforscher eine Rolle? Es gibt zu jedem Gesetz eine breite Anhörung von vielen, vielen Experten. Werden die Friedensforscher geholt, bevor man eine solche Entscheidung trifft?

Müller: Die Frage, die Sie da stellen, ist in der Tat fundamental wichtig. Ich wüsste nicht, dass es solche Anhörungen vor Militäreinsätzen gegeben hätte. Und ich bin der Meinung, es müsste sie geben. Gerade dazu müsste es sie geben. Ich werde zu anderen Fragen angehört. Also, in Fragen der Rüstungskontrolle und Abrüstung habe ich viele Auftritte vorm Parlament gehabt. Da werde ich auch im Auswärtigen Amt oder im Verteidigungsministerium gehört. Was die Auslandseinsätze der Bundeswehr angeht, ist mein Eindruck, die Exekutive betrachtet das als ihre Domäne und das Parlament ist letzten Endes mehr oder weniger bereit es auch anzuerkennen und man will die Öffentlichkeit in dem Entscheidungsprozess nach Möglichkeit außen vor lassen, weil das die Sache nur noch schwieriger macht.

Deutschlandradio Kultur: Passiert es Ihnen da nicht manchmal in so einer ganz stillen Stunde, dass Sie denken: Vielleicht wäre es doch nicht so schlecht, wenn ich noch eine Unterschrift bei Attac leisten würde, um Politik zu bewegen?

Müller: Wissen Sie, ich glaube, ich habe meine Entscheidung relativ früh getroffen – entweder Wissenschaftler zu sein oder Politiker oder Aktivist. Als Wissenschaftler spiele ich meine bestimmte Rolle. Wenn man diese Rolle mit der Rolle des Aktivisten oder der Rolle des Politikers vermischt, dann beginnt man – glaube ich – andere Brillen aufzusetzen und man verliert die notwendige Distanz von den Dingen, die unerlässlich ist, um auch als Wissenschaftler gegen den Strich zu denken. Deswegen würde ich Ihnen zugeben, dass in meinen schwachen Momenten die Versuchung da ist, aber dass ich der in meinen starken Momenten immer widerstanden habe.

Deutschlandradio Kultur: Prof. Harald Müller, wir danken für das Gespräch.

Müller: Sehr gerne.