Sporthistoriker Lorenz Peiffer

Rehabilitation und Aufarbeitung von Unrecht ist wichtig

13:42 Minuten
Zwei Frauen betrachten die Skulptur der Leichtathletin Gretel Bergmann.
Gretel Bergmann gehörte in den 1930er-Jahren zu den besten Hochspringerinnen der Welt. Das NS-Regime verhinderte ihren Start bei den Olympischen Spielen mit hinterlistigen Manövern. © Picture Alliance / dpa / Jörg Carstensen
Moderation: Thorsten Jabs |
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Lorenz Peiffer hat jüdische Sportler in der NS-Zeit erforscht: Deutschland habe sie aktiv vergessen gemacht, inzwischen würden sie aber wieder in die Geschichte geschrieben. Gut so, sagt der Sporthistoriker, auch für die Gesellschaft heute.
Thorsten Jabs: Eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Sportgeschichte hat die Broschüre "Jewish Allstars. Deutsche Sportidole zwischen Erfolg und Verfolgung" auf innovative Weise aufgearbeitet. Darin werden 17 Athletinnen und Athleten in einem Sammelkartenformat porträtiert, die eines verbindet: ihre jüdische Herkunft. Auch in den USA wird jetzt zunehmend die rassistische Geschichte des Sports aufgearbeitet, um beides soll es jetzt gehen.
Herr Peiffer, der US-Forscher Dan Durbin spricht von einer Geste der Wiedergutmachung. Wie wichtig ist solch eine Geste?
Peiffer: Ich halte diese Geste für unglaublich wichtig, auch in der heutigen Zeit, die ja immer wieder geprägt ist durch Ausgrenzung, durch Rassismus und ähnliche Vorkommen. Es ist ja nicht nur so, gehen wir mal auf unsere jüdischen Sportlerinnen und Sportler ein, dass sie aus der deutschen Sportorganisation – auch die jüdische Sportorganisation war ja eine deutsche Sportorganisation – ausgeschlossen worden sind. Ihre Namen, ihre Organisationen sind ja auch aus dem kollektiven deutschen Sport- und Gesellschaftsgedächtnis getilgt worden. Das ist der Punkt.


Man hat sie schlicht und einfach vergessen oder man hat sie vergessen gemacht, das ist ja ein sehr aktiver Prozess gewesen. Ich denke, es ist jetzt ganz wichtig, auch im Sinne der Opfer – viele von denen leben zwar nicht mehr, aber die Nachfahren leben – und es ist auch etwas, was wir für unsere Gesellschaft brauchen, dass man an diese Opfer wieder denkt und dass wir sie auch wieder in die deutsche Geschichte, in die deutsche Sportgeschichte, in die deutsche Gesellschaftsgeschichte integrieren. Man kann auch sagen wieder hineinschreiben, das ist ja auch unser aller Anliegen, die sich ja so mit diesen Fragen auseinandersetzen: Wir möchten sie wieder zum Teil unserer deutschen Geschichte machen, und das in allen Bereichen.
Von daher finde ich das, was in Amerika läuft – und man hat dort in Amerika ja mit dieser Hall of Fame des Baseballs, das gibt es ja für alle Sportarten, eine ganz bedeutende Einrichtung. Und wenn man dort selektiv arbeitet, die Farbigen dort nicht aufnimmt, dann ist das natürlich auch ein ganz klares gesellschaftliches Signal bislang gewesen: Es gibt nach wie vor noch die Trennung auch im Bereich des Sports und wenn man das jetzt versucht aufzubrechen und auch zu korrigieren, dann macht man einen ganz wesentlichen Schritt.

Junge Fans recherchieren und erinnern

Jabs: Also glauben Sie, dass es auch heutzutage dazu beitragen kann, innerhalb einer Gesellschaft gegen Rassismus und Antisemitismus vorzugehen, wenn man so etwas rückwirkend anerkennt?
Peiffer: Ich gebe die Hoffnung nicht auf, muss ich Ihnen sagen. Es freut mich und ich bewundere die jungen Menschen, gerade die Fangruppierungen im Bereich des Fußballs, die sich darum bemühen, in ihren Vereinen zu schauen: Hatten wir jüdische Spieler in unseren Reihen; die teilweise ja mit wirklich großartigen Choreografien in den Stadien an diese jüdischen Spieler erinnern und sie zurückholen auch in die Vereinsgeschichte.
An der Tausend-Freunde-Mauer vor der Veltins-Arena in Gelsenkirchen betet Rabbiner Chaim Kornblum stehend vor der Gedenktafel. Im Hintergrund Spieler und Fans des FC Schalke 04. 
Schalke 04 weihte 2013 an der Tausend-Freunde-Mauer eine Gedenktafel für jüdische Mitglieder ein, die während des NS-Regimes verfolgt wurden. Hier Rabbiner Chaim Kornblum beim Gebet vor der Gedenktafel.© imago sportfotodienst / Team 2
Ich bin ja Historiker, und ich gebe auch die Hoffnung nicht auf, dass man aus der Geschichte lernen kann, wenn man nur darüber nachdenkt, was Rassismus, was Ausgrenzung von Menschen in der Gesellschaft bedeutet, welche Konsequenzen es hat. Wenn ich dann sehe, wie gesagt, dass junge Menschen sich um diese Probleme kümmern und initiativ werden, dann finde ich das eine ganz tolle Sache, und dann haben wir in diesen Bereichen zumindest etwas richtig gemacht.
Jabs: Welche besondere Rolle spielen aus Ihrer Sicht Sportlerinnen und Sportler und ihr Schicksal? Eignen sich ihre Geschichten besonders, oder ist das mit Wissenschaftlern und Künstlern ähnlich?
Peiffer: Ich denke, das ist ähnlich. Es ist völlig egal, ob sie Sportler gewesen sind, ob sie Dichter gewesen sind, Journalisten gewesen sind, Musiker oder so weiter. Wir müssen versuchen, die Lebensgeschichten von Menschen zu erzählen. Es hilft uns letzten Endes nicht weiter, wenn wir nur mit Zahlen operieren, dass fünf Millionen Juden im Zweiten Weltkrieg ermordet worden sind, sondern wir müssen versuchen, Lebensgeschichten zu erzählen und anhand dieser Lebensgeschichten auch deutlich zu machen: In welchen Positionen sie gewesen sind, was sie haben erleiden müssen, was mit ihren Familien geschehen ist und so weiter. Dann wird das kenntlich. Kenntlich wird es nicht, wenn man nur mit abstrakten Zahlen arbeitet. Ich denke, daher ist es ganz, ganz wichtig, dass auch solche Aktionen gemacht werden.
Sie haben ja gerade die Karten zitiert: Die beruhen auf der Ausstellung, die wir 2015 gemacht haben im Rahmen der Makkabiade. Und diese Ausstellung "Zwischen Erfolg und Verfolgung" über jüdische Sportler läuft ja immer noch, wo wir auch die Lebensgeschichten von 17 Sportlerinnen und Sportlern erzählen. Wir zeigen den Menschen das große Bild von ihnen in Form dieser großen Figuren, auf der Rückseite sind dann eben Stationen ihres Lebens aufgeblättert.
Die Erfahrung, die wir auch mit dieser Ausstellung gemacht haben, ist immer wieder, dass die Menschen auf die Figuren zugehen, sich das anschauen, auf die Rückseite gehen, lesen, sich damit auseinandersetzen, ihren Kindern das vorlesen. Ich denke, das ist ganz wichtig, dass man anhand von Personen deutlich machen kann, was passiert mit Menschen, wenn sie in dieser Gesellschaft und dann vor allen Dingen durch die Politik ausgegrenzt werden.

Hochspringerin Gretel Bergmann

Jabs: Können Sie bitte eine besonders eindrückliche Lebensgeschichte als Beispiel nennen?
Peiffer: Für mich Gretel Bergmann. Ich habe das auch immer als Thema gemacht in meinen Vorlesungen zur deutschen Sportgeschichte, die Lebensgeschichte von Gretel Bergmann erzählt. Gretel Bergmann ist in einem kleinen Dorf in Schwaben aufgewachsen, war voll integriert wie auch ihre Eltern, die Fabrikanten waren. Sie war voll integriert sowohl in der Klasse wie auch im Sportverein, hat alle Sportarten gemacht, hat als Mädel mit in der Jungen-Handballmannschaft bespielt und so weiter.
Dann wurde ihre Leichtathletikaffinität entdeckt und vor allen Dingen ihr Talent. Sie hat dann Leichtathletik gemacht, war eine der besten deutschen Hochspringerinnen, ist zum FV Ulm gegangen – und nach der Machtübernahme der Nazis ist sie von diesem Verein ausgeschlossen worden, an ihrem Geburtstag, am 14. April 1933.
Sie hat Abitur gemacht und durfte nicht studieren. Sie hätte gerne Sport studiert an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin, ist dort abgewiesen worden – damals noch mit diesem dezenten Hinweis: Warten Sie mal ab, wie sich die politische Situation entwickelt, aber im Moment dürfen Sie als Jüdin bei uns nicht studieren. Ihr Vater hat sie dann ins Ausland gebracht, nach England, sie ist englische Meisterin im Hochsprung geworden.
Die Nazis haben dann erkannt, wenn sie möglicherweise als Engländerin zurück nach Deutschland kommt und als Deutsche für die Engländer springt und möglicherweise einen Olympiasieg einfährt oder erspringt, dann ist das eine Gegenpropaganda, die wir uns als Nazis gar nicht leisten können. Und man hat sie mehr oder weniger gezwungen zurückzukommen. Sie hat unter sehr eingeschränkten Verhältnissen trainieren müssen, sie hat nicht an den großen Auswahllehrgängen und Meisterschaften teilnehmen dürfen, weil sie ja sogenannte Volljüdin war, und hat unmittelbar vor Beginn der Olympischen Spiele den deutschen Rekord eingestellt, ist aber nicht für die Olympischen Spiele nominiert worden.

Bergmanns Startplatz blieb leer

Die Deutschen durften damals für jede Disziplin drei Sportlerinnen oder Sportler nominieren, der dritte Platz in der deutschen Hochsprung-Damenmannschaft ist freigeblieben, man hat sie nicht nominiert. Das ist ihr mitgeteilt worden in einem ganz lapidaren Brief, sie wäre ja wohl selbst nicht davon ausgegangen in Anbetracht ihrer inkonstanten Leistungen, dass sie für die Olympiamannschaft nominiert würde. Ihren Sportkameradinnen ist gesagt worden oder mitgeteilt worden, sie wäre verletzt, was sie natürlich nicht war, und ihr ist dann ein Sitzplatzticket für den Hochsprungwettkampf angeboten worden, was sie dann allerdings nicht angenommen hat.
Sie ist dann sehr enttäuscht nach Amerika emigriert, hat dort in Amerika dann auch wieder ihre Hochsprungkarriere fortgesetzt, hat gehofft, dass sie dann 1940 an den Olympischen Spielen als Amerikanerin teilnehmen könnte, aber dann sind die Spiele den Kriegsverhältnissen zum Opfer gefallen.
Margarete Bergmann-Lambert steht in buntem Sweatshirt an der Seite von NOK-Präsident Walther Tröger, der einen hellen Anzug trägt. Im Hintergrund ein Plakat mit dem Aufdruck Team Olympia.
Margarete Bergmann-Lambert, wie die frühere Hochspringerin inzwischen hieß, und der deutsche NOK-Präsident Walther Tröger. Bei den Olympischen Spielen von Atlanta 1996 war sie Ehrengast des NOK.© picture-alliance / dpa | Roland_Holschneider
Gretel Bergmann hat damals geschworen, nie wieder deutschen Boden zu betreten. Diesen Schwur hat sie dann gebrochen, ich habe sie selbst noch besucht, und sie hat mir damals auch gesagt, die Verhältnisse in Deutschland haben sich verändert, man kann die jungen Menschen nicht in Haftung nehmen für das, was in der Zeit '33 bis '45 passiert ist. Sie hat sich nicht mit der deutschen Geschichte ausgesöhnt, aber sie hat erkannt, dass in Deutschland andere Verhältnisse sind, und ist nach Deutschland gereist.
Nach ihr sind verschiedene Stadien und Hallen benannt worden, also sie ist im kollektiven Gedächtnis der Deutschen wieder zurückgekehrt und sie ist wieder präsent. Diese Form der Integration und Exklusion von Menschen in der Gesellschaft aufgrund von in diesem Falle religiösen Merkmalen, ist ein Beispiel dafür, wie man das sehr deutlich und eindringlich aufzeigen kann. Die Reaktion meiner Studierenden war eigentlich immer, dass sie verstanden haben, was in einer Gesellschaft passiert, wenn Menschen aufgrund ganz bestimmter Merkmale ausgegrenzt werden, stigmatisiert werden, verfolgt werden, bis hin zur Ermordung.

Lange Widerstand gegen Aufarbeitung

Jabs: Wie schwer ist der Prozess der Anerkennung von Menschen, die ausgegrenzt wurden, gerade zum Beispiel in Deutschland in den ersten Jahren und Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg?
Peiffer: Man hat es schlicht und einfach ignoriert. Man hat sich damit nicht auseinandergesetzt. Ich habe 1966 angefangen zu studieren, es gab damals keine Veranstaltung zur Zeitgeschichte, es gab auch keine Professur damals in Göttingen für Zeitgeschichte. Alte Geschichte, Mittelalter, osteuropäische Geschichte, das waren die Standardthemen. Ich habe 1972 Examen gemacht, und 1972 wurde bei uns am Historischen Institut in Göttingen die erste Professur für Zeitgeschichte besetzt. Wir haben bei uns am Institut – ich habe ja auch Sport studiert in Göttingen – 1972 das erste Seminar mehr oder weniger erzwungen gegen den Widerstand der Institutsleitung, ein Seminar zur Geschichte des Sports im Nationalsozialismus.
Bei dieser Gelegenheit haben wir den sogenannten Giftschrank geöffnet, der immer noch in der Bibliothek stand. In diesem Giftschrank war das gesamte Sortiment an nationalsozialistischen Sportbüchern. In dieser Zeit erst, Anfang der 70er-Jahre, haben wir uns intensiv damit auseinandergesetzt.
Wenn ich mir anschaue, wann überhaupt der Fokus darauf gesetzt worden ist, dass wir ja neben dem Arbeitersport – das ist ja auch noch so ein besonderes Kapitel – auch den jüdischen Sport in Deutschland hatten. Das ist erst einem Buch von Hajo Bernett zu verdanken, der sich mit dem jüdischen Sport Ende der 60er-Jahre mal auseinandergesetzt hat. Dann ist es wieder verschwunden, und im letzten Jahrzehnt haben wir uns eigentlich sehr intensiv damit auseinandergesetzt, immer noch gegen viele Widerstände, so nach dem Motto: Muss das eigentlich sein, dass ihr diese Geschichte immer wieder aufblättert, es muss doch irgendwann mal gut sein.
Jabs: Haben Sie denn auch negative Auswirkungen Ihrer Forschungen beobachtet, also dass zum Beispiel neuer Antisemitismus geschürt wird, weil solche Gesten abgelehnt werden?
Peiffer: Nein, das haben wir so direkt nicht erlebt, aber die Ablehnung schon. Die Äußerung: "Muss das denn sein, könnt ihr die Geschichte nicht einfach mal ruhen lassen, das ist doch so lange her." Wenn man dann erfährt, dass auch wenig Materialien über diese Zeit zur Verfügung stehen, weil teilweise Material nach '45 ganz systematisch vernichtet worden ist, dann fragen Sie sich natürlich schon, wie ist die Deutsche Gesellschaft gestrickt, wenn sie diesen Teil ihrer Geschichte ja penetrant geleugnet hatte und immer noch versucht, das unterm Deckel zu halten.

"Das gehört zu unserer Geschichte dazu"

Jabs: Aber als Historiker würden Sie wahrscheinlich sagen: Besser, dass die Geschichte überhaupt irgendwann aufgearbeitet wird als nie.
Peiffer: Natürlich, das ist ja auch unser Anliegen, und das ist ja auch unser Bemühen, sich immer wieder dieser Thematik zuzuwenden und dort weiterzuarbeiten. Wenn wir es nicht aufarbeiten, bleiben wir immer mit diesem Stigma der Ermordung von Menschen, der Diskriminierung von Menschen behaftet. Dass man das nicht mal auf den Punkt bringt und aufarbeitet, belastet auch zumindest die Menschen, die sich kritisch mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen,
Ich denke auch, es ist für die nächsten Generationen wichtig: Es hat ja auch was mit Identifikation mit der eigenen Geschichte zu tun, dass man weiß, dass es Brüche gegeben hat, dass es negative Entwicklungen in der eigenen und auch in der Geschichte unseres Staates oder des Volkes, in der Geschichte der Deutschen gegeben hat. Das gehört zu unserer Geschichte dazu, und das dürfen wir nicht verdrängen. Wir müssen die Verantwortung dafür auch weiterhin übernehmen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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