Sandra Hoffmann: "Paula"

Kluges und berührendes Erinnerungsbuch

Buchcover "Paula" von Sandra Hoffmann, im Hintergrund ein Bündel alter Fotos
Buchcover "Paula" von Sandra Hoffmann, im Hintergrund ein Bündel alter Fotos © Hanser Verlag / Unsplash / Joanna Kosinska
Von Manuela Reichart · 20.10.2017
Die Großmutter ist tot, die vielen Fotos in der Kiste bleiben unerklärt. Wie funktioniert Erinnerung, was bleibt von einem Leben, das sich dem Schweigen verschrieben hatte? Der Roman "Paula" von Sandra Hoffmann ist eine Spurensuche.
Am Ende sitzt sie am Familientisch auf dem Platz der Großmutter und hat ihre Rolle übernommen. Sie redet nicht mit den Eltern, mit dem Bruder. Sie ist "Gast und die Fremde zugleich", sie scheitert daran, eine gute Tochter zu sein wie die Großmutter ein Leben lang an ihren Rollen scheiterte.
1997 mit 82 Jahren ist diese titelgebende Paula gestorben. "Sie hat ihr ganzes Leben, alle ihre Geheimisse, aber auch alle ihre Nöte mit ins Grab genommen." Die Autorin, aufgewachsen in einem Elternhaus, das eher freudlos und dem Schweigen verschrieben, nicht zuletzt von einem Geheimnis überschattet war, will dem Leben der ebenso geliebten wie gehassten Großmutter eine Geschichte geben.

Möglichkeiten einer Biografie

Sie weiß noch, wie sich das Gesicht der alten Frau angefühlt hat, mit der sie oft das Bett teilte: "wie ein Veilchenblatt". Sie erinnert sich an ihren Geruch, ihre Kleidung, ihren unerschütterlichen Glauben, daran wie sie den Rosenkranz betete, wie sie im Fernsehen "Bonanza"' schaute, im Garten arbeitete, Marmelade kochte. Und wie sie Enkeltochter und Tochter nachspionierte. Wie sie jede Auskunft nach der eigenen Geschichte verweigerte, nicht erzählte, wen sie geliebt, wie sie im Nazideutschland gelebt hatte, vor allem aber wer der Vater ihrer unehelichen Tochter war, der Großvater der Erzählerin (dem Sandra Hoffmann schon einen Roman gewidmet hat: "Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist"). Sie schweigt. Sie verweigert sich jeder Erinnerung, jeder Familiengeschichte, die fortgeschrieben, weiter erzählt werden könnte.
Sandra Hoffmann, die von sich schreibt, sie sei eine "unzuverlässige Erzählerin", eine, die gelernt habe, ihr Leben zu reflektieren, entwirft Möglichkeiten einer Biografie. Sie betrachtet Fotografien mit der Lupe, erinnert sich an die Angst der schönen Mutter auf einer Reise, als eine Roma-Frau auf dem Markt ihr anbietet, aus der Hand zu lesen. "Sie sagt, dass darin alles stehe, auch woher sie komme". Die fremdländisch aussehende Mutter, die das dunkle Haar an die Tochter vererbt hat, will nichts wissen über die Herkunft. Sie hat sich dem Verdikt ihrer ungeliebten und liebesunfähigen Mutter gebeugt. Und nimmt sie trotzdem in ihr Haus auf.

Tastende Suche nach einem Glück

"Die Erinnerung folgt keiner Chronologie", die Spurensuche bleibt unvollständig, aber wenn überhaupt kann die Literatur, kann die schriftstellerische Fantasie sich in der chronologischen Lebensbeschreibung versuchen. Die Autorin erzählt eindrucksvoll von ihrer tastenden Suche nach einem Glück, das es auch im Leben der Großmutter einmal gegeben haben muss. Sie entwirft eine Biografie, die über das individuelle Schicksal der Reinemachefrau Paula hinausgeht.
Sie stellt darüber hinaus auch ihre eigene bundesrepublikanische Kindheit und Jugend in den 1970er-Jahren ins Zentrum, - und die entschiedene Kappung aller schwäbischen Wurzeln. Dass das nicht gut ist, auch nicht für eine moderne, gut ausgebildete und psychoanalytisch gestählte Frau, davon erzählt nicht zuletzt diese einfühlsame Familiengeschichte.
Ganz nebenbei gibt es in diesem klugen und berührenden Erinnerungsbuch auch noch eine große Liebeserklärung an den Ehemann der Autorin: Mit ihm sei einfach "alles besser, nur weil wir uns haben, auch wenn wir gerade kilometerweit voneinander entfernt sind".

Sandra Hoffmann: Paula
Roman, Verlag Hanser Berlin, Berlin 2017
160 Seiten, 18 Euro

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