Roman

Flusswanderin auf der Suche nach Heimat

Luftaufnahme der Loreley am Rhein
Der Rhein ist für die Protagonistin der Fluss ihrer Kindheit. © picture-alliance / dpa / Thomas Frey
Von Gabriele Arnim |
Flüsse haben ein immer gleiches Bett, ein festes Ziel - sind aber zugleich unstet und lebendig frei. Vermutlich deshalb folgt ihnen die Protagonistin des Buches "Am Fluss" auf fast 400 Seiten zu Fuß.
Eine Person ungewissen Alters, vermutlich eine Frau, hat sich aus ihrem bisherigen Leben in London verabschiedet und ist umgezogen an den Rand der Stadt. Sie lebt provisorisch in einer kleinen Wohnung, an einem Ort, an dem sie die Geräusche, die Menschen nicht kennt. Sie liest, was der große Ahorn im Licht der Jahreszeiten auf die Ziegelwand gegenüber schreibt und richtet sich auf "unschlüssige Monate" ein. Die meisten Kisten bleiben unausgepackt, die Möbel stehen herum. Ein neues Leben beginnt oder eher ein vages Sein in einer Zwischenzeit. Heimatlos und menschenfern.
Sie beginnt, spazieren zu gehen. Erst in den Strassen, in denen sie die blassen chassidischen Kinder trifft, dann zum River Lea und an ihm entlang. Schilf, Marschland, Schwäne, Hundsrosen, leere Fabriken, ein kleines Dorf aus Hausbooten.
Sie geht jeden Tag - als suche sie Heimat, die sie nun in keinem Zuhause mehr hat, in der Natur. Als könnten Erlenhaine und Dornengestrüpp, "dünnhalmiges Gras" und Weidenbüsche sie bergen.
Auch Erinnerungen geben Geborgenheit
Sie geht auf Trampelpfaden, überquert Backsteinbrücken, sitzt auf Baumstümpfen, hatscht auf morastigen Böden. Und fotografiert. Für die Zukunft vermutlich. Denn auch Erinnerungen geben Geborgenheit. Das weiss sie. Denn wenn sie geht, dann schaut sie nicht nur, sondern erinnert sich auch. An den Rhein, den Fluss ihrer Kindheit, den Vater, der es liebte, Fähren zu benutzen, oder den Großvater, der am Geruch des Flusses das Wetter vorhersagen konnte.
Esther Kinsky, 1956 geboren, hat sich zunächst einen Namen als Übersetzerin gemacht und erst vor vier Jahren ihren ersten Roman veröffentlicht. Seither erschienen ein weiterer Roman und drei Gedichtbände. Und nun dieses opus magnum, das nominiert wurde für die Longlist des Deutschen Buchpreises. Fast 400 Seiten Fluß, Landschaft, Marschen, Wind, Regen, Randgebiet. Berichte aus einem Zwischenland - zwischen Land und Stadt, einem Zwischenleben, zwischen Gegenwart und Vergangenheit.
Immer wieder verläuft sie sich, verliert die Orientierung - als spiegele das Gehen die Verirrungen des Lebens wider.
Unsere Flusswanderin läuft auch an der Oder, der Neretva, der Tizia, am Ganges, am Nahal Ha Yarkon, am St. Lawrence oder am Hooghly River. Flüsse haben vielleicht, wonach sie sich sehnt: ein immer gleiches Bett, ein festes Ziel - und sind zugleich unstet und lebendig frei.
Keine Freundschaften, keine Liebe, keine Zärtlichkeit
Fast nie spielen Menschen eine größere Rolle in diesem Leben. Es gibt keine Freundschaften, keine Liebe, keine Zärtlichkeit füreinander. Nur in den Erinnerungen an den Vater ahnt man Nähe, einmal taucht ein schemenhaftes Kind auf.
Die Nachbarn, von denen wir hören, bleiben Randfiguren, Beobachtungsobjekte. Esther Kinsky hat wahrlich kein romantisches Flussbuch geschrieben. Dazu gibt es zu viel dunkles Gemurmel im Unterholz, zu viele Widerhaken in den Erinnerungen.
Die Lektüre verlangt Aufmerksamkeit. Obgleich die Autorin eine Sprachmeisterin ist, die Lichtes und Abgründiges poetisch dicht ineinander verwebt, fehlt doch hier und da eine Handlung, ein Mensch, eine Nähe, es fehlen Inseln des leichten Tons, die in dem manchmal bleiernen Fluss dieses Flussbuches Strudel und Strömungen hätten entstehen lassen.

Esther Kinsky: Am Fluss
Matthes & Seitz, Berlin 2014
390 Seiten, 22.90 EUR