Rechtsextreme Anschläge in Berlin-Neukölln

"Die Angriffe sollen Angst einjagen"

Die durch einen Anschlag zerstörte Schaufensterscheibe des Buchladens Leporello in Berlin-Neukölln.
Die durch einen Anschlag zerstörte Schaufensterscheibe des Buchladens Leporello in Berlin-Neukölln. © Heinz J. Ostermann / Buchhandlung Leporello
Von Paul Vorreiter  · 15.06.2017
Ausgerechnet der Multikulti-Stadtteil Berlin-Neukölln wird seit Mai 2016 von einer mutmaßlich rechtsextremen Anschlagsserie heimgesucht. Im Visier der Täter oder Täterinnen: linke Organisationen, Aktivistinnen und Flüchtlingshelfer.
Es ist ein perfekter Sommertag. 25 Grad und die Sonne reflektiert das Licht in einem ovalen See, der von einem u-förmigen Häusertrakt umgeben ist. Das ist die Hufeisensiedlung im Süden von Berlin-Neukölln. In der Weimarer Republik als Vorzeigearbeitersiedlung entstanden. Hier wohnt Mirjam Blumenthal. Die vierfache Mutter mit blonder Ponyfrisur ist SPD-Bezirkspolitikerin, Geschäftsführerin im sozialistischen Kinder- und Jugendverband "Die Falken", dazu noch Gewerkschafterin. Damit ist sie in das Visier bestimmter Personen geraten:
"Um 02 Uhr 30 klingelte bei mir das Telefon. Dann hieß es, kommen Sie mal bitte runter, hier ist die Polizei. Ihr Auto brennt. Mein erster Gedanke war, früher haben Bücher gebrannt als Erstes, jetzt brennen Autos."
So berichtete das rbb-Inforadio von den Geschehnissen. An die Nacht vom 14. Januar 2017 erinnert sich Mirjam Blumenthal noch ganz genau.
"Wir sind dann schnell runter und konnten löschen. Dann kam natürlich sofort Feuerwehr und Polizei. Das LKA ist in der Nacht noch gekommen und es war sehr schnell klar, dass sich das einreiht in diese ganzen Brandanschläge, die seit Mai 2016 schon stattgefunden haben und wo wir ein Teil von einer Liste sind, die abgearbeitet wird."
Blick von der Freitreppe ins Innere des „Hufeisens“.
Die Hufeisensiedlung im Berliner Ortsteil Britz ist eine Siedlung des sozialen Wohnungsbaus und seit 2008 UNESCO-Welterbe.© Deutschlandradio / Paul Vorreiter

Brennende Autos, eingeschmissene Scheiben

Linke Bezirkspolitiker, Buchhändler, Galeristen, Menschen, die sich für Flüchtlinge einsetzen: Sie sind Opfer einer Anschlagsserie geworden. Auffällig: Die Vorgänge ähneln sich. Oft brennen Autos, Scheiben werden eingeschmissen, Treppenhäuser und Häuserfassaden beschmiert. Die Täterinnen oder Täter scheinen nachts zuzuschlagen, zwischen 2 und 3 Uhr. Eine kleine Auswahl der Ereignisse:
15. Mai 2016: Versuchte Brandstiftung auf den linksqueeren Wagenplatz "Kanal"
8. Juli 2016: Brandanschlag auf ein Auto in Nordneukölln, das mit linken und Anti-AfD-Stickern beklebt war
27. Dezember 2016: Auf eine Häuserfassade in Neukölln wird der Name einer Person gesprayt. Dahinter "= Rote Drecksau!"
Der letzte Vorfall passiert am 03. Mai 2017. Das Auto einer Neuköllner Flüchtlingshelferin brennt. Mirjam Blumenthal kennt die Betroffene. Eine Frau, die kaum in den Vordergrund tritt:
"Das Perfide daran ist, dass sie trotz alledem zum Opfer wurde, weil sie, nämlich die Nazis, recherchiert haben, mit wem sie noch weiter wie in Kontakt steht und wo sie was macht. Und was sie damit erreichen wollen ist, noch mal eine Stufe mehr: Nämlich passt auf Leute, auch, wenn ihr nicht in Erscheinung tretet, wie die Blumenthal, könnt ihr das nächste Ziel sein!"

NPD und das "Netzwerk Freie Kräfte"

Bernd Palenda ist Leiter des Verfassungsschutzes in Berlin. Er sagt, dass die Art und Weise, wie die Taten begangen wurden, auf das rechtsextreme Milieu in Neukölln hinweise.
"Die rechtsextreme Szene in Neukölln ist verhältnismäßig übersichtlich strukturiert. Wir haben auf der einen Seite die NPD mit ihrem dortigen Kreisverband, einen relativ kleinen aber aktiven Kreisverband, der seine Aktivitäten insbesondere jetzt wieder nach oben gefahren hat. Wir haben darüber hinaus auch noch die Akteure des Netzwerks Freie Kräfte. Das Netzwerk ist ein aus ganz bestimmten Gründen nicht fest organisierter Personenkreis, damit es nichts gibt, worauf der Staat reagieren kann, etwa mit einem Verbot.
Die Angriffe sollen den Menschen Angst einjagen, sie einschüchtern, sie von ihrer politischen Arbeit abbringen. Die rechtsextreme Szene nennt das Anti-Antifa-Arbeit. Die Taten haben noch weitere Ziele, erklärt Bernd Palenda.

Es geht um Angst und Präsenz

"Einerseits gibt es den Kampf gegen das vermeintliche Links, als denjenigen, den man als tatsächlichen politischen Gegner angehen und bekämpfen möchte, auf der anderen Seite geht es sicher auch darum, einen bestimmten Raum für sich zu besetzen und dort Deutungs- und Meinungshoheit zu haben, unabhängig davon, ob es in diesem Raum überhaupt so eine Deutungshoheit geben kann."
Einen besonderen Stellenwert scheint für die rechtsextreme Szene auch die Hufeisensiedlung zu haben. Auf der Facebook-Seite der NPD Neukölln finden sich Bilder von Straßenschildern und von Flyern in Briefkästen. Was damit gesagt werden soll? Wir sind da.
Die Politik hat auf die Anschlagsserie reagiert. Anfang des Jahres hat Berlins SPD-Innensenator Andreas Geisel die Ermittlergruppe "Resin" gegründet – das steht für rechtsextreme Straftaten in Neukölln. Gibt es Ermittlungserfolge? Gefasste Täterinnen oder Täter? Die Polizei hält sich bedeckt. Sie verweist einfach nur darauf, dass sie mit hoher Intensität ermittelt. Und weil sie sich bedeckt hält, gibt es viel Raum für Spekulationen über die möglichen Täterinnen und Täter.
Die neue Anschlagsserie begann im Mai 2016. Das war kurz, nachdem der mehrfach verurteilte Neuköllner Neonazis Sebastian T. aus der Haft entlassen wurde. Beobachter vermuten, dass es da einen Zusammenhang gibt.

Rechtsextreme recherchieren im Internet nach Kontaktdaten

Nicht zu wissen, wer hinter den Anschlägen steckt und der Gedanke, dass die Täter frei herumlaufen, belastet viele Opfer, sagt Bianca Klose. Sie leitet die "Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin". Der Verein hat eine Handreichung herausgegeben, wie Opfer mit rechtsextremen Einschüchterungsversuchen und Bedrohungen umgehen sollen. Auch enthalten sind darin Tipps, wie man das Risiko verringern kann, überhaupt erst zum Angriffsziel von Neonazis zu werden.
"Ist meine Telefonnummer im Telefonbuch öffentlich einsehbar, ist zum Beispiel eine Internetseite für ein bestimmtes Projekt für Flüchtlinge oder gegen Rassismus gar auf meine private Wohnanschrift registriert? Finden sich online Hinweise zu meinem Wohnort? Und das Zeigen ja auch die jüngsten Anschläge in Neukölln, dass die Bürgerinnen und Bürger sich wachsamer sich durch Berlin bewegen sollten, das eine oder andere Mal schauen, ob ihnen ein Fahrzeug folgt. Oder gar bekannte Rechtsextreme. Gerade weil Betroffene beklagten, dass sie eigentlich nie in der Öffentlichkeit gestanden haben und trotzdem angegriffen wurden, zeigt, dass die rechtsextreme Szene Menschen folgt, dass sie Engagierte observiert, und dass sie zum Teil recht akribisch im Internet nach möglichen, persönlichen Datensätzen suchen."
Plakate für das Offenes Neukölln Festival vom 14. bis 16. Juli 2017 liegen gestapelt mit Flyern auf einem Tisch. 
Plakate für das Offenes Neukölln Festival des Bündnis Neukölln vom 14. bis 16. Juli 2017.© Deutschlandradio / Paul Vorreiter

Offenes Neukölln Festival

Wo sonst Nachbarn miteinander Tischtennis spielen oder Erwachsene Yoga betreiben, sitzt heute eine Gruppe von knapp 20 Menschen um einen Tisch, die Stimmung ist ernst, dem Thema entsprechend. Das Bündnis Neukölln - bestehend aus Parteien, Vereinen und Privatpersonen – lässt sich auf den neuesten Stand bringen, zu den mutmaßlich rechtsextremen Straftaten in seinem Bezirk. Das Bündnis will nicht hinnehmen, dass Rechtsextreme öffentliche Räume besetzen und Andersdenkende einschüchtern. Deswegen: besetzen sie selber den Raum und sagen: "Wir gehören hier her und lassen uns nicht vertreiben." Deutlich werden soll das mit einem Festival für Weltoffenheit. Svenja Matusall:
"Von Schmettern gegen Rechts, ein Tischtennisturnier, über diverse Diskussionsveranstaltungen, Informationsveranstaltungen, Gottesdienste, es gibt gemeinsames Gärtnern in den vielen Gemeinschaftsgärten in Neukölln, es gibt Kinovorführungen, es gibt Fahrradtouren für ein postkoloniales Neukölln, wirklich ein großes, großes, vielfältiges Programm."
Die Neonaziszene steht unter Druck, seit sie nach und nach ihre Hotspots in Berlin verloren hat. Etwa die Kneipe "Zum Henker" in Niederschöneweide oder den NS-Devotionalienladen "Hexogen", der dem Berliner NPD-Chef Sebastian Schmidtke gehörte. Hat mit der Anschlagsserie die rechtsextreme Szene wieder Räume erobert? Die Opfer hoffen, dass die Ermittler verhindern können, dass sie sich weiter ausbreitet. Die Gewissheit werden die Opfer aber erst haben – wenn öffentlich wird: Die Täter sind gefasst.
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