Newport Folk Festival

"Die Non-Profit-Idee ist Vergangenheit"

Der Autor und Plattenproduzent Joe Boyd
Der Autor und Plattenproduzent Joe Boyd © picture alliance / dpa - Anne-Marie Briscombe
Joe Boyd im Gepräch mit Haino Rindler · 26.07.2017
Das traditionsreiche Newport Folk Festival war zu Beginn ein dezidiert politisches Festival. Doch 1965 gab es einen "Paradigmenwechsel vom Idealismus zum Hedonismus", erklärt Newport-Veteran Joe Boyd: Schuld daran ist niemand Geringeres als Bob Dylan.
Das Newport Folk Festival, das am Freitag startet, ist mit dem Philadelphia Folk Festival das wichtigste Folk Festival der USA - und es hat Geschichte geschrieben, u.a. mit Bob Dylans Auftritt mit der E-Gitarre dort 1965, wofür er als Verräter beschimpft wurde.
Die 19-jährige Sängerin, die bei der ersten Ausgabe des Newport Folk Festival 1959 zum ersten Mal auf der großen Bühne stand, sollte eine Ikone des amerikanischen Folk-Revivals werden: Joan Baez. Sie brachte wenige Jahre später den damals noch unbekannten Bob Dylan mit in das Städtchen am Meer im Bundesstaat Rhode Island.
Dieser junge Mann wiederum sollte als umstrittener Begründer der Rockmusik eben dort in die Geschichte eingehen, als er es 1965 wagte, in diesem Mekka der Folkmusik mit der elektrischen Gitarre aufzutreten.
Damals war der gerade mal 23-jährige Joe Boyd Produktionsleiter des Festivals. Boyd wurde später zu einer bedeutenden Figur der Popmusik, als Produzent von Bands wie Pink Floyd und Fairport Convention und als Entdecker, zum Beispiel von Nick Drake.
Diesen Freitag startet das Newport Folk Festival mit seiner neuen Ausgabe, bei uns hat Joe Boyd über Vergangenheit und Gegenwart dieser Festival-Legende gesprochen.

Das Interview im Wortlaut:

Haino Rindler: Mister Boyd, man muss Sie natürlich danach fragen, also tun wir es gleich: Welche Auswirkungen Bob Dylans Auftritt mit der E-Gitarre 1965 in Newport hatte, ist heute allgemein bekannt, die Popmusik hätte sich ohne diesen Auftritt möglicherweise anders entwickelt. Wie haben Sie denn als junger Mann den Auftritt damals erlebt? Haben Sie verstanden, was Dylan wollte, oder waren Sie empört?
Joe Boyd: Nun, eigentlich waren wir ja gewarnt. Dylan hatte ja ein paar Monate zuvor ein Album veröffentlicht, mit Schlagzeug, elektrischem Bass, Al Cooper an der Hammond Orgel. Und daraus hatte er die sechsminütige Single "Like A Rolling Stone" veröffentlicht, die in den Top 40 Charts war. Es war also kein Geheimnis, welche musikalische Richtung Dylan eingeschlagen hatte. Die einzige Frage war, ob er es wagen würde, mit dieser Musik in Newport, also im Herzen der idealistischen akustischen Folk-Bewegung, aufzutreten.
Ich war ja Produktionsleiter des Festivals, und in dieser Funktion bekam ich die Antwort auf diese Frage als erster. Ich hatte bereits am Samstag des Festivals mit Dylans Manager gesprochen, und er hatte mir gesagt, dass Dylan mit Mitgliedern der Paul Butterfield Band auftreten würde, einschließlich Schlagzeuger, und wir haben auch einen Soundcheck gemacht vor dem Auftritt.
Haino Rindler: Es gibt ja die Legende, dass Pete Seeger versucht haben soll, mit einer Axt das Kabel von Bob Dylans E-Gitarre durchzuschlagen, ist diese Legende wahr?
Joe Boyd: Pete Seeger hat in einem Interview ein paar Jahre später gesagt: "Hätte ich eine Axt gehabt, hätte ich damit das Kabel durchgehauen." Aber das war nur eine Metapher. Seeger war tatsächlich sehr wütend.
Als der Auftritt begann, bin ich in den Pressebereich gerannt, der direkt vor der Bühne war, um den ersten Song zu sehen. Und gegen Ende des ersten Songs kam jemand zu mir und meinte, ich solle dringend mal hinter die Bühne kommen. Dort standen Pete Seeger und Theodore Bikel und Alan Lomax, und sie waren wirklich wütend. Sie verlangten von mir, den Sound runterzudrehen. Das war allerdings technisch gar nicht so einfach zu machen, also verlangten sie von mir, ich solle auf die Bühne gehen und der Band sagen, dass sie den Sound runterdrehen soll. Das passierte aber nicht, und ich sah Pete Seeger, wie er sich von der Bühne entfernte, und es war klar, er hat diesen Lärm nicht ausgehalten.
Der amerikanische Folkrocksänger Bob Dylan und seine Kollegin Joan Baez, aufgenommen am 27.04.1965 in London
Der amerikanische Folkrocksänger Bob Dylan und seine Kollegin Joan Baez, aufgenommen am 27.04.1965 in London© picture-alliance/ dpa
Ich glaube, uns allen war damals schon klar, dass dies ein historischer Moment war. Dass sich jetzt etwas ändern würde. Die Folk-Bewegung, wie sie von Pete Seeger und Woody Guthrie repräsentiert wurde, gab es schon seit den 1930er-Jahren, und sie war natürlich stark mit der politischen Linken verbunden.
Und als diese Bewegung schwächelte, mit einem kranken Woody Guthrie und überhaupt alternden Protagonisten, da tauchte Bob Dylan auf und sang "Blowin’ in the Wind" und wurde eine neue Galionsfigur des politischen Songwriting.

Dylan fegte alles hinweg

Und es war schon länger klar, dass Dylan sich veränderte. Er schrieb "Mr. Tambourine Man", das war kein politischer Song. Und es waren einfach alle schon sehr nervös in der Aussicht, das Aushängeschild ihrer Bewegung zu verlieren. Und vielleicht hatten manche noch darauf gehofft, dass Dylan vielleicht beides machen würde: Manchmal politische Songs, manchmal persönlichere Stücke.
Aber mit diesem Auftritt in Newport 1965, bei dem er etwas spielte, das man erst später Rockmusik nennen sollte, fegte er alles hinweg, alle Ideale und Träume, für die diese politische Bewegung in Amerika stand.
Haino Rindler: War das Festival in den 1960er-Jahren ein Ort, an dem Folk-Musik definiert wurde?
Joe Boyd: Folkmusik wurde in Newport nicht definiert, sie wurde getötet. Es war eine riesige Bewegung in den frühen 1960er-Jahren in den USA, es gab Folkclubs, Coffeehouses im ganzen Land. Und in wenigen Monaten nach dem Juli 1965 lief in den meisten dieser Coffeehouses kein Folk mehr, sondern Rock.
Und dasselbe galt für Jazz. Es gab ja auch das Newport Jazz Festival, und auch das erlebte 1965 das Ende des Jazz, es gab ein Jahr später kaum noch Jazzclubs in den USA. Alle hörten nur noch The Grateful Dead. Das war eine riesige Umwälzung, und Folk war nach diesem Sonntag im Juli 1965 nie wieder das, was es vorher war.
Haino Rindler: Man bringt heutzutage den Folk der 1960er-Jahre in den USA sehr stark mit Vietnam-Protest und Bürgerrechtsbewegung in Zusammenhang. Wie politisch war das Festival damals, und welche Dinge spielten noch eine Rolle?
Joan Baez singt nach ihrer Aufnahme in die Rock and Roll Hall of Fame in New York.
Joan Baez singt nach ihrer Aufnahme in die Rock and Roll Hall of Fame in New York.© dpa-Bildfunk / AP / Invision / Charles Sykes
Joe Boyd: Die erste Ausgabe dieses sehr idealistischen Non-Profit-Festivals war 1963. Ich war dort als Zuschauer, und da herrschte schon ein bestimmter Geist. Der Samstagabend endete mit Joan Baez und Bob Dylan und Peter Paul And Mary und den Freedom Singers, einer Gruppe schwarzer Sängerinnen und Sänger aus den Südstaaten, die sich dort dafür einsetzten, dass Schwarze sich für die Wahlen registrieren lassen. Alle hielten sich an den Händen und sangen "We Shall Overcome". Die politische Bewegung und die Folk-Bewegung waren fast identisch.

Vom Idealismus zum Hedonismus

Aber 1965 gab es noch etwas anderes, das Pete Seeger und seinen Verbündeten nicht gefiel: Der Geruch von Marihuana beim Newport Festival. Für sie war das ein Zeichen, dass die Jugend sich von den politischen Zielen abwendet und sich stärker für ihre Innerlichkeit interessiert. Dass sie die Revolution in ihren Köpfen suchen und nicht mehr auf der Straße. 1965 gab es einen Paradigmenwechsel, vom Idealismus zum Hedonismus.
Haino Rindler: So ein Festival war ja damals ein echtes Ereignis, es gab ja kein Internet, über das man Musik hören und mit Gleichgesinnten austauschen konnte. Kann man das Newport Folk Festival von heute in irgendeiner Hinsicht noch mit damals vergleichen?
Joe Boyd: Das Festival von heute ist ein kommerzielles Unternehmen, die Non-Profit-Idee ist ja Vergangenheit. Und auch sonst ist der Ansatz ein anderer. In den Sechzigern gab es Leute, die für das Festival in den USA und anderen Ländern unterwegs waren, auf der Suche nach authentischer Musik: Fiddlers aus den Appalachen, Bluessänger aus Mississippi, Gospelchöre, Cajun Musik, wir hatten einen Tin-Whistle-Spieler aus Südafrika beim Festival oder gälische Sänger aus Schottland.
Heute ist das Festival eines der Singer-Songwriter, es geht um akustische Popmusik. Früher gab es das auch schon, zum Beispiel Joan Baez und Joni Mitchell, die mit Leonard Cohen aufgetreten sind. Aber das war damals die Ausnahme, und heute ist das die Regel.
Haino Rindler: Dieses Jahr tritt eine Legende des Folk bzw. Country beim Festival auf, nämlich John Prine, die meisten anderen Künstler sind deutlich jünger, etwa Shovels & Rope, Rhiannon Giddens, Nikki Lane oder The Avett Brothers. Sind diese Namen ein Beweis für die Lebendigkeit der Folk-Szene?
Die Musikerin Rhiannon Giddens steht auf einer Bühne am Mikrofon und singt
Die Musikerin Rhiannon Giddens © Jörg M. Unger
Joe Boyd: Rhiannon Giddens und John Prine stehen natürlich beide für eher traditionelle Musik. Aber es gab schon immer Verwirrung darum, was Folk eigentlich bedeutet. Und das ist letztendlich Bob Dylans Schuld. Er hat die Figur des Singer-Songwriters populär gemacht, aber er wurde fälschlich als Folk-Sänger bezeichnet.
Er spielte in Clubs, in denen sonst Blues, Country und andere traditionelle Musik gespielt wurde. Singer-Songwriter, die aus der Mittelschicht, sind einfach eine ganz andere Spezies als Leute, die traditionelle Musik machen. Singer-Songwriter sind viel näher am Pop als an traditioneller Musik. Und trotzdem: Wenn man ein paar Leute hat, die akustische Gitarre spielen, nennt sich das gleich Folk-Festival.
Haino Rindler: Das Newport Folk Festival war einst nicht profitorientiert, inzwischen hat es große Sponsoren und ist durchaus auf Profit ausgerichtet. Schadet das einem Festival sehr, oder ist es nur einer von vielen möglichen Wegen, ein Festival zu finanzieren?

"Es ist eine komplett andere Sache als früher"

Joe Boyd: "Schaden" ist natürlich eine sehr subjektive Einschätzung. Ich denke, das Newport Festival der 1960er-Jahre war eine einzigartige Sache. Sie müssen bedenken: Jeder, egal ob das Peter Paul And Mary waren oder ein namenloser Bluessänger aus dem Mississippi-Delta – jeder hat damals 25 Dollar am Tag bekommen. Und Essen. Und Spesen.
Und heute verlangt jeder seine ganz normale Gage. Es ist eine komplett andere Sache als früher. Das Festival findet zwar am selben Ort statt wie damals, unter demselben Namen. Aber heute…
Glastonbury ist das einzige Festival, das mir gerade einfällt, das zum Beispiel Teile seines Profits der Labour Party spendet. So etwas aufrecht zu erhalten, ist unter heutigen ökonomischen Bedingungen sehr schwer, und jeder, der das schafft, verdient unseren größten Respekt und Dankbarkeit.
Unter dem heutigen Druck ist ein Idealismus wie beim Newport Festival der 1960er-Jahre nicht mehr möglich.
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