Neuer hippokratischer Eid

"Keine verbindliche Antwort auf ethische Probleme"

In einem Anatomie-Hörsaal der Medizinischen Fakultät an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Sachsen-Anhalt) verfolgen Medizin-und Zahnmedizinstudenten des ersten Studienjahres die Vorlesung zu Gelenken und Muskeln, die die Direktorin für Anatomie und Zellbiologie, Prof.Dr.med. Heike Kielstein hält, aufgenommen am 01.12.2015.
Medizinstudenten schwören nicht den hippokratischen Eid. Doch in einigen Fakultäten werde der Text bei Examensfeiern feierlich vorgetragen, oft auf Wunsch der Absolventen, sagt Jochen Vollmann. © picture alliance / dpa / Waltraud Grubitzsch
Jochen Vollmann im Gespräch mit Katrin Heise · 02.12.2017
Der hippokratische Eid ist ein Symbol für das ethische Handeln von Ärzten. Jetzt hat der Weltärztebund den über 2.000 Jahre alten Eid reformiert. Was die Neufassung leisten kann - und was nicht, erklärt der Medizinethiker Jochen Vollmann.
"Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen": So beginnt der modernisierte Text des hippokratischen Eids, wie er 1948 in Genf beschlossen wurde. An dieser Grundausrichtung ändert sich nichts, doch es ist etwas hinzugekommen, wie Jochen Vollmann erklärt:
"Die wichtigste Veränderung an der Genfer Deklaration des Weltärztebundes ist, dass endlich auch der Respekt vor der Selbstbestimmung des Patienten aufgenommen wurde. (...) Das ist in der Praxis wichtig, denn alles medizinische Mögliche und Indizierte ist nicht unbedingt im Sinne des einzelnen Patienten. (...) Wie will man denn zum Wohl des Patienten handeln, wenn man ihn nicht mit einbezieht, sprich seinen Willen, seine Werthaltung, seinen Lebensstil respektiert und in die Behandlung einbaut?"

Der hippokratische Eid hat rechtlich keine Bedeutung

Bis heute sei der über 2.000 Jahre alte Ursprungstext noch "wirkmächtig", so der Leiter des Instituts für medizinische Ethik und Geschichte der Medizin an der Ruhruniversität Bochum. Aber er habe weder rechtliche Bedeutung, noch helfe er in vielen ethischen Konflikten wirklich weiter. So gebe das Versprechen, größten Respekt für das menschliche Leben zu wahren, keine Antwort auf Fragen der Sterbehilfe, Abtreibung oder Fortpflanzungsmedizin. Ist ärztlich assistierte Selbsttötung im Sinne eines ärztlichen Ethos gut oder schlecht? Darüber gebe es auch unter Ärzten einen Dissens, sagt Vollmann:
"Das ist auch ein Problem: dass wir ethische Probleme haben, die man nicht mit einer einheitlichen Antwort für alle verbindlich in einem kurzen Text zusammenfassen kann."
(bth)

Das Interview im Wortlaut:

Katrin Heise: Im vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung entstand ein Eid, der Jahrtausende überdauern wird: der Eid des Hippokrates. 1948 wurde er dann Grundlage zur Genfer Deklaration des Weltärztebundes. Die wiederum musste jetzt neulich endlich nach jahrelangen Diskussionen mal aktualisiert und präzisiert werden.
((Bericht))
Wir wollen das jetzt aber noch mal ein bisschen genauer wissen und vor allem auch auf den Alltag beziehen. Und dabei hilft uns Professor Jochen Vollmann, er leitet das Institut für medizinische Ethik und Geschichte der Medizin an der Ruhr-Universität Bochum. Schönen guten Morgen, Herr Vollmann!
Jochen Vollmann: Guten Morgen!
Katrin Heise: Was ist denn für Sie eigentlich die wichtigste Veränderung, die am hippokratischen Eid vorgenommen wurde?
Jochen Vollmann: Die wichtigste Veränderung an der Genfer Deklaration des Weltärztebundes ist, dass endlich auch der Respekt vor der Selbstbestimmung des Patienten aufgenommen wurde.
Katrin Heise: Das heißt eben in Sachen Autonomie, dass der Patient sich miteinbringen kann, oder was würden Sie darunter vor allem verstehen?
Jochen Vollmann: Da verstehe ich drunter, dass neben dem traditionellen ethischen Gebot, dass der Arzt zum gesundheitlichen Wohl des Patienten zu handeln hat, auch hinzutritt, dass er das Recht auf Selbstbestimmung des Patienten zu achten hat. Das ist in der Praxis wichtig, denn alles medizinisch Mögliche und Indizierte ist nicht unbedingt im Sinne des einzelnen Patienten. Deswegen muss das individuelle Recht auf Selbstbestimmung des einzelnen Patienten respektiert werden. Wie will man denn zum Wohl des Patienten handeln, wenn man ihn nicht miteinbezieht, sprich seinen Willen, seine Werthaltung, seinen Lebensstil respektiert und in die Behandlung einbaut?
Katrin Heise: Das ist dann tatsächlich eben dem geschuldet, dass dieses Wort vom Halbgott in Weiß einfach auch so nicht mehr gilt, weil der Patient eben doch ein sehr viel selbstbewussterer auch geworden ist. Das hat aber doch auch wahrscheinlich noch eine andere Seite. Wenn ich da mal an Internetdiagnosen denke und an die Vorbildung, die Patienten oft aus dem Internet ziehen: Ist das nicht auch eine Schwierigkeit, was die Autonomie angeht?

Der Halbgott in Weiß ist Geschichte

Jochen Vollmann: Zunächst einmal hat der Arzt das Wissensmonopol weitgehend verloren. Sie haben das Internet schon angesprochen, aber hinzu tritt natürlich auch eine gestiegene Gesundheitsbildung in weiten Teilen der Bevölkerung. Gesundheit ist nicht nur ein Thema mehr für den Arzt und die Medizin; Gesundheit, Wohlbefinden, Lebensstil ist ein Thema für viele Menschen im Alltag geworden, die einfach besser informiert sind, häufiger auch engagierter sind, als das früher der Fall war. Natürlich gibt es auch, wenn Sie so wollen, Nebenwirkungen dieser Entwicklung, dass zum Beispiel viele Quellen im Internet nicht seriös sind und Patientinnen und Patienten sich dann darauf verlassen.
Katrin Heise: Haben Sie denn das Gefühl, dass da noch viel getan werden muss, um diese Grundsätze in den Köpfen der Ärzte zu verankern?
Jochen Vollmann: Ich glaube, der von Ihnen zitierte Halbgott in Weiß ist wirklich Geschichte. Wenn ich als Hochschullehrer mit jungen Medizinstudierenden spreche oder auch mit jungen Ärztinnen und Ärzten, ist das wirklich nicht mehr Teil des Selbstverständnisses. Aber das bedeutet natürlich noch lange nicht, dass alles gut ist. Aus meiner Sicht ist die Kommunikation, das heißt der Informationsaustausch, das empathische Begegnen zwischen Arzt und Patient noch sehr, sehr in den Mangelschuhen. Und das hat häufig andere Gründe, zum Beispiel dass die sprechende Medizin – so nennen wir das – ökonomisch unattraktiv ist und deswegen häufig niedergelassene Ärzte in der Praxis oder im Krankenhaus kaum Prioritäten für Gespräch, für Zeit, für Aufklärung haben.
Katrin Heise: Ja, das sind aber doch Sachzwänge, denen man mit dem hippokratischen Eid auch nicht irgendwie an den Leib rücken kann, oder?
Jochen Vollmann: Da haben Sie recht. Und da stößt jede Form eines Eides oder eines Gelöbnisses oder einer Deklaration eines Weltärztebundes an die Grenzen.
Katrin Heise: Wobei es ja sogar in die Richtung versucht zu gehen, denn es schließt ja das ärztliche Wohlbefinden mit ein. Da zielt man doch so ein bisschen auf Überlastung des Arztes hin, oder?
Jochen Vollmann: Ja, aber ich glaube, das ist eher zu verstehen in dem Zusammenhang, dass nur ein Arzt oder eine Ärztin, die auch auf das eigene, persönliche Wohlergehen im Sinne von gesunder Lebenshaltung – ausgeschlafen zum Dienst kommen, nicht immer die Batterien so ausfeuern, dass am nächsten Tag ich gar nicht mehr ein guter Arzt sein kann –, dass das Teil einer modernen professionellen Identität geworden ist.

Dissens über ärztlich assistierte Selbsttötung

Katrin Heise: Sie haben eben Ihre Studenten angesprochen. Welche Rolle spielt denn der hippokratische Eid tatsächlich in der Medizinerausbildung? Beachtet den eigentlich jemand?
Jochen Vollmann: Also dieser hippokratische Eid, viele Bürgerinnen und Bürger denken ja, alle Ärzte hätten den geschworen, ist ein historischer Text. Der ist also über 2.000 Jahre alt und immer noch wirkmächtig, das ist erst mal eine große Leistung für einen Text. Aber er hat weder rechtliche Bedeutung, noch spielt er zum Beispiel in unserem medizinethischen Unterricht eine zentrale Rolle.
Allerdings muss man sagen, dass in den letzten Jahren, häufig auch von Medizinstudierenden ausgehend, in einigen Fakultäten dieser Eid wieder anlässlich der Examensfeier feierlich vorgetragen wird. Ich glaube, das ist das Bedürfnis eines Aktes, eines Symbols, sich der professionellen Identität zu versichern. Aber inhaltlich hilft er uns, glaube ich, in vielen ethischen Konflikten kaum weiter.
Katrin Heise: Das heißt, eigentlich benötigen wir diese moralische Leitplanke oder benötigt der Ärztestand diese moralische Leitplanke nicht mehr?
Jochen Vollmann: Doch, er braucht auf jeden Fall eine moralische Leitplanke. Das Problem ist nur, ob so ein Eidestext, so eine Gelöbnisformel das leisten kann. Ich glaube, ein Eid ist dann wirksam, wenn er auch verbindlich ist, wenn alle ihn leisten. Das ist beides nicht der Fall. Und dann ist eine Eidesformel, glaube ich, auch dann wirkmächtig, wenn man verbindlich ethische Konflikte beantworten kann.
Aber das umgeht die Genfer Deklaration, wenn sie zum Beispiel schreibt: Ich werde den größten Respekt für das menschliche Leben wahren. Das ist doch eine sehr allgemeine Aussage, die überhaupt keine konkrete Antwort auf Fragen der Sterbehilfe, der Abtreibung, der Fortpflanzungsmedizin macht. Und das hängt, glaube ich, damit zusammen, Frau Heise, dass wir einen Wertepluralismus in der Gesellschaft und auch in der Ärzteschaft haben, dass wir keinen Konsens, sondern einen Dissens darüber haben, ob ärztlich assistierte Selbsttötung des Patienten im Sinne eines ärztlichen Ethos gut oder schlecht ist.
Ich glaube, das ist auch ein Problem, dass wir ethische Probleme haben, die man nicht mit einer einfachen Antwort, für alle verbindlich, in einem kurzen Text zusammenfassen kann.
Katrin Heise: Über den neu gefassten Eid des Hippokrates und das, was er eben nicht leisten kann, sprach ich mit Jochen Vollmann, Medizinethiker von der Ruhr-Universität Bochum. Herr Vollmann, danke schön für das Gespräch!
Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema