Irrwege der Corona-Diskussion

Moralische Verdammung schließt die "Bösen" aus

"Lasst euch nicht (besch)impfen", lautert das Graffiti auf einer Hauswand in Hamburg.
Einige Impfgegner fühlen sich in der zugespitzten Corona-Debatte zu Unrecht in die rechte Ecke gedrängt. © picture alliance / dpa
Ein Standpunkt von Michael Andrick · 10.01.2022
Die Corona-Politik beherrscht die Debatten: In der Bevölkerung stehen sich zwei Lager gegenüber und der Ton wird immer schärfer. Eine Gefahr gehe vor allem von der Moralisierung der Corona-Diskussion aus, beobachtet der Philosoph Michael Andrick.
Politische und moralische Urteile haben jeweils eine bestimmte Funktion in einer säkularen Gesellschaft. Im gleichberechtigten Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Standpunkten erfüllen sie getrennte, sich ergänzende Aufgaben.

Mit einem politischen Urteil wollen wir sagen, was für uns alle gerade in einer bestimmten Frage am besten wäre. Es betrifft das Gemeinwohl. Politische Urteile verfolgen auch individuelle Interessen, aber in vorsichtiger Zusammenschau mit den Interessen der anderen. 

Dieses Bemühen um Einbeziehung und Ausgleich gehört zu den republikanischen Tugenden der Bürgerlichkeit. Dazu zählen außerdem: Zuhören können, Ausredenlassen, Mäßigung der Sprache zur Mitmenschlichkeit und die Grundannahme, andere hätten auch etwas zu sagen.

Dem gegenüber stehen moralische Urteile. Sie sind ihrem Wesen nach weder umsichtig noch ausgleichend; sie legen vielmehr fest: Dies ist gut, jenes ist böse, und du bist es auch, je nachdem, ob du diese oder jene Position vertrittst.

Beleidigung statt Politik

Nach meiner Beobachtung begann die Krise unserer Demokratie, als Regierende und ihre Unterstützer im Streit um die Pandemiemaßnahmen Menschen mit anderer Meinung nicht etwa politisch kritisierten, sondern sie stattdessen moralisch verurteilten: Sie seien „rücksichtslos“, „unsolidarisch“ – und auch noch" irrational". Denn die heute erschreckend üblichen Schmähbegriffe wie „Coronaleugner“ oder „Verschwörungstheoretiker“ unterstellen den so Titulierten Idiotie oder Blindheit am Rande der psychischen Erkrankung. 

Wir bedürfen in dieser Krise einer laufenden öffentlichen Abwägung mehrerer Güter von Verfassungsrang wie Selbstbestimmung, Gesundheitsfürsorge und Kinderschutz. 

Alle Bürger sind dabei gefragt, alle Standpunkte sollten gehört und alle Argumente in freiem Austausch gewürdigt werden. Dies muss in einer Demokratie selbstverständlich sein, in der Demokraten die Schaltstellen der Macht und machtferne Rechercheure die Redaktionen besetzen. 

Die Selbstbesinnung der Republik aber wird aktuell moralisierend kurzgeschlossen. Beleidigung ersetzt Argumentation, im langen Verlauf der Krise immer mehr auf allen Seiten der Kontroverse.  

Das Ende der Republik

Die Moralisierung der Pandemiepolitik ist das Problem, denn sie nimmt dieses Thema aus der Verhandlung unter Gleichen heraus. Nicht nur die politische Ausgestaltung, nein, schon die legitime Diskussion überhaupt über die Pandemiepolitik wird so zum Privileg der „Guten“ und „Solidarischen“ gemacht. 

Corona-Politik ist in Deutschland heute nicht mehr die gemeinsame Regelung einer öffentlichen Angelegenheit unter gleichberechtigten Bürgern. Unter den Vorzeichen moralischer Demagogie verkehrte sie sich zu einer Kampagne der „Guten“ gegen die – wenn schon nicht gleich „Bösen“ – dann doch zumindest Uninformierten, Uneinsichtigen, Unbelehrbaren; wir fallen vor die Neuzeit zurück, als Politik noch "Gottes Werk auf Erden" war. 

Die „Rechtgläubigen“ stoßen die „Leugner“ ihres Glaubens durch moralische Verdammung aus dem Kreis der legitimen Diskutanten. Die Gemeinschaft der Diskutanten aber ist die Republik. Wer als moralisch Unwürdiger aus der Diskussion gestoßen wird, dem (und seinesgleichen) wird das Gemeinwesen, die Republik, aufgekündigt. 

Versöhnung als Antwort

Der Ausgestoßene wird vom Bürger, der mit den anderen die Politik gestaltet, zum Aussätzigen gemacht. Sein Leben wird nun mitsprachelos nicht von „der Politik“, sondern von den Beschlüssen dominiert, die von den Guten und ihrer Gefolgschaft für „moralisch geboten“ erklärt werden. Das ist in unserer Verfassung allerdings nicht vorgesehen, sondern verboten. 

Ist Spaltung der Bürgerschaft die offizielle Politik, dann muss Versöhnung die Antwort der Bürger sein. Suchen wir wieder das Gespräch, gerade mit allen, die anderer Meinung sind als wir. Üben wir uns in Zivilität.

Michael Andrick, Studium in Deutschland und England, 2010 Promotion in Philosophie (FU Berlin). Seit 2006 in Großunternehmen tätig, unter anderem drei Jahre als Führungskraft in den USA und als Digitalisierungsmanager in Deutschland. Zuletzt erschien von ihm 2020 das Buch "Erfolgsleere. Philosophie für die Arbeitswelt".

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