Medikamententests

Versuchslabor Afrika

Welche Konsequeznzen hat die zunehmende Globalisierung der Pharmaforschung?
Welche Konsequeznzen hat die zunehmende Globalisierung der Pharmaforschung? © dpa / Jens Kalaene
Von Leonie March |
Ob wir ein Medikament einnehmen oder uns impfen lassen - wenn es um unsere Gesundheit geht, sind wir auf klinische Studien angewiesen. Viele Versuche werden mittlerweile in Schwellen- und Entwicklungsländern durchgeführt. Das wirft viele Fragen auf.
Ganz wohl in ihrer Haut, scheint sich die junge Frau nicht zu fühlen. Nennen wir sie Ayanda, denn ihr wahrer Name darf aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht genannt werden.
Unruhig rutscht Ayanda auf ihrem Plastikstuhl hin und her. Ihre Augen folgen jeder Bewegung: Der dicken Krankenschwester, die den langen Flur entlangkommt. Dem jungen Mann, der alle paar Minuten durch die himmelblaue Tür nach draußen auf den Hof geht, um sich eine Zigarette anzustecken. Dem schlanken Arzt, der mit einem Stapel Akten unter dem Arm freundlich nickend das Wartezimmer durchquert. Eigentlich sollte ich mich mittlerweile an diese Situation gewöhnt haben, sagt die 19-jährige Studentin entschuldigend. Denn sie kommt nun schon seit Monaten regelmäßig hierher.
"Ursprünglich war ich auf der Suche nach einer Klinik, in der ich Blut spenden könnte. Doch dann erzählte mir einer der Mitarbeiter, von der Studie, die sie hier durchführen. Es geht um eine Impfung gegen HIV. Sie haben mir alles ganz genau erklärt und mich überzeugt, daran teilzunehmen."
HVTN 100 heißt diese Studie. Momentan wird sie an einem halben Dutzend Kliniken in ganz Südafrika durchgeführt, unter anderem hier in der Hafenmetropole Durban, am Forschungsinstitut CAPRISA.
Medikamententests sind viel Papierkram
Zuständig ist Nigel Garrett, der Leiter der Impfforschung. Ein schlanker dunkelhaariger Arzt, der ohne weißen Kittel in seinem kleinen, schmucklosen Büro sitzt. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Akten. Medikamententests sind viel Papierkram, erklärt er lachend. Klinische Studien gehören seit Jahren zu seinem Alltag. Zuerst in England, seit einigen Jahren in Südafrika. Aber allein die Erwähnung der Abkürzung HVTN 100 bringt seine Augen zum Leuchten.
"Auf Konferenzen hieß es immer: In zehn Jahren wird es eine Impfung gegen HIV geben. Und das jahrelang. Bei jeder Konferenz. Bislang hat es erst vier Wirksamkeitsstudien gegeben und jede Menge Sicherheitsstudien, die aber nicht die gewünschten Ergebnisse brachten. Erst eine Studie in Thailand machte Hoffnung: Im ersten Jahr wurden 60 Prozent der Infektionen verringert und im zweiten immerhin noch 31 Prozent. Darauf bauen wir jetzt auf. Wir haben die Komponenten leicht verändert und nutzen einen neuen Hilfsstoff. Das Interesse und die Begeisterung sind riesig."
CAPRISA ist eine renommierte, unabhängige Institution, die sich auf die HIV- und Tuberkulose-Forschung spezialisiert hat. Die südafrikanische Regierung unterstützt die Studie ebenso, wie die Bill- und Melinda-Gates-Stiftung und das nationale Gesundheitsinstitut der USA. Die kombinierten Impfstoffe stammen aus den Laboren der beiden Pharmariesen Sanofi Pasteur und Novartis.
Eine seltene Kooperation in einer Branche, die normalerweise von scharfer Konkurrenz geprägt ist. Denn bei klinischen Studien geht es um Milliarden. Ein Geschäft, in dem es neben Licht auch Schatten und viele Grauzonen gibt, betont Annelies den Boer von der niederländischen Patientenrechtsorganisation WEMOS.
"Klinische Studien verlagern sich zunehmend in Länder wie China, andere Staaten in Asien oder Afrika, in den Mittleren Osten, sowie Osteuropa und Russland. Der letzten Statistik zufolge hat die Zahl in den USA und Westeuropa deutlich abgenommen, obwohl dort mit einem Anteil von 40 bis 50 Prozent noch immer die meisten Studien durchgeführt werden. Auch Deutschland spielt dabei eine wichtige Rolle. Allerdings sind das nur Schätzungen. Viele Studien sind ländergreifend. Auch deshalb ist schwer exakt zu sagen, wie viele tatsächlich wo stattfinden."
Ein erster Hinweis darauf, wie undurchsichtig diese weltweit agierende Branche ist. Viele Tests tauchen in keiner Statistik auf, Ergebnisse dringen nie an die Öffentlichkeit.
Als verlässlichste Quelle gilt die Webseite clinicaltrials.gov, der "National Institutes of Health", einem mächtigen Zusammenschluss von über zwei Dutzend medizinischen Forschungsinstituten in den USA. Weltweit sind dort derzeit über 200.000 klinische Studien gelistet.
Darunter allerdings auch solche, die bereits abgeschlossen oder frühzeitig abgebrochen wurden. Außerdem ist die Registrierung freiwillig. Wer seine Studie nicht meldet, taucht in der Übersicht auch nicht auf.
"Es ist wirklich schwierig, an Daten über klinische Studien heranzukommen. Insbesondere, wenn man sich für die ethischen Aspekte interessiert. Die Frage, wie diese Studien tatsächlich durchgeführt werden."
Genau das hat mich auch interessiert. Und entsprechend hagelte es Absagen auf meine Anfragen. Weder die Pharmahersteller selbst noch so genannte Auftragsforschungsunternehmen, die klinische Studien für die großen internationalen Konzerne weltweit durchführen, waren zu einem Interview bereit.
"Liebe Frau March, vielen Dank für Ihre Anfrage. Aufgrund unverantwortlicher Berichterstattung einiger Medien in der Vergangenheit können wir Ihnen jedoch zu diesem Zeitpunkt kein Interview geben. Mit freundlichen Grüßen."
Geschäft mit klinischen Studien bleibt undurchsichtig
Unverantwortlich heißt wohl zu kritisch. Das Geschäft mit den klinischen Studien bleibt damit undurchsichtig. Die Skandale der letzten Jahre belegen, dass Missbrauch in dieser Branche kein Einzelfall ist.
1996. In Nigeria testet der Pharmakonzern Pfizer während einer Meningitis-Epidemie das Antibiotikum Trovan an Minderjährigen. Elf Kinder sterben, viele weitere sind lebenslang behindert.
2003. In Indien führt Shanta Biotech, eine Sanofi-Tochter, einen illegalen Test durch. Den Patienten ist nicht bewusst, dass sie an einer Studie teilnehmen. Acht von ihnen sterben.
2014. Durch eine Stichprobe wird bekannt, dass die indische Firma GVK Bio, die Tests für etliche internationale Pharmakonzerne durchführt, offenbar jahrelang Studien gefälscht oder massiv manipuliert hat.
Es gibt zahlreiche weitere Beispiele. Eine umfassende Aufführung würde Stunden dauern.
"Wir untersuchen dieses Thema nun schon seit fast zehn Jahren. In Indien, Afrika, Lateinamerika und Russland. Die Verstöße betreffen sowohl große wie auch kleinere Pharmaunternehmen. Dahinter stecken nicht unbedingt üble Absichten. Das Problem ist vielmehr, dass diese Konzerne die klinischen Studien outsourcen. An Auftragsforschungsinstitute, die teilweise selbst Subunternehmer beauftragen. Für sie haben ethische Aspekte und der Schutz der Probanden oft keine Priorität. Gerade in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen funktionieren die Kontrollmechanismen, gelinde gesagt, nicht perfekt. Hier wären ein besser Schutz und eine effizientere Überwachung notwendig. Aber das passiert nicht."
Längst nicht alle Studien werden so transparent durchgeführt wie die HIV-Impfstudie. Zwar wurde mein Besuch in der CAPRISA-Klinik genau vorbereitet und Ayanda als Testperson handverlesen. In mein Interview mit ihr mischte sich jedoch niemand ein.
Die junge Studentin ist eine von rund 252 gesunden, HIV-negativen Teilnehmern. Geprüft wird, wie ihr Immunsystem auf den Wirkstoff reagiert und ob er gut vertragen wird. So beginnen alle Medikamententests an Menschen.
Bei der ersten Injektion sei sie extrem nervös gewesen, erzählt die 19-Jährige.
"Ich wusste ja nicht, ob ich meinem Körper dadurch schaden würde. Ich hatte Angst, dass sie mich vielleicht mit HIV infizieren. Aber dann haben sie mir alles noch mal genau erklärt. Danach ging es mir besser. Ich hatte bislang keinerlei Nebenwirkungen. Es ist also alles gut."
Drei Injektionen hat Ayanda schon hinter sich. Fünf sind es insgesamt. Zwischendurch muss sie in regelmäßigen Abständen zu Untersuchungen erscheinen. Viele Probanden hätten zu Beginn Angst vor einer Ansteckung mit HIV gehabt, erzählt Klinikleiterin Kathy Mngadi. Doch dazu bestehe keinerlei Anlass.
"Der Impfstoff gleicht einer Photokopie verschiedener Teile. Er enthält also weder lebendige noch abgestorbene Teile des HI-Virus, sondern wurde im Labor synthetisch hergestellt. Es ist außerordentlich wichtig, das zu wissen, denn es gibt viele Gerüchte über eine mögliche Ansteckungsgefahr. Dabei ist das vollkommen ausgeschlossen."
So steht es auch in der zwanzig Seiten starken Einverständniserklärung für die HIV-Impfstudie. Ein solches Dokument gehört zum Standard aller klinischen Studien. Festgeschrieben etwa in den international anerkannten Qualitätsrichtlinien der "Good Clinical Practise", der guten klinischen Praxis.
Bereits 1947 wurde der Nürnberger Kodex formuliert. Eine erste und bis heute prägende ethische Richtlinie zu Experimenten an Menschen. Entstanden unter dem Eindruck der menschenverachtenden Forschung während des Nationalsozialismus. 1964 beschloss der Weltärztebund dann die "Deklaration von Helsinki", die zuletzt vor zwei Jahren überarbeitet wurde.
Ethische Standards
Ein umfassendes Papier, das sich sehr gut liest. Darin sind international gültige ethische Standards festgeschrieben, die die Gesundheit, die Rechte und die Interessen der Versuchspersonen bei klinischen Studien schützen sollen. Die Probanden sollen nur freiwillig, gut informiert und umfassend aufgeklärt an derartigen Tests teilnehmen. Doch leider ist diese Deklaration kein Gesetz, kritisiert Mira Chang. Die Juristin hat an der Universität Freiburg über rechtliche und ethische Herausforderungen globaler Arzneimitteltests promoviert.
"Der Weltärztebund hat als solcher nicht die Möglichkeit, rechtlich verbindliche Regelungen zu erstellen, einfach deshalb, weil es eine private Organisation ist. Die Deklaration von Helsinki kann aber quasi indirekt rechtliche Wirkung erhalten und zwar dann wenn beispielsweise tatsächlich geltendes Recht auf die Deklaration von Helsinki verweist und diese quasi inkorporiert, was z.B. im Europarecht der Fall ist. Die Deklaration von Helsinki kann auch dadurch rechtliche Wirkung erhalten, dass sie z.B. berufsrechtlich verbindlich wird. Das ist z.B. der Fall für die Ärzte in Deutschland. Dadurch sind z.B. die Ärzte aber auch die Psychotherapeuten rechtlich an die Deklaration gebunden."
Insofern bestehen doch wieder gravierende Unterschiede zwischen den Ländern. Und es gibt noch einen Haken: Der Weltärztebund ist ein Interessensverband, in dem aber nicht jeder Arzt weltweit vertreten ist, sondern die Ärztekammern. Die Stimmengewichtung richtet sich nach der Höhe der Mitgliedsbeiträge.
"So hat z.B. 2009 China nur etwa knapp 2.000 Mitglieder an den Weltärztebund gemeldet und entsprechend einen geringen Stimmanteil erhalten; obwohl die chinesische Ärztekammer etwa 500.000 Mitglieder hat und es in diesem Land auch keine Pflicht gibt, Mitglied der Ärztekammer zu sein. Im Jahr 2013, als zum letzten Mal die Deklaration von Helsinki revidiert worden ist, sind ca. ein Drittel der Stimmen auf die Länder USA, Deutschland und Japan entfallen. Also allein daran sieht man dieses unglaubliche Übergewicht an bestimmten reicheren, westlichen Ländern."
Die Industriestaaten diktieren also die Regeln. Welchen Einfluss die mächtige Pharma-Lobby im Westen darauf hat, ist unklar, da die Entscheidungsprozesse nicht öffentlich ablaufen. Und so bleibt trotz vieler guter Absichtserklärungen eine gravierende Grauzone.
In einem Hochhaus auf dem Campus der Universität von Kwazulu-Natal sitzt Professorin Joyce Tsoka-Gwegweni in ihrem Büro. Aus dem Fenster schaut sie auf die subtropische Hafenmetropole Durban. Auf den Fluren unterhalten sich Studenten. Auf ihrem Schreibtisch stapeln sich Papierberge; alles mehrere hundert Seiten starke Anträge für klinische Studien.
"We see a lot of clinical trials."
Die Professorin ist die Vorsitzende des Ethikrates an der Universität, der jeden Antrag für eine klinische Studie prüfen und genehmigen muss. Die Zahl steigt stetig.
Südafrika sei wegen seiner vergleichsweise guten Infrastruktur und Forschungslandschaft ein beliebtes Ziel für klinische Studien, erklärt die Professorin. Wegen seiner multikulturellen Bevölkerung und der hohen Zahl von Patienten, die sowohl unter Krankheiten der dritten wie auch der ersten Welt leiden, HIV und Tuberkulose ebenso wie Diabetes und Bluthochdruck. Aber natürlich spiele auch die Armut vieler Menschen eine Rolle.
"Die Rolle der Ethikkomitees ist es, sicherzustellen, dass den Studienteilnehmern kein Leid zugefügt wird. Denn gerade in der HIV-Forschung kommen die meisten aus armen, ländlichen Gegenden. Wir schauen uns also genau an, welche Zielgruppe die Studie hat: Ob es beispielsweise Kinder, Schwangere oder psychisch Kranke sind, die besonderen Schutz brauchen. Davon ist es abhängig, ob die Studie nur von einigen Mitglieder oder vom gesamten Ethik-Komitee beschlossen werden muss, das einmal im Monat zusammentritt."
Inkompetenz, Bestechung, Korruption
Das Gremium besteht aus rund zwei Dutzend praktizierenden Medizinern, verschiedener Fachrichtungen, sowie Forschern und Laien. Nicht in jedem Schwellen- und Entwicklungsland ist die Expertise der Ethik-Komitees so hoch. Immer wieder gibt es Berichte über Inkompetenz, Bestechung und Korruption, zum Beispiel in Indien.
Doch auch wenn Südafrika besser aufgestellt ist, sieht Tsoka-Gwegweni ihre Aufgabe durchaus selbstkritisch. In einem Land mit elf offiziellen Landessprachen, vielen Dialekten und einer weitgehend mangelhaft gebildeten Bevölkerung sei es schwierig sicherzustellen, dass alle die Einverständniserklärung auch tatsächlich verstehen. Dazu kommen kulturelle Eigenheiten.
"Für die Forschung ist es ethisch gesehen wünschenswert, dass man mit der Testperson ungestört allein spricht. Aber in einigen Kulturen ist es nicht möglich, mit einer Frau zu sprechen, ohne dass ihr Mann dabei ist. Dazu kommen soziale Aspekte: Wir wissen von Frauen, die in ihrem Dorf geschlagen wurden, weil sie an einer HIV-Studie teilnehmen. Die Krankheit ist noch immer mit Stigma und Diskriminierung verbunden. Gerade in ländlichen Gegenden geschieht nichts ohne das Wissen der Nachbarn, der gesamten Gemeinde und des Dorfvorstehers. Man muss alle also schon früh mit einbeziehen und erklären, worum es bei der Studie geht und warum sie für das Dorf, das Land oder die Gesellschaft wichtig ist."
Forschungsinstitute wie CAPRISA haben deshalb auch Angestellte in den Dörfern und Stadtvierteln. Es sei viel mehr nötig als nur eine Unterschrift auf der letzten Seite der Einverständniserklärung, betont der Leiter der Impfstudie Nigel Garrett. Bei jedem Besuch würden Aspekte aus dem Dokument erwähnt und auch abgefragt. Jeder Proband erhalte eine Kopie, in der er jederzeit nachschlagen könne. Doch in ihre Köpfe könne man letztlich nicht schauen.
"Es ist wichtig, dass die Leute begreifen, dass es hier noch nicht um eine wirksame Impfung geht. Es ist eine Sicherheitsstudie. Das machen wir so deutlich wie möglich. Aber wir können nicht hundertprozentig garantieren, dass einzelne Probanden es trotzdem falsch interpretieren. Dass sie beispielsweise denken, sie seien vor einer Ansteckung geschützt, deshalb keine Kondome mehr benutzen und sich dadurch infizieren."
Ich frage bei Ayanda nach, was sie von den in der Einverständniserklärung erwähnten Risiken und Nebenwirkungen behalten hat.
"Headache, dizziness, chills, nausea, vomiting and so on."
Alle möglichen Nebenwirkungen
Kopfschmerzen, Schwindel, Schüttelfrost, Übelkeit, Erbrechen, zählt Ayanda auf. All das sind mögliche Nebenwirkungen. Wem angesichts dieser Liste schon übel würde, der könne auch noch ablehnen, betont die 19-jährige Studentin.
"Im Formular steht, dass man die Studie jederzeit abbrechen kann. Mit unserer Unterschrift stimmen wir zu und bestätigen, dass wir alles verstanden haben. Klar sind das viele Informationen. Aber für jemanden wie mich, der es gewohnt ist zu lesen und etwas zu lernen, ist es nicht schwer, alles zu behalten. Für andere ist es natürlich nicht so leicht. Für Leute, wie meine Oma zum Beispiel. Für die meisten ist das alles schon ziemlich kompliziert."
Ayanda stammt aus einem Township in Durban. Einem der Viertel, in denen während der Apartheid die unterdrückte dunkelhäutige Bevölkerung leben musste. Aids, Armut und Arbeitslosigkeit gehören hier zum Alltag. Nur wenige haben Abitur und können studieren, so wie Ayanda. Der Respekt vor den gebildeten Göttern in Weiß ist verbreitet. Die Menschen stellen weniger kritische Fragen.
Viele leben von der Hand in den Mund. Da sei das kleine Zubrot durch die Teilnahme an einer klinischen Studie durchaus willkommen, sagt Ayanda. Auch wenn es zu Leben nicht reiche. Umgerechnet 10 bis 16 Euro erhält sie für jeden Besuch in der Klinik. Denn das Geld solle kein Anreiz für die arme Bevölkerung sein, an einem solchen Test teilzunehmen, betont Nesri Padayatchi, stellvertretende Direktorin des CAPRISA-Forschungsinstituts.
"Es ist eine Aufwandsentschädigung für die Zeit der Probanden, die Fahrtkosten zur Klinik und die Unannehmlichkeiten, wenn sich beispielsweise jemand extra frei nehmen muss. Im Gegensatz beispielsweise zu den USA, in denen Probanden mit viel Geld geködert werden. Schon ein Samenspender bekommt 5000 Dollar, dasselbe gilt für klinische Studien. In Südafrika gibt es das nicht. Selbst wer nur Blut spendet, bekommt kein Geld dafür. Er tut es von Herzen."
Im Fall von Ayanda trifft das tatsächlich zu.
"Für mich steht das Geld auch nicht im Vordergrund. Ich will etwas dazu beitragen, dass ein Heilmittel gefunden wird. Ich habe Bekannte, Verwandte und Freunde an Aids verloren. Ich weiß also, wie furchtbar diese Krankheit ist."
Nicht alle Probanden in Schwellenländern würden also ausgenutzt, betont Nesri Padayatchi. Nicht immer seien Armut und Bildungsmangel der Hintergrund. Auf die Nachfrage, warum es in Südafrika trotzdem leichter sei, Probanden zu rekrutieren, reagiert sie empfindlich, fast aufgebracht.
"Ich weiß nicht, wie Sie dazu kommen. Es ist überhaupt nicht einfach! Meistens sind die Auswahlkriterien so streng, dass man Mühe hat, Probanden zu finden. Es besteht also nur der Eindruck, dass die Rekrutierung ein Kinderspiel ist."
In den Hochglanzbroschüren und auf den Webseiten von milliardenschweren Auftragsforschungsunternehmen wie Quintiles, Parexel, INC Research oder Covance, die Tests für internationale Pharmakonzerne in aller Welt durchführen, ist von Rekrutierungsproblemen in Südafrika jedoch keine Rede.
"Wir können auf einen großen Pool von Testpersonen zurückgreifen. Wir rekrutieren Probanden schnell und verlässlich. Geringere Infrastruktur- und Personalkosten garantieren erhebliche Einsparungen bei einer schnelleren Durchführung der Studie!"
Wie kommt es zu diesem Widerspruch? Ist es nur dann einfach, Testpersonen in Südafrika zu finden, wenn man es mit der Ethik nicht so genau nimmt? Annelies den Boer von der Patientenrechtsorganisation WEMOS antwortet auf diese Frage so:
"In den letzten zehn Jahren sind die Ethik-Komitees in Südafrika besser organisiert und kontrolliert worden. Davor haben die Pharmakonzerne und Auftragsforschungsunternehmen eine Art Komitee-Shopping betrieben. Sie suchten sich einfach das nachsichtigste Ethikgremium aus. Heute ist das nicht mehr so leicht. In Südafrika spielen auch die Kosten keine so große Rolle mehr. Im Gegensatz zu Indien, Russland oder Lateinamerika, wo klinische Studien bis zu 50% günstiger sind als in Industriestaaten. Der Hauptgrund, warum in Südafrika so viele Menschen bereit sind, an klinischen Studien teilzunehmen, ist der mangelnde Zugang zu einer guten Gesundheitsversorgung. Insofern ist es für die Auftragsforschungsunternehmen immer noch einfacherer, Probanden in Südafrika zu rekrutieren, als beispielsweise in europäischen Ländern."
Für einen Besuch im Krankenhaus müssen die Menschen einen Tag einplanen
Direkt neben der Klinik, in der die HIV-Impfstudie durchgeführt wird, befindet sich ein staatliches Krankenhaus für Infektionskrankheiten. Im Innenhof sitzen dutzende Menschen auf Holzbänken und warten auf ihren Termin. Viele sind schwer krank. Sie haben HIV oder Tuberkulose. Einige werden von Hustenkrämpfen geschüttelt. Wegen der akuten Ansteckungsgefahr hat das Krankenhaus den Warteraum nach draußen an die frische Luft verlagert.
"I was at the hospital yesterday and I saw more than 500 people at the cues."
Mehr als 500 Patienten habe er gestern im Krankenhaus nebenan gezählt, sagt CAPRISA-Mitarbeiter Sibongiseni Nxumalo. Das ist eher die Regel als die Ausnahme. Zwar ist ein großer Teil der Behandlungen für die arme Bevölkerungsmehrheit kostenlos. Aber für einen Besuch im Krankenhaus müssen die Menschen einen ganzen Tag einplanen. Manchmal kommen sie trotzdem nicht dran und müssen am nächsten Tag wiederkommen.
Wie aus vielen Schwellen- und Entwicklungsländern ist medizinisches Personal aus Südafrika in Scharen ins Ausland abgewandert, wo die Arbeitsbedingungen besser und die Löhne höher sind. Das staatliche Gesundheitssystem ächzt unter dem Personalmangel und der gleichzeitig hohen Zahl chronisch Kranker. Immer wieder gibt es auch Engpässe bei der Versorgung mit Medikamenten. Nur wer es sich leisten kann, hat Zugang zu privaten Krankenhäusern und einer Erstweltbehandlung.
Nur eine Tür trennt das Krankenhaus von der Testklinik, doch gefühlt befindet man sich dort in einer anderen Welt. Die Linoleumböden sind penibel sauber, auf den Fluren herrscht geschäftiges, aber kein hektisches Treiben. Im Wartezimmer sitzt nur ein kleines Grüppchen Patienten. Hinter der Rezeption besprechen sich etwa ebenso viele Angestellte. Ayanda traute anfangs ihren Augen nicht.
"Das hier ist Spitzenklasse. In meinem Viertel ist die Gesundheitsversorgung wirklich schlecht. Man muss lange Schlange stehen und auch auf die Untersuchungsergebnisse wartet man teilweise wochenlang. Deshalb bin ich lange Zeit gar nicht mehr hingegangen. Aber jetzt weiß ich, dass ich in guten Händen bin."
Als Testperson ist Ayanda zum ersten Mal in ihrem Leben komplett medizinisch durchgecheckt worden.
"Zu Beginn macht man einen HIV- und Schwangerschaftstest, sie messen den Blutdruck und das Gewicht. Man wird sehr gründlich von einem Arzt untersucht und führt ein umfassendes Beratungsgespräch mit einem Psychologen. Natürlich ist das ein Vorteil. Nun weiß ich, dass ich gesund bin."
Ayanda wird diesen gefühlten Luxus insgesamt anderthalb Jahre genießen können. So lange dauert die HIV-Impfstudie, so lange wird sie medizinisch und psychologisch exzellent betreut. Selbst wenn sie beispielsweise zum Zahnarzt müsste, würde die Klinik ihr eine Überweisung ausstellen und damit die normale Wartezeit drastisch verkürzen. Im Fall von Nebenwirkungen schützt während der Studiendauer eine spezielle Haftpflichtversicherung. Das ist in Südafrika, im Gegensatz zu anderen Schwellenländern, Vorschrift.
Doch nicht nur für Patienten sei es aufgrund des schlechten Gesundheitssystems reizvoll, an einer klinischen Studie teilzunehmen, betont WEMOS-Expertin Annelies den Boer.
"Für viele Ärzte ist es finanziell sehr interessant, ihre Patienten für klinische Studien zu gewinnen. Vor allem in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen bessern Mediziner so ihre Gehälter auf. Deshalb sind sie auch nicht immer erpicht darauf, ihre Patienten umfassend über die Risiken aufzuklären. Nebenwirkungen werden häufig auch gegenüber den Auftraggebern verschwiegen. Ethik-Komitees und auch die Pharmaunternehmen selbst müssten hier stärker kontrollieren. Aber das passiert leider nicht."
Dieses Problems ist sich auch die Vorsitzende des Ethikrates an der Universität von Kwazulu-Natal bewusst. Stirnrunzelnd beugt sich Professorin Joyce Tsoka-Gwegweni über einen neuen Papierberg. Angesichts der stetig steigenden Anzahl von Anträgen stoße ihr Komitee langsam an seine Grenzen.
Legaler Dschungel selbst für gebildete Menschen schwer zu durchschauen
"Das ist das Traurige. Wir haben zwar mehr Arbeit, aber nicht mehr Mitglieder. Jeder von uns arbeitet freiwillig. Keiner von uns wird dafür bezahlt. Das ist auch ein Grund dafür, dass wir uns so gut wie nie ein Bild vor Ort in der Klinik machen können. Dazu fehlen einfach die Ressourcen."
Die Ethik-Komitees verlassen sich also meistens darauf, was in den Anträgen steht und segnen sie ab. Nur ein Bruchteil wird abgelehnt.
Jede Abweichung vom Protokoll müsse dem Gremium gemeldet werden, rechtfertigt sich die Professorin. Bei internationalen Studien wie HVTN100 müssten außerdem mehrere Ethikräte in allen beteiligten Ländern und auch die Sponsoren informiert werden. Der Raum für Missbrauch sei in Südafrika jedenfalls gering, auch wenn Verstöße nicht vollkommen ausgeschlossen werden könnten.
"Das sollte natürlich nicht passieren, aber manchmal kann uns natürlich etwas entgehen. Das ist allerdings sehr selten. Dafür sorgen die Kontrollmechanismen."
Es gibt tatsächlich eine Fülle von Richtlinien und Gesetzen, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Die Rechtslage hat sich in den letzten zehn Jahren insgesamt deutlich verbessert.
Doch dieser legale Dschungel sei selbst für gebildete Menschen nur schwer zu durchschauen, betont die Juristin Mira Chang.
"Die größte Grauzone ist natürlich immer die Rechtsdurchsetzung. Gerade in Entwicklungsländern, wo auch ärmere Personen für Versuche rekrutiert werden, die nicht die Möglichkeiten oder Ressourcen haben den Rechtsweg zu beschreiten. Und selbst wenn sie es könnten, wäre die Frage, würden sie Recht bekommen oder nicht. Und in so einem Umfeld ist es natürlich für finanzstarke Unternehmen einfacher, Rechte, die bestehen, zu verletzen oder zu umgehen."
Weltweit belegen die Skandale der letzten Jahre, dass Rechtsverstöße in dieser Branche keine Einzelfälle sind.
Dazu kommt die Entscheidung der FDA, der US-Behörde für die Überwachung von Lebensmitteln und Medikamenten: Für klinische Studien, die im Ausland durchgeführt werden, sollen demnach zwar die Qualitätsstandards der "guten klinischen Praxis" gelten, nicht aber die aktuellste Fassung der Deklaration von Helsinki. Im Gegensatz zur EU, betont Annelies den Boer von der Patientenrechtsorganisation WEMOS.
"Vor ein paar Jahren hat die Europäische Arzneimittel-Agentur ihre Richtlinien geändert. Sie prüft strenger, ob Medikamententests auch in Drittländern nach den ethischen Maßstäben durchgeführt wurden. Es findet also ein zarter Bewusstseinswandel statt. Europa übernimmt nun auch rechtlich mehr Verantwortung. Aber was ich noch nicht sehe ist, dass Pharmakonzerne, die gegen ethische Richtlinien verstoßen, auch dafür bestraft werden. Das wäre natürlich der bedeutsamste Schritt."
Das ist auch im Sinne der Bevölkerung in den Industriestaaten. Denn schlechte Studien liefern schlechte Ergebnisse. Nebenwirkungen, die verschwiegen werden, können Patienten in aller Welt gefährden, wenn das Mittel bereits in den Apotheken steht.
Patientenrechtlerin: Weniger klinische Studien!
Die niederländische Patientenrechtlerin fordert nicht nur, dass klinische Studien schärfer kontrolliert werden, sondern auch, dass insgesamt weniger durchführt werden.
"Der Großteil der Medikamente, die bei uns auf den Markt kommen hat keinerlei zusätzlichen therapeutischen Wert. Oft sind es nur minimale Variationen bereits existierender Arzneien. Bis jetzt wurde diesem Missstand jedoch nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Eine Ausnahme ist Deutschland: Dort wird der therapeutische Nutzen eines Medikaments geprüft, bevor es auf dem Markt zugelassen wird. Diesem Vorbild sollten andere europäische Länder folgen. Denn das würde ein starkes Signal an die Pharmaindustrie aussenden, sich mehr auf die Entwicklung von Medikamenten zu konzentrieren, die wir tatsächlich brauchen, statt auf solche, die einfach nur sehr lukrativ sind."
Eine mit dem HIV-Virus infizierte Frau nimmt am Freitag (11.05.2007) in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Gulu in Uganda ihre Medizin ein.
Durch den Erfolg der Anti-Aids-Medikamente ist die Sterblichkeitsrate gesunken.© picture-alliance/ dpa - Frank May
Mit der Frage der Patente und der Gewinnmaximierung der Pharmakonzerne, ist noch eine weitere Debatte verbunden. Viele Medikamente, die in Ländern wie Südafrika getestet werden, sind für die arme Bevölkerungsmehrheit später schlicht zu teuer.
Die Forderung nach einem gerechteren Zugang zu Medikamenten sei jedoch nur schwer durchzusetzen, meint die Juristin Mira Chang.
"Die einfache politische Antwort ist natürlich, dass die Pharmalobby sehr finanzstark und sehr einflussreich ist und natürlich nicht gesetzlich verpflichtet werden möchte, bestimmte Zahlungen zu leisten. Es gab auch international Bestrebungen, ob nicht Unternehmen unmittelbar völkerrechtlich auf die Einhaltung von bestimmten Menschenrechten verpflichtet werden sollten. Solche Bestrebungen sind auch alle im Sande verlaufen. Was es derzeit gibt, sind natürlich solche weicheren Methoden der "corporate social responsibility", wie sie derzeit überall im Munde geführt wird."
In der Klinik, an der die HIV-Impfstudie durchgeführt wird, ist der zuständige Arzt, Nigel Garrett, dagegen zuversichtlicher.
"Wenn man ein effektives Mittel gefunden hat, dann wird es auch angewendet. Der öffentliche Druck wird groß sein. Dazu kommt, dass internationale Philanthropen wie Bill und Melinda Gates und eine öffentliche Förderung hinter unserer Impfstudie stehen. Wenn die HIV-Impfung tatsächlich wirkt, dann garantiere ich Ihnen, dass die Weltgesundheitsorganisation sie auch an all jene ausliefert, die sie brauchen. Es wird sicherlich auch dafür gesorgt, dass sie so effizient und preiswert hergestellt wird, wie möglich."
Im Wartezimmer treffe ich auch Ayanda wieder. Die junge Frau ist auf dem Weg nach Hause. Ihre Behandlung ist für heute abgeschlossen. Sie fühlt sich wohl und ist wesentlich entspannter als zu Beginn des Tages. Sie hofft, dass spätestens ihre Kinder durch die HIV-Impfung geschützt sein werden.
"Die Impfung ist unsere einzige Hoffnung. Nur sie wird verhindern, dass sich HIV und Aids weiter ausbreiten."
Klinische Studien können Hoffnung machen. Aber sie können auch Leben zerstören. Entscheidend wird es sein, mehr Transparenz in dieses undurchsichtige Geschäft zu bringen, die Umsetzung der viele Gesetze und Richtlinien auch tatsächlich vor Ort zu prüfen, die Pharmakonzerne an die kürzere Leine zu nehmen, den Sinn jedes einzelnen Tests kritisch zu hinterfragen und die maroden Gesundheitssysteme in Entwicklungsländern zu verbessern. Menschenleben sollten in aller Welt gleich viel wert sein. Noch sind sie es nicht.
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