Lesart spezial

Moderation: Claus Leggewie · 23.03.2008
Wie ist es möglich, dass Familienväter zu Massenmördern wurden? Und wie konnte Deutschland nach dem Holocaust zur Normalität zurückkehren? "Wir wissen durch die Geschichte hindurch, dass Menschen die Fähigkeit zur Gewalt haben, und zwar nicht nur pathologisch entgleist", sagte Jan Philipp Reemtsma im Gespräch über sein Buch "Vertrauen und Gewalt".
Claus Leggewie: Heute kommt die Sendung wieder aus der Essener Buchhandlung Proust in Zusammenarbeit mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und der "Westdeutschen Allgemeinen Zeitung". Ich bin Claus Leggewie, begrüße Sie herzlich hier in der Buchhandlung und an den Radiogeräten.

Ich habe illustre Gäste heute, zunächst Sozialpsychologe Harald Welzer vom Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Er ist ein, wenn nicht der führende Autor auf dem Gebiet der Gewaltforschung und Erinnerungskultur in Deutschland. Er wird ein Buch vorstellen, das einen neuen Schwerpunkt seiner Arbeit betrifft, den wir hier in Essen Klimakultur nennen. Dazu später. Herzlich willkommen, Herr Welzer.

Der andere Gast, den ich besonders herzlich willkommen heiße, ist Jan Philipp Reemtsma, der mit uns über sein gerade erschienenes Buch "Vertrauen und Gewalt" sprechen wird. Jan Philipp Reemtsma ist Gründer und Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung und Professor für neuere deutsche Literatur an der Hamburger Universität. Er ist Vorstand der Arno Schmidt Stiftung und Herausgeber der Bargfelder Ausgabe des Gesamtwerkes dieses bedeutenden Schriftstellers Arno Schmidt.

Reemtsmas - wie er das Buch im Untertitel nennt - "Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne" ist eine Art Summe von Veröffentlichungen der letzten Jahre, die häufig um die Frage der Gewalt kreisten, auf immerhin knapp 550 Seiten. Herzlich willkommen, Herr Reemtsma.

Fangen wir mit Ihrem Buch an und dem Motto über der Einleitung: "Wie ist es nun bloß möglich?" Das kennen Sie alle. Das ist nicht nur schön Hanseatisch, sondern der sprichwörtlich gewordene Schnack der Mutter in Walter Kempowskis Roman "Tadellöser & Wolff". Ein Spiegeltitel über die Täter hat die Frage kürzlich ungewollt wiederholt, wenn er fragte: "Wie ist es nur möglich, dass ganz normale Familienväter so was tun", nämlich massenhaft zu morden.

Die Frage hat sie ganz offenbar an-, wenn nicht aufgeregt, Herr Reemtsma.

Jan Philipp Reemtsma: Es ist ja interessant, wie die Frage, die in dem Kempowski-Roman so leitmotivisch aufklingt, eigentlich beantwortet wird, nämlich bloß mit dem Hinweis: "So." Und man erzählt eine Geschichte. Ich denke, dass es keine andere Antwort auf diese Frage gibt, als die Geschichte zu erzählen.

Die Geschichtsschreibung hat die Fakten beisammen. Und etwas dahinter gibt es nicht. Die Verblüffung, die immer wieder neu thematisiert wird - und ich habe in der Tat grinsen müssen, als das dann in dem "Spiegel"-Artikel die Leitfrage war, kurz nachdem dieses Buch erschienen war -, wir müssen uns fragen, warum uns diese Frage immer wieder in die Quere kommt. Denn wir können ja nur sagen: Wer soll es denn sonst machen?

Als Alexander Mitscherlich über die Verbrechen der deutschen Medizin im Dritten Reich geschrieben hat, da hat ein Ärztefunktionär gesagt: Wie können Sie einem ganzen Berufsstand in die Schuhe schieben, was die Taten einiger weniger pathologischer Individuen sind? Und Alexander Mitscherlich hat darauf geantwortet: Einige wenige pathologische Individuen hätten das nicht hingekriegt. Einige pathologische Individuen hätten das nicht hingekriegt, was an Massenmorden in der Sowjetunion passiert ist, und so weiter, und so weiter. Also, es braucht diese ganz normalen Leute.

Was verblüfft uns da eigentlich? Stellen wir uns im Ernst vor, dass jemand, der ein Mörder, ein Massenmörder, ein berufsmäßiger Folterer ist, nach Haus kommt und dann da weitermacht? Nein. Wie wir anderen unsere Rollen in unserem Leben auch voneinander separieren können, können die das auch. Was uns verblüfft, denke ich, und so irritiert, ist, dass man immer damit rechnen muss, dass jemand, der unser Vater, Onkel oder sonst was ist, vorher das andere war. Was uns eigentlich irritiert, ist der Switch in die Normalität, nicht der Switch in die Gewalt.

Wir wissen durch die Geschichte hindurch, dass Menschen diese Fähigkeit haben, und zwar nicht nur pathologisch entgleist. Wir wissen auch, dass nicht alle Menschen von dieser Fähigkeit Gebrauch machen. Es gibt in allen Gewaltexzessen auch immer wieder Leute, die sich dem entziehen können. Aber das sind sehr wenige. Genauso wie es sehr wenige sind, die von sich aus solche Situationen aufsuchen. Aber es gibt eine große Mehrheit in der Mitte, die - wenn sie es gerechtfertigt halten, wenn es einen gewissen Gruppendruck gibt - das machen. Und sie können das ganz gut und mit hoher Effektivität.

Leggewie: Also, empören muss, aber nicht verwundern, der barbarische Exzess, sondern die Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung, zum Beispiel in Deutschland nach 1945.

Reemtsma: Ich will nicht sagen empören, denn wir sollten ja doch sehr zufrieden sein, dass es diese Renormalisierung gegeben hat. Das kann uns moralisch irritieren, aber wir können ja nicht im Ernst wollen, dass es anders gewesen wäre.

Leggewie: Also Empörung über den Exzess…

Reemtsma: Und dann verwundern. Denn es hat ja viele gegeben, die in den vierziger Jahren - prominente Beispiele Thomas Mann, Theodor W. Adorno - gesagt haben, das kann nicht sein. Das wird weitergehen, das ist nicht normalisierbar. Wir müssen entweder diese Taten so ahnden, dass wir selber zu Nazi-Methoden greifen. Das können wir nicht tun.

Aber wenn wir es nicht so ahnden, dann wird das die große Bestätigung für die Täter sein und das wird den Faschismus in ganz Europa wieder mobilisieren. Das ist ein Dilemma und da kommen wir nicht raus. Da können wir nur schwarzsehen. Tatsächlich ist es ganz anders gekommen. Und das finde ich ein interessantes Problem.

Leggewie: Da kommen wir vielleicht gleich drauf. Herr Welzer, deckt sich das mit dem, was Sie über die Täter herausgefunden haben? War für Sie das andere Motiv entscheidend? Wie können die nur so handeln? Oder deckt sich das, was Herr Reemtsma sagt, mit dem, was Sie herausgefunden haben?

Harald Welzer: Im Ergebnis, glaube ich, deckt sich das sehr, obwohl Herr Reemtsma ein bisschen anderer Meinung ist. Aber ich würde dieser Form der Analyse schon zustimmen, insbesondere deswegen: Was ich untersucht habe, sind ja Egodokumente, also Vernehmungsprotokolle, Briefe und so weiter. Das Verrückte, das ist ja der Punkt, über den eben schon gesprochen worden ist, ist die Rückkehr in die Normalität, ohne von irgendeinem Zweifel an der eigenen moralischen Integrität angekränkelt zu sein.
Alle diese Personen, die bei meiner Untersuchung vorkommen, sitzen dort und haben mit sich selber kein Problem. Das ist natürlich in gewisser Weise der beängstigende Aspekt, dass dieses, was sie getan haben, spurlos an ihnen selber vorbeigegangen ist.

Auf der anderen Seite kann man natürlich sagen, wenn man die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik anguckt, umso besser. Aber das enthebt uns sozusagen nicht des Schreckens vor der Möglichkeit, dass man in einer Situation so handeln kann und in einer anderen so handeln kann und beide dieser Handlungsweisen mit dem eigenen Selbstbild in Einklang bringen kann. Insofern, denke ich, deckt sich das schon.

Reemtsma: Ich möchte ganz gerne ein bisschen die Dramatisierung rausnehmen. Ich möchte sagen, man muss einfach mal zur Kenntnis nehmen, das gehört zum menschlichen Bestand, genauso wie Gedichte schreiben und Musik machen und so. Und das können manche Leute besser und mache Leute schlechter. Manche Leute machen es emphatisch und manche Leute haben es bloß gelernt. Wir sollten uns eigentlich über unsere Conditio Humana nicht immer wieder erneut verwundern und erschrecken und es dramatisieren. Das ist gewissermaßen die Basis. Und jetzt gucken wir mal weiter.

Leggewie: Wir gucken ja jetzt, wenn ich das richtig verstehe, nicht so sehr nach der Gewaltursachenforschung. Was steckt dahinter? Welche seltsamen oder perversen oder welche nicht zu uns gehörigen, sondern zu etwas ganz anderem, einer anderen Kultur, der Vergangenheit zugehörigen Phänomene verursachen oder bedingen Kultur?

Sondern wir schauen eigentlich auf den Reflex, wie diese Ordnung nach 1945 in Deutschland - in anderen Ländern zu einem anderen Zeitpunkt - wieder hergestellt wird, unter Einschluss der eben noch mordenden Familienväter, über die wir gesprochen haben, aber dann doch unter Wiederherstellung des Vertrauens - das ist ja der andere Akzent Ihres Buches - in das Funktionieren eben dieser bürgerlichen Ordnung, die, wie Adorno, Thomas Mann und andere feststellen, fundamental außer Kraft gesetzt war, die dann doch wieder sozusagen einrastet und weitergeht. Ist das der Gegenpol? Wie stellt sich so etwas wie Vertrauen oder Gewaltaversion wieder her?

Reemtsma: Wieso sind wir darüber nicht zu Zynikern geworden? Warum haben wir nicht gesagt, dieses Projekt der Moderne, ich komme gleich darauf, worum es sich dabei handelt, hat sich so gründlich blamiert, dass es einfach lächerlich ist, daran weiter festhalten zu wollen?

Stichwort Vertrauen: Es ist eine Grundfrage der Soziologie. Was hält eigentlich Gesellschaften zusammen? Früher hat man auf die harten Medien gesetzt: Macht, Herrschaft, Interessen. Seit zehn, 15 Jahren guckt man auf die weichen Medien. Und da steht im Zentrum Vertrauen. Darüber schreiben ganz viele, aber auf ganz unterschiedliche Weise. Es gibt überhaupt keinen theoretischen Konsens, worum es sich dabei eigentlich handelt - nur alle halten es für wichtig.

Meine Antwort darauf ist relativ abgedimmt: Es ist die Erwartung, dass es irgendwie so weitergeht, wie bisher. Dabei muss man nicht zufrieden sein, sondern man muss nur wissen, was man machen muss. Einen vollkommenen Vertrauensabbruch gibt es in der Geschichte ganz, ganz selten. In der Regel gibt es nur Umorientierung von Vertrauen und die Leute gewöhnen sich daran, dass sie in der Zukunft was anderes machen werden.

Meine Behauptung nun in dem Buch ist, dass das Vertrauen in der und in die Moderne – was ist die Moderne? Ich sage, die europäischen Gesellschaften, die aus den Krisen des 16. und 17. Jahrhunderts hervorgegangen sind, ganz grob - besteht darin, dass ein Selbstbild entwickelt worden ist, dass man auf dem Weg zu einer gewaltarmen Zukunft sei. Dazu gehören auch institutionelle Mechanismen wie ein langsames Herausbilden eines staatlichen Gewaltmonopols. Wir laufen alle nicht mehr mit dem Degen an der Seite herum. Wir gehen davon aus, dass wir in der Regel nicht überfallen werden, es sei denn, man geht vielleicht in den Central Park. Das sollte man nicht tun.

Leggewie: Kann man auch wieder.

Reemtsma: Inzwischen geht es wieder. Re-Etablierung des Vertrauens.
Dieses Selbstbild der Moderne hat immer koexistiert mit einer Seite der Moderne, die extrem gewalttätig war, zum Beispiel in den Kolonien, die dann schwerste Erschütterungen im Ersten Weltkrieg erlebt hat, die dann die Gewaltexzesse des zwanzigsten Jahrhunderts erlebt hat. Es ist uns trotzdem irgendwie gelungen, nach 1945 das Programm wieder hochzufahren. Ich finde es eine interessante Frage, wie das eigentlich gelungen ist.

Aber bevor ich - das ist der Schluss des Buches - dahin komme, muss ich natürlich auf etlichen Seiten begründen, dass es sich nun tatsächlich mit der Moderne und ihrem Selbstbild so verhält und kontrastieren mit anderen Gesellschaften, die ein ganz anderes Verhältnis zur Gewalt hatten. Denken Sie bitte daran, dass eines der berühmtesten Bauwerke der Welt gebaut worden ist, um Tausende Menschen öffentlich hinzuschlachten, ohne dass das zu der Zeit irgendwer für einen moralischen Skandal gehalten hat. Ich spreche vom Kolosseum. Das ist ein Bauwerk, was das demonstriert.

Cicero, der seine Rede gegen Catilina hält, sagt: Was ist hier eigentlich los? Wir hatten einen, der war viel weniger schlimm. Das war Tiberius Gracchus. Der ist vom Oberpriester auf offener Straße erschlagen worden. Warum macht das eigentlich keiner?

Jetzt stellen Sie sich mal vor, hier würde es einen Redner geben, der sagt: Wie kann es sein, dass ein Gewerkschaftsführer nicht vom Papst auf offener Straße erstochen wird, und das für ein ganz normales politisches Argument hält.

Sie sehen, wie der Umgang ganz anders ist. Die Todesstrafe war durch die Jahrhunderte nicht nur legitim, sondern das Normalste von der Welt. Die Obrigkeit darf einen Menschen zum Tode bringen und darf ihn auch öffentlich ausweiden. Aber irgendwann fingen die Leute an, das ekelhaft zu finden, die Galgen abzumontieren. Und selbst Vertreter der Todesstrafe sagen, ja leider ist es noch heute. Dieses Leider ist ein ganz spezifisch modernes Argument. Da können Sie sehr, sehr viele Indizien zusammentragen und sagen, hier ist tatsächlich eine neue Kulturformation, der es gleichzeitig aber im 20. Jahrhundert gelungen ist, diese Exzesse der Gewalt hervorzubringen.

Leggewie: Warum ist das so, Herr Welzer? Warum ist die Moderne, die ja im Wesentlichen jetzt erst mal als europäische dargestellt worden ist, warum ist die dazu fähig geworden?

Welzer: Dazu fähig geworden, mehr gewaltabstinent zu sein beziehungsweise sich selber so wahrzunehmen? Na ja, wenn man Reemtsmas Argumentation in dem Buch folgen würde, dann zunächst mal, weil es ihr gelungen ist, Gewalt zu monopolisieren, als ganz zentrales Element. Gewalt kann nicht ausüben und darf nicht ausüben, wer gerade daran ein Interesse hat, sondern das wird einer Institution und einem geregelten System überantwortet, was Freiräume auf der gesellschaftlichen Ebene schafft und Vertrauen schafft selbstverständlich, eben in die Institution.

Die Frage, die sich daran natürlich anknüpft, ist: Was ist an diesem Vertrauen wirklich begründet und was passiert, wenn dieses Vertrauen zusammenbricht dadurch, dass Institutionen nicht funktionieren oder dass Gewaltkonflikte entstehen oder eben das entsteht, was man dann - in diesem Kontext unzutreffend - als Zivilisationsbruch bezeichnet? Weil, es ist ja Teil des zivilisatorischen Prozesses, das solche Dinge passieren können.

Das finde ich auch eine faszinierende Konstellation, das Paar Vertrauen und Gewalt hier zu diskutieren und miteinander in Berührung und Reibung zu bringen. Weil, das ist eigentlich das, was in der Gewaltforschung normalerweise nicht das Thema ist, sondern man guckt auf die Gewalt und nicht auf das Gegenteil. Genauso wie man, wenn man auf Unordnung guckt, seltener auf Ordnung guckt, sondern eher das Chaos ins Auge nimmt, obwohl man analytisch besser fährt, wenn man sozusagen immer vom Gegenteil her denkt.

Leggewie: Hat es auch damit zu tun, Herr Reemtsma, dass die Moderne etwas hervorbringt, was wir Macht nennen und was nicht mit Gewalt identisch ist?

Reemtsma: Ja, es ist ja ein Klassiker auch der Soziologie, dass man sagt, Macht ist letztlich auf Gewalt fundiert. Wenn man die Zwiebel häutet, irgendwann kommt man auf den Gewaltkern. Da empfehle ich immer das Gedankenspiel: Wie lange kann ein Gewaltherrscher, wenn er über die Gewaltmittel verfügt, seine Herrschaft halten? 48, vielleicht 36 Stunden, dann muss er nämlich schlafen. Das heißt, er braucht jemanden, dem er vertrauen kann, einen loyalen Menschen, der sich vielleicht was davon verspricht, aber der seinen Schlaf bewacht.

Übrigens eine interessante Lektion, es gibt ja ein paar literarische Exkurse in diesem Buch, die Shakespeare seinem Renaissancepublikum auftischt in Richard III. Er zeigt, wie man mit nackter Gewalt an die Macht kommen kann. Er bringt die Leute um, die der Thronfolge im Wege stehen. Und dann gibt es den Punkt, wo er loyal dem gegenüber sein müsste, der loyal ihm gegenüber war. Er muss zahlen, eine Grafschaft geben oder irgendetwas. Und er will nicht, weil, er ist in dem Drive dieser Machterringung und er verweigert ihm das. Und in dem Augenblick weiß dieser Komplize, ich muss hier weg, jetzt wird es gefährlich. Und dann muss sich der König selber um einen Mörder kümmern, weil er noch zwei Kinder umzubringen hat. Also, er muss sich erniedrigen.

Macht kann man durch Gewalt erringen, aber man kann sie nicht durch Gewalt halten, sondern dann muss man Netzwerke knüpfen. Das ist die Lektion. Da ist Shakespeares Richard III. richtig ein Lehrstück für den Renaissancehof, der sich das anguckt.

Leggewie: Sie haben uns jetzt auch geschildert, wie Sie in dem Buch arbeiten, nämlich auf Basis zum Beispiel von Quellen wie Shakespeare oder Cicero.

Reemtsma: Shakespeare ist der bedeutendste Theoretiker der Macht.

Leggewie: Wir haben hier einen Gewaltforscher, der solche Quellen nicht heranzieht, sondern im Grunde genommen Erkenntnisse der empirischen Sozialforschung heranzieht. Das sind ja zwei unterschiedliche Ansätze. Jetzt will ich sie natürlich nicht gegeneinander hetzen, weit gefehlt. Wir haben aber in unseren im engeren Sinne sozialwissenschaftlichen Abhandlungen oft eine gewisse Scheu, diese Quellen heranzuziehen. Kann man das machen in der exzessiven Weise - exzessiv nehme ich zurück -, in der doch beachtlich umfangreichen Weise, wie Jan Philipp Reemtsma das macht?

Welzer: Ja, machen kann man das ganz offensichtlich, weil das ja so dasteht. Und an vielen Stellen leuchtet es auch ein, wobei es mir natürlich als Sozialwissenschaftler so gegangen ist, dass mir teilweise sozusagen etwas zu sehr unterstellt wurde, wie viel ich weiß in Bezug auf die literarischen Quellen und Exzerpte. Ich dachte da manchmal, na ja, okay, musst du jetzt mal ein bisschen nacharbeiten oder sonst was. Also, es gibt sozusagen sehr viel und es wird manchmal für so schlichte Gemüter wie mich in der Hinsicht etwas viel vorausgesetzt.

Der Punkt ist aber, glaube ich, methodisch eigentlich der spannende. Was hier nämlich passiert, deshalb wird es dann auch für den nichtphilologisch Begabten an der Stelle wirklich interessant, weil hier ja ganz unterschiedliche Textformen und Materialien herangezogen werden, um denselben Gegenstand zu beleuchten, gewissermaßen aus unterschiedlichen Perspektiven oder mit unterschiedlichen Rhetoriken, unterschiedlichen Methoden. Und dann fängt es nach einer Zeit auch an einzuleuchten.

Mir ist es so gegangen, dass ich dann auch eben genau diese literarischen Passagen spannend fand, unter anderem auch deswegen, weil ich sie in der Weise entweder noch nie gelesen hatte, weil ich sei nicht kannte oder so eben nicht interpretiert hatte. Insofern macht das dann schon Sinn, ist aber, glaube ich, was die Rezeption in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit angeht, wahrscheinlich der Punkt: Weil, das ist sozusagen nicht eine klassische Methode, die hier gemacht wird, sondern es mäandert. Es sucht den Gegenstand immer aus unterschiedlichen Orten auf.

Es hat natürlich dann, wenn ich jetzt als Sozialforscher argumentieren würde, ein Verifikationsproblem. Die Argumentation ist dann eher eine, die ästhetisch argumentiert. Das muss man akzeptieren und mögen oder das eben nicht tun.

Reemtsma: Deshalb hätte ich das auch nicht Quellen genannt. Ich gucke ja nicht auf die literarischen Texte und sage, da steht es drin, also war es so. Sondern ich lese Literatur als verdichtete Erfahrung, als Erfahrungs-Container. Literatur lese ich darum, weil ich nicht alles erleben kann. Aber ich habe Jahrhunderte von Literatur, wo Erfahrungen von Generationen und Generationen und Generationen verdichtet wurde. Die suche ich dort auf.

Ich suche sie dann auf, und in einem Buch wie diesem gehe ich dann darauf ein, wenn ich genügend Ausleger von diesem Buch in die anderen Quellen habe, in die wirklichen Quellen habe, dass ich sage, das ist jetzt nicht ein privater Spleen, den der da pflegt, sondern da beschreibt er auf engem Raum etwas, was wir auch in der unübersehbaren Menge an historischen Primärquellen finden.

Das ist meine Legitimierung, indem ich sage: Wenn ich jemanden habe, wie Shakespeare, wenn ich jemanden habe, wie Thomas Mann, der sieht, was geht im Bürgertum noch. Kann ich meinen Bruder verhaften lassen, weil ich ihn für verrückt halte? Oder darf ich das nicht? Und was bedeutet das für Vertrauenskonstellationen in der Moderne? Was bedeutet das für Verrechtlichung von Familienbeziehungen? - Dann sage ich: Er hat es auf den Punkt gebracht. Das kann ich auch alles mit Niklas Luhmann machen. Und ich mache es dann parallel mit beiden.

Welzer: Ich würde es bei Luhmann ja auch nicht verstehen. Von daher gibt es da kein Problem.

Leggewie: "Vertrauen und Gewalt", das neue Buch von Jan Philipp Reemtsma, erschienen in der Hamburger Edition, eine absolut empfehlenswerte Lektüre. Man langweilt sich nie, auch auf 550 Seiten. Es ist, wie gesagt, ein Ausflug durch die soziologische Theorie genauso, wie durch die Literatur.

Wir kommen noch auf ein anderes Buch, das uns jetzt Harald Welzer vorstellen wird. Es ist von Fred Pearce geschrieben, "Das Wetter von morgen. Wenn das Klima zur Bedrohung wird". Herr Welzer, sagen Sie unseren Zuhörern, worum es in dem Buch geht und wie Sie es finden?

Welzer: Also, zunächst mal geht es in dem Buch nicht wirklich um das Wetter von morgen, obwohl das ein sehr hübscher Titel ist. Der Originaltitel lautet sehr viel dramatischer: "The last Generation". Es ist eigentlich damit auch angedeutet, dass es ein relativ deprimierendes Buch ist, weil, Pearce untersucht hier die in relativ kurzer Zeit deutlich werdenden Auswirkungen des Klimawandels und die dem zugrunde liegenden langen Veränderungsprozesse durch menschliche Einflüsse.

Das Interessante bei dem Buch finde ich: Zunächst einmal, es ist gut geschrieben, weil, Pearce ist kein Wissenschaftler, sondern Wissenschaftsjournalist. Was er tut, ist aus meiner Sicht sehr interessant. Er sucht die führenden Leute auf, die sich mit den Veränderungen im arktischen Eis beschäftigen, die sich mit den Gletscherrückgängen beschäftigen, die sich mit Klimamodellen beschäftigen, und so weiter, und so weiter, interviewt die, baut das in gute Geschichten ein, also sehr gut lesbar. Aber es entsteht was ganz Seltsames dabei, das finde ich auch sehr faszinierend. Im Grunde genommen ist er damit sehr schnell. Das ist nämlich eine Sache, die beim Wissenschaftsjournalismus chronisch unterschätzt wird.

Bevor wir wissenschaftliche Ergebnisse kommunikationsfähig machen, vergehen immer Jahre. Das muss alles immer untersucht sein, abgesichert sein und so weiter. Und Pearce verkürzt im Grunde genommen den Weg, natürlich um den Preis der Genauigkeit und des jeweiligen Beweises, stellt aber vor, was die Leute, die er interviewt, glauben, was passieren wird. Und das, was sie selber glauben, was passieren wird, steht ja nicht in den Papers, die sie veröffentlichen, weil das muss alles abgesichert sein, ausgehandelt, akzeptiert von den Journals und so weiter. Aber, was sie selber glauben, ist natürlich viel drastischer.

Also schafft er eine Konstruktion aus diesen Interviews mit einer hoch belesenen, hoch informierten Darstellung der Problemlage. Es ist nicht das erste Buch, was der Pearce zu diesem Thema schreibt. Und was besonders interessant ist, was mich auch berührt hat bei der Lektüre, ist, dass er eingangs sagt, er beschäftige sich seit mittlerweile zwei Jahrzehnten mit dem Thema, hat dazu auch viel publiziert und er sei lange Zeit damit so umgegangen, dass er gedacht hat, ist ja alles furchtbar, aber so schlimm wird es ja nicht sein. Das ist die Art und Weise, wie wir alle mit dem Thema umgehen - ist ja furchtbar, aber so schlimm wird es ja nicht sein. Vertrauen, wir haben ja Vertrauen: Geht schon irgendwie gut das Ganze.

Und in diesem Buch schreibt er, das ist für ihn eigentlich vorbei. Dieses Vertrauen, den Begriff benutzt er nicht, aber sozusagen der Optimismus, dass sich das Ding noch biegen ließe, hat er eigentlich verloren. Das macht dieses Buch zu einer eindrücklichen Lektüre, weil das da nicht nur auf der Ebene der Behauptung und eines depressiven Befundes so stehen bleibt, sondern er führt es einfach vor.

Insofern halte ich dieses Buch für ungeheuer zeitgemäß. Ich habe da draus viel gelernt. Insofern ist das eine sehr empfehlenswerte Lektüre.

Leggewie: Herr Reemtsma, Sie haben es auch gelesen. In Ihrem Buch zeichnen Sie sich ja durch großen Realismus gegenüber der Frage der Gewalt aus, was nicht mit Unempfindlichkeit verwechselt werden darf. Wie haben Sie das Buch gelesen, das ja vielleicht dann dem einen oder anderen etwas apokalyptisch vorkommt?

Reemtsma: Zweifellos. Mir geht es also auch so, dass ich immer gerne bei solchen Büchern und Texten etwas dagegen aufbieten möchte. Deshalb lese ich - wie heißt er? - diesen Lomborg sehr gerne, der sagt, das mag zwar sein mit der Erwärmung, aber damit kommen wir klar, das wird eher besser. Dann erinnere ich mich daran, dass ich mal etwas über das Wetter im dreißigjährigen Krieg gelesen habe, wo es also im Juni schneite und Hitzeperioden im Januar. Ich dachte, diese armen Leute, die hatten diesen Krieg am Hals und auch noch Pest und Hungersnöte und dann auch noch dieses Wetter!

Aber das steht ja auch da drin. Er sagt, es gibt eben Phasen der Stabilität und Phasen der Instabilität. Das fand ich das Interessante, dass er sich nicht auf eine Option festlegt und sagt, das wird passieren. Sondern er sagt, es wird zu Unberechenbarkeiten kommen, weil es eine Interaktion ganz unterschiedlicher Phänomene gibt, die uns - weiß der Teufel - was bescheren. Aber das ist genau das Problem. Deshalb sind unsere Chancen - das ist ja das Stichwort des Vertrauens, zu wissen, was man dann macht -, behauptet er, dann doch sehr gering, weil wir überhaupt nicht wissen können, was uns wann um die Ohren fliegt. Das war sehr eindrücklich und ich habe es nicht gern gelesen.

Leggewie: Am Schluss der Sendung haben wir immer noch zwei persönliche Buchtipps der beiden Gäste, die wir haben. Herr Reemtsma, welches Buch haben Sie sich ausgesucht und warum?

Reemtsma: Das Buch "Havemann" von Florian Havemann, der Laienverfassungsrichter in Brandenburg ist, Künstler und Sohn des Dissidenten Robert Havemann. Dieses Buch ist in den Feuilletons als bloßes Klatschbuch gehandelt worden. Und ich habe da rein geguckt und festgestellt, dass es zwar diese Klatschseite hat, aber ein wirklich sehr intelligentes und sehr kluges Buch ist, mit langen moraltheoretischen Reflexionen, die es sich lohnt sehr genau zu lesen. Also, lesen Sie es und verlassen Sie sich bloß nicht auf die Rezense.

Leggewie: Das können Sie dann im Wesentlichen demnächst im Internet tun, weil das Buch ja zunächst einmal…

Reemtsma: Ja, es erscheint jetzt auch noch mal bei Suhrkamp mit geschwärzten Stellen, weil es einen Prozess gegen das Buch gibt.

Leggewie: Herr Welzer, Sie haben auch noch ein Buch, ich glaube, ein älteres.

Welzer: Ich würde ein älteres Buch bei der Gelegenheit empfehlen, was aber anschließt an die Diskussion, die wir eben geführt haben, nämlich von dem im letzten Jahr verstorbenen Holocaust-Forscher Raul Hilberg, das Buch "Täter, Opfer, Zuschauer", was für mich ein absoluter Klassiker in diesem Forschungsfeld ist, was bei der Kritik seinerzeit, als es erschienen ist, weitgehend durchgefallen ist, zumindest bei der amerikanischen Radikalen.

In Deutschland war man sich nicht ganz klar. Das liegt daran, dass er versucht, ein Kunstwerk herzustellen, eine Interaktion eben von verschiedenen Personen, die sich in Gewaltprozessen an unterschiedlicher Stelle wieder finden. Das ist ein unglaublich eindrucksvolles Buch.

Leggewie: Was immer noch in Ihren Augen sehr aktuell ist. Ist es eigentlich noch erhältlich? Gibt es das noch?

Welzer: Das ist erhältlich, ja, Taschenbuch.

Leggewie: Gut. Wir haben heute in Lesart Spezial gesprochen über Vertrauen und Gewalt und wir haben auch über einen Faktor, den man unter dem Stichwort Klima rubrizieren kann, gesprochen, der möglicherweise bestimmte Vertrauensannahmen zumindest erschüttert, wenn nicht außer Kraft setzt.

Das war Lesart Spezial aus der Essener Buchhandlung Proust. Die Rezension der Bücher finden Sie, wie gewohnt, im Internet unter www.dradio.de und natürlich beim Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Ich bin Claus Leggewie und danke für Ihr Interesse.