Lesart Spezial: Souveränität? Was Staaten können, was Staaten dürfen

Gerd Hankel und Alexandra Kemmerer im Gespräch mit Claus Leggewie · 03.07.2011
Ein Haftbefehl gegen einen amtierenden Staatschef, Luftangriffe auf fremdes Territorium, ist das erlaubt? Gibt es eine Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, ein von einem Tyrannen geschundenes Volk zu schützen?
Claus Leggewie: Guten Tag zu einer neuen Ausgabe von Lesart Spezial von Deutschlandradio Kultur mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen aus dem Café Central im Schauspiel Essen, gemeinsam mit der Buchhandlung Proust.

Vor wenigen Tagen hat der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag einen Haftbefehl gegen Muammar al-Gaddafi ausgestellt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Libyens Staatschef wird beschuldigt, illegale Angriffe gegen Zivilpersonen angeordnet, geplant und durchgeführt zu haben. Schon seit Wochen liegen Rückzugspunkte des Diktators und ihre Umgebung unter Feuer von Luftangriffen durch Nato-Streitkräfte, bei denen auch Zivilisten zu Schaden kamen.

Ein Haftbefehl gegen einen amtierenden Staatschef, Luftangriffe auf fremdes Territorium, ist das erlaubt? Gibt es eine Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, ein von einem modernen Tyrannen geschundenes Volk zu schützen, eine responsibility to protect? Was sagt ein solcher Vorgang über Libyens Souveränität, über Jahrhunderte ein geheiligtes Recht von Nationalstaaten, das sie vor jeder Einmischung von außen zu schützen gesucht haben? Was sagt derselbe Vorgang über die Kapazitäten anderer Staaten, in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzugreifen? Worin besteht die Legitimation, worin die unerwünschten Nebeneffekte einer solchen Intervention? Und warum – das kann man in Afghanistan und im Irak besichtigen – findet eine solche Intervention gegen Gaddafi statt, aber nicht gegen Syriens Diktator Assad? Darf man ihm gegenüber Kompromisse eingehen wie die westlichen Mächte seinerzeit gegenüber Hitler beim Münchner Abkommen 1938? Und wann werden solche Kompromisse faul?

Ich weiß nicht, ob wir diese Fragen heute alle beantwortet bekommen, aber ich begrüße zwei Gesprächspartner, die unseren Zuhörerinnen und Zuhörern sicherlich die vertrackte Problematik der Souveränität und der Schutzverantwortung näher bringen können:

den Autor eines eben erschienenen Buches mit dem Titel "Das Tötungsverbot im Krieg", Gerd Hankel. Er ist promovierter Völkerrechtler und seit 1993 am Hamburger Institut für Sozialforschung tätig, wo er unter anderem zur juristischen Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda und zu anderen Aspekten des Völkerstrafrechts gearbeitet hat;

und Alexandra Kemmerer. Sie ist Rechtsanwältin und arbeitet am Wissenschaftskolleg zu Berlin, wo sie den Forschungsverbund "Recht im Kontext" leitet. Vielen ist sie bekannt als Rezensentin juristischer Literatur in überregionalen Medien, darunter des ebenfalls 2011 erschienenen Buches von Avishai Margalit "Über Kompromisse und faule Kompromisse", das heute als zweites Buch im Mittelpunkt unserer Sendung steht.

Muammar Gaddafi wird vorgeworfen, Morde an Zivilisten angeordnet zu haben, auch Folter, Verfolgung unschuldiger Menschen, die Organisation von Massenvergewaltigungen zur Einschüchterung der Bevölkerung. Darf man, muss man da intervenieren? Bundesaußenminister Westerwelle bejaht das. Er sagt, es sei ein unmissverständliches Signal, dass Diktatoren und ihre Helfer nicht außerhalb des Rechts stehen, sondern sich für ihre Taten verantworten müssen.

Gerd Hankel: Ja, da muss ich ausnahmsweise Herrn Westerwelle recht geben. Natürlich gibt es Straftaten wie hier in diesem Falle, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die ein solches Gewicht haben, dass diejenigen Personen aus dem Staatsapparat, die für diese Befehle verantwortlich sind, die diese Verbrechen befehlen, zur Verantwortung gezogen werden. – Sicherlich, da hat Herr Westerwelle recht.

Claus Leggewie: Welche Mittel können wir dafür einsetzen? Herr Westerwelle war nicht dafür, dass sich die Bundesrepublik Deutschland an einem militärischen Einsatz beteiligt.

Gerd Hankel: Da kann man in der Tat, was Libyen anbelangt, geteilter Meinung sein. Ist das, was dort geschehen ist, bevor die Nato eingriff, von einer Verbrechensdimension gewesen, dass man sagen musste, wir müssen sofort eingreifen, um Schlimmeres zu verhindern? Es gibt gute Gründe, die dagegen sprechen. Es gibt auch gute Gründe, die dafür sprechen. Wenn man Gaddafi kennt, wenn man weiß, wofür er in der Vergangenheit verantwortlich gewesen ist, dann kann man da auf Einiges gefasst sein. Insofern kann man das auch begründen.

Allerdings ist es so, und das ist schon seit einigen Jahren so, dass die Souveränität eines Staates nicht mehr ein absoluter und undurchdringlicher Schutzschirm ist. Das heißt also, wenn unter Missbrauch der Souveränität ein Herrscher sein eigenes Volk misshandelt, tötet oder töten lässt, dann ist die internationale Gemeinschaft befugt, nach dem Konzept der responsibility to protect einzugreifen. – Das nach einem Mechanismus, das kann man nicht sofort machen, gewissermaßen aus einer Laune heraus, sondern dazu bedarf es eines konzertierten Vorgehens. Aber wenn ein bestimmter worst case, also ein schlimmster Fall wie jetzt, festgestellt worden ist, dann kann die UNO, der UN-Sicherheitsrat per Resolution entsprechende Maßnahmen beschließen.

Claus Leggewie: Frau Kemmerer, diese responsibility to protect, die Schutzverantwortung, wie hat sich das entwickelt? Das ist ja etwas Neues. Wie ist es zu dieser Figur im Völkerrecht gekommen?

Alexandra Kemmerer: Diese Figur hat sich zunächst aus der Völkerrechtswissenschaft heraus entwickelt, wurde dann 2005 bei der UNO-Generalversammlung erstmals bekräftigt und seither in vielen Resolutionen der Generalversammlung und auch des Sicherheitsrats affirmiert. Insofern ist es ein neues Konzept. Allerdings kann man auch argumentieren, wie das die australische Völkerrechtlerin Anne Orford gerade in einem neuen Buch getan hat, dass mit diesem Prinzip der responsibility to protect eigentlich nur eine Form von internationaler Autoritätsbildung der Staatengemeinschaft normativ gefestigt und bekräftigt wird, die sich eigentlich seit den 50er Jahren im Umfeld der Vereinten Nationen herausgebildet hat.

Claus Leggewie: Also, irgendwie war es logisch, dass es zu diesem Punkt mal gekommen ist. Herr Hankel, Ihr Buch heißt ja "Das Tötungsverbot im Krieg". Es würde viele Leute geben, die sagen, warum wird nicht der Krieg verboten? Warum wird im Krieg ein Tötungsverbot ausgesprochen?

Gerd Hankel: Es gibt ein Kriegsverbot in der UN-Charta. Man darf nur noch zum Krieg schreiten als Staat zur Selbstverteidigung bzw. innerhalb des UN-Verbandes, wenn der Sicherheitsrat nach Kapitel 7 eine entsprechende Maßnahme beschließt.

Und ansonsten: Ja, der Krieg existiert. Und in einem Krieg ist, das mag auf den ersten Blick etwas befremdlich erscheinen, nicht alles erlaubt. Das heißt, auch der organisierten Barbarei sind Grenzen gezogen, deshalb auch organisiert. Also, es gibt Grenzen, die individuelles staatliches Handeln im Krieg bestimmen und deutlich machen, was ist erlaubt und was ist nicht erlaubt.

Claus Leggewie: In Ihrem Buch sagen Sie in insgesamt sechs Kapiteln, dass das humanitäre Völkerrecht revisionsbedürftig ist. Sie machen Vorschläge in diese Richtung. Und der Hintergrund, damit wir es jetzt vielleicht etwas konkretisieren, sind Vorgänge, die uns allen noch bekannt sind, zum Beispiel im Afghanistan-Krieg.

Gerd Hankel: Ja. Hintergrund meiner Überlegungen ist der sogenannte "humanitäre" Krieg. Das heißt also, eine Intervention, die durchgeführt wird, um den Adressaten etwas Gutes zu bringen – mehr Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit. Und mit den Mitteln des Kriegsrechts, wie sie heute existieren, bewirken wir das Gegenteil. Statt also den Irak zu befrieden, hat sich die Situation dort – das kann man mit guten Gründen sagen – verschlimmert. Statt in Afghanistan die Situation zu befrieden, hat sich die Situation dort auch verschlimmert, weil nach meinem Dafürhalten das geltende Recht, das dem Handeln der Soldaten vor Ort einen Rahmen gibt, zu viel Gewalt erlaubt, vor allen Dingen zu viel Gewalt gegen Zivilisten, gegen Unbeteiligte. Und das wirkt, das können Sie sich leicht vorstellen, kontraproduktiv.

Claus Leggewie: Frau Kemmerer, Sie haben das Buch gelesen und auch die Vorschläge, die Herr Hankel macht bezüglich der Reformen dieses humanitären Völkerrechts. Wie finden Sie das Buch?

Alexandra Kemmerer: Das ist ein ganz großartiges, aufregendes und anregendes kleines Buch, denn es ist eine Antwort und regt an zum Weiterdenken über die Herausforderung, die dadurch entsteht, dass die responsibility to protect als humanitär motivierte Schutzverantwortung auch die moralischen Standards verändert, an denen sich militärische Gewaltanwendung messen lassen muss.

Denn eine transformative, regimeändernde Besatzung oder Intervention im Interesse des Schutzes der Menschenrechte bringt mit sich auch etwas, das man als eine responsibility to peace bezeichnen kann und führt unter anderem dazu, wie Gerd Hankel das argumentiert in diesem Buch, dass die Diskussion um Legalität und Legitimität humanitärer Intervention sich auch spiegelt in den Maßnahmen, die erlaubt sind bei der Durchführung einer solchen Intervention, eben zum Beispiel, dass Proportionalitätserwägungen, wie eben zum Beispiel, wie viele Opfer in der Zivilbevölkerung darf ich in Kauf nehmen, wenn es zu einem solchen Angriff kommt, unter Umständen von vornherein ausgeschlossen sind.

Claus Leggewie: Das hatten wir ja schon erwähnt. Da wird ja der Versuch gemacht, Gaddafi zu treffen. Das ist nicht unbedingt erlaubt, wenn ich das richtig verstehe. Und bei diesem Versuch, der gewissermaßen auf die Zustimmung der meisten in der Weltgemeinschaft trifft, kommen Zivilisten zu Schaden. Sie sprechen gerade von Proportionalität, also von Verhältnismäßigkeit. Ja, kann ich das jetzt messen? Drei Zivilisten geht, 300 ist schlimm? Ich mache es mal ein bisschen drastisch in Bezug auf diese Zahlen. Was sagt die Proportionalität und wo liegen Ihre Bedenken gegen das geltende Recht? Und wo, sagen Sie, muss es sich weiterentwickeln?

Gerd Hankel: Es gibt keinen klaren Indikator für das, was nun verhältnismäßig oder was nicht verhältnismäßig ist. Die aktuell geltende Regel sagt: Der zivile Schaden, also die Zahl der getöteten unbeteiligten Zivilisten, darf nicht außer Verhältnis zum militärischen Vorteil sein. Jetzt kann man noch hinzufügen: zum insgesamt erwartbaren militärischen Vorteil, das heißt, auf dem gesamten Kriegsschauplatz.

Was nun jetzt diese Abwägung genau bedeutet, was das heißt "außer Verhältnis", dazu gibt es keine klaren Antworten. Und man kann sagen, dass nach dem jetzt geltenden Kriegsrecht das, was in Afghanistan passiert ist mit dem Oberst Klein, 50 Zivilisten oder 100 unbeteiligte Zivilisten, um einige Talibanführer – er hat gesagt – "zu vernichten", das ist nach aktuellem Kriegsrecht erlaubt. Dass das natürlich nicht beiträgt, die Situation in Afghanistan auf eine Spur zu lenken, auf der wir sie gerne hätten, ich denke, das liegt auf der Hand.

Und deshalb ist mein Dafürhalten: Wenn man humanitäre Kriege führt, um einem Volk zu Hilfe zu kommen, das von seiner eigenen Staatsführung vergewaltigt wird, dann muss man diesen Krieg entsprechend führen und das Humanitätsgebot, das es im Völkerrecht gibt, sehr hoch veranschlagen und die militärische Notwendigkeit geringer. – Dann dauert das eben länger und man kann nicht immer sofort zugreifen.

Claus Leggewie: Frau Kemmerer, von dieser Reformrichtung, die gerade angegeben worden ist, sind Sie überzeugt? Halten Sie das für praktikabel, was Herr Hankel vorschlägt? Wir sollten es vielleicht mal ein bisschen illustrieren, welche Vorschläge er macht.

Alexandra Kemmerer: Es wird praktikabel sein müssen, denn ich denke nicht, dass diese Form von Moralisierung des internationalen Rechts umzukehren ist. Wir befinden uns in einem globalen Wahrnehmungsraum, in dem – wie es bei Kant heißt – "die Verletzung des Rechts an irgendeinem Ort der Welt von allen gefühlt wird". Das zieht einen Handlungsdruck auf die internationale Staatengemeinschaft nach sich und insofern auch einen Druck, eben Maßnahmen zu ergreifen.

Claus Leggewie: Habe ich richtig verstanden? Man muss die Moralisierung durch die Weiterentwicklung des Rechts eindämmen?

Alexandra Kemmerer: Die Moralisierung des Rechts muss man durch rechtliche Reformen eindämmen – ganz sicherlich. Und das sind auch Reformen, die sich nicht nur auf den Moment der Intervention selber erstrecken, sondern auch auf den Zeitpunkt, der dann einsetzt, auch auf eine Besatzungssituation. Das ist etwas, was man umschreibt mit dem Schlagwort responsibility to peace oder responsibility to build, also, den Frieden herzustellen, den Wiederaufbau, den Frieden auch dauerhaft zu schaffen. Und das ist ja eine Herausforderung, der sich beispielsweise eben auch die amerikanische Regierung zu stellen hat, wenn sie jetzt den Abzug aus Afghanistan plant. Da ist ja die Frage sehr offen, ob es realistisch ist, sich da 2012 ganz zurückzuziehen und sich darauf zu beschränken, eigentlich nur noch Fortbildungen für Polizeikräfte zu veranstalten.

Also, das Maß der Verantwortung, das die Staatengemeinschaft und die Akteure, die sich von der Staatengemeinschaft autorisiert sehen zu Interventionen und zur Etablierung von Besatzungsregimen, dann zu tragen haben, erhöht sich natürlich auch durch die Moralisierung, die ich angesprochen habe.

Claus Leggewie: Herr Hankel, sind das nicht Glasperlenspiele, die wir hier machen? Ich stelle mir die Situation des Oberst Klein vor oder eines ganz normalen Soldaten in Afghanistan. Im Grunde genommen fallen diese Abwägungsfragen, über die wir reden, immer irgendwie auf ihn oder sie zurück.

Gerd Hankel: Während des Kalten Krieges hat man Völkerstrafrecht, also zu der Idee, dass überhaupt jemand aus einer Staatsführung bestraft werden kann, immer gesagt: Das ist doch ein Glasperlenspiel. Jetzt haben wir einen Haftbefehl gegen Gaddafi. Wir haben Strafverfahren gehabt gegen Milosevic und jugoslawische Kriegstreiber. Wir haben das Tribunal zu Ruanda. Das heißt, es hat sich nicht als ein Glasperlenspiel erwiesen, sondern als etwas sehr Konkretes und sehr Wichtiges.

Auch das humanitäre Völkerrecht, über das wir hier sprechen, und die Regeln, die ich nun formuliert habe und die ich als Diskussionsanstoß verstehe, werden auch kein Glasperlenspiel sein, weil wir in einer Welt leben, wo das, was auf der anderen Seite passiert – Frau Kemmerer sagte es gerade –, uns betrifft. Wir sehen das, in fast Echtzeit bekommen wir das mit. Und das schafft einen großen Handlungsdruck und das wird uns nicht gleichgültig lassen.

Claus Leggewie: Es gibt Leute, die sagen, wir übernehmen uns.

Gerd Hankel: Ja, die Gefahr besteht, dass man zu viel jetzt und zu gleicher Zeit zu viel machen möchte – richtig. Allerdings sind wir noch in einer Phase, wenn ich mir mal so vergegenwärtige, was ich so aus Afrika erfahre, wo ich häufig beruflich bin an den Kriegsschauplätzen dort, wir sind in einer Phase, wo jetzt etwas passieren muss. Und zwar übernehmen tun wir uns dann nur oder der Vorwurf wird kommen, wenn es weiterhin einseitig bleibt, das heißt, wenn die internationale Justiz und unsere Vorschläge sich nur auf ganz bestimmte Adressaten konzentrieren, nämlich auf die Schwachen – Afrikaner aus dem Kongo, aus Libyen jetzt, Leute, die ohnehin schon gefallen sind.

Wenn wir weiterhin uns ruhig verhalten, sobald mächtige Staaten ins Spiel kommen – Russland, China, USA oder aufgrund unserer Geschichte Israel –, dann wird das die Legitimität des gesamten Unternehmens ganz erheblich beschädigen. Das erfahre ich, wo immer man mich fragt: "Na ja, das ist wunderbar, wir sehen ein, dass unsere Kongolesen vor Gericht gestellt werden müssen. Aber was sagt ihr denn zum Gaza-Krieg?"

Claus Leggewie: Was sagen Sie denn zu Syrien, Frau Kemmerer? Wäre nicht geboten, wenn man in Libyen aktiv wird, in Syrien es auch zu tun? Warum tun wir es nicht? Sind es reine Opportunitätserwägungen? Hat es was damit zu tun, dass wir mit Assad noch andere Dinge vorhaben? Also, da wäre ja jetzt mal ein Punkt, wo wir über eine mögliche künftige Intervention nachdenken können.

Alexandra Kemmerer: Das ist natürlich ein großes Problem. Es hat auch damit zu tun, dass Erwägungen anzustellen sind, inwieweit aus dem Inneren des Staates selber noch Veränderungen zu erwarten sind. Die Schutzverantwortung, die responsibility to protect, ist ja eigentlich nicht eine Verantwortung, die in erster Linie von der Staatengemeinschaft wahrzunehmen und auszuüben ist, sondern es ist eine Verantwortung des Staates gegenüber seinen Bürgern. Und erst in dem Moment, wo der Staat offenkundig nicht mehr in der Lage ist, diese Verantwortung wahrzunehmen oder sich sogar selbst gegen seine eigenen Bürger wendet und es zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen kommt, die staatlicher Gewalt zuzuordnen und zuzurechnen sind, kann eine Intervention von außen überhaupt gerechtfertigt sein. Also, deswegen ist hier immer sehr genau abzuwägen, wann eine solche Ultima Ratio gerechtfertigt sein kann.

Und das andere ist natürlich auch, dass dieser Charakter der Schutzverantwortung als eine Verantwortung des Staates auch mit sich bringt, dass es natürlich auch vonseiten der Staatengemeinschaft gilt, genauer hinzuschauen, wie es im Vorfeld zu solchen Entwicklungen kommen kann. Herr Hankel hat das ja eben schon angerissen. Also, da kann man es auch nicht schaden, wenn man mit Mitteln unterhalb der Eingriffsschwelle militärischer Gewalt darauf hinwirkt, dass Staaten angemessen mit ihren eigenen Bürgern umgehen.

Claus Leggewie: Ist das ein fauler Kompromiss, den wir da machen? Ich deute jetzt auf unser zweites Buch hin. Es ist geschrieben von Avishai Margalit, einem israelischen Philosophen. Und der Titel ist: "Über Kompromisse und faule Kompromisse". Frau Kemmerer, stellen Sie uns doch mal den Inhalt des Buches vor. Was erwartet die Leser, wenn sie dieses Buch anschauen?

Alexandra Kemmerer: Die Leser erwartet ein ganz hochspannendes Buch über ein Thema, das oft vernachlässigt gewesen ist, aber eminent wichtig, eigentlich ein moralphilosophisches Thema, die Frage nach Kompromissen, wann man sie eingehen kann, wann man sie eingehen soll. Und eigentlich geht es so sehr wie um politische auch um persönliche Kompromisse, die jeder im Leben eingehen muss. Avishai Margalit sagt dazu: "Was wir sind, entscheidet sich eigentlich nicht an den Idealen, die wir haben, sondern vielmehr daran, welche Kompromisse wir eingehen in unserem Leben." Er hebt das dann aber auf eine politische Ebene und illustriert sein Argument auch mit Beispielen aus der Politik, zum Beispiel mit dem Münchner Abkommen von 1938.

Wann handelt es sich um einen faulen Kompromiss? Ein fauler Kompromiss ist für Avishai Margalit ein Kompromiss, bei dem die Würde des Menschen selber infrage gestellt ist. Das ist für Margalit ja ein großes Thema. Er hat auch ein sehr schönes Buch geschrieben über die Politik der Würde. Und er unterscheidet diesen faulen Kompromiss nicht nur von guten Kompromissen, sondern auch von schäbigen oder nur problematischen Kompromissen, die dann doch noch möglicherweise in Kauf zu nehmen sind. Und das ist vielleicht eine Figur, die sich gut anwenden lässt auf die Frage nach der Zulässigkeit humanitärer Interventionen. Das sind in der Regel keine guten Kompromisse, die da eingegangen werden von der Staatengemeinschaft, sondern es sind Kompromisse, die irgendwie ein bisschen schäbiger, ja doch in Kauf genommen werden müssen.

Claus Leggewie: Kann man das machen, Herr Hankel? Also, wir kennen sozusagen die Kompromisse, die wir eingehen, sei es mit uns selbst, weil der innere Schweinehund da sich gemeldet hat oder eben nicht, Kompromisse, die wir am Arbeitsplatz machen, in der Familie usw. Kann man das hochrechnen auf das Verhalten zwischen Gesellschaften, Staaten?

Gerd Hankel: Ja, Avishai Margalit macht das und er demonstriert das auch an einer ganzen Reihe von Beispielen und geht durch, wann man Kompromisse machen darf, weil die Folgen des Kompromisses Nachteile überwiegen, weil es zum Beispiel Frieden bedeutet. Dazu darf man auch, so sagt er, "auf Gerechtigkeit verzichten", sogar massiv auf Gerechtigkeit, weil Frieden wichtiger sei. Faule Kompromisse im Sinne der Kompromisse, wie Frau Kemmerer sie gerade geschildert hat, sollte man nicht eingehen.

Das Problem ist nur: Man weiß ja nicht immer schon im Vorhinein, wann ist ein Kompromiss faul und wann so faul, dass ich ihn auf gar keinen Fall eingehen darf. Und wann ist der Kompromiss doch noch – er nennt das – "entschuldbar" oder verständlich? Er macht es deutlich an dem Beispiel des Münchner Abkommens oder aber der Unterstützung von Churchill für Stalin im Kampf gegen Hitler. Stalin, selbst ein auch damals schon überaus bekannter Massenverbrecher, mit diesem Mann arrangiert man sich jetzt, um Hitler zu bekämpfen. Und an diesem Beispiel kommt er zu dem Ergebnis, ja, das ist ein schwerer, schwerer Kompromiss, aber ein Kompromiss, den man – wenn ich ihn richtig verstanden habe – eingehen kann, weil Hitler und der Nationalsozialismus die Inkarnation gewissermaßen des Bösen sei, eine neue Dimension jenseits des Stalinismus, eine neue Dimension des Bösen aufgemacht hätte.

Claus Leggewie: Herr Hankel, hat Sie das Buch überzeugt?

Gerd Hankel: Mich hat das Buch in großen Teilen überzeugt. Zum Schluss hab ich ihn etwas verloren, als der diesen Vergleich zwischen Hitler und Stalin anstellt und ich dann auch gedacht habe, na ja, was werden wohl die Polen oder die Russen dazu sagen. Und ich habe jetzt vor einiger Zeit auch noch das Buch von Wassili Großmann, "Leben und Leidenschaft", gelesen und da wird ja nun etwas ganz anderes deutlich. Und man fragt sich dann wirklich, stimmt das so, kann man das so darstellen oder kann man das vergleichen?

Gut, sehr, sehr gut gefallen hat mir, wie er die Voraussetzungen der Kompromissbereitschaft darstellt, dass er sagt, es ist Aufgabe der stärkeren Seite, einen Kompromiss anzubieten. Und da habe ich gleich den Bogen wieder zu meinem Anliegen, wo es auch die Aufgabe der stärkeren Seite ist, der symmetrisch kämpfenden, jetzt den Taliban oder asymmetrisch Kämpfenden vertrauensbildende Angebote zu machen, weil, auf andere Art wird man das Problem nicht lösen können.

Claus Leggewie: Ist es gut, mit den Taliban zu verhandeln, wie das jetzt nicht nur ein glückloser SPD-Vorsitzender vor einigen Jahren mal vorgeschlagen hat und alle die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen haben, sondern jetzt eben auch gewissermaßen amerikanische Strategie ist, mit den Taliban verhandeln. Das war ja etwas, was sozusagen undenkbar für eine Zeit galt. Ist es gut, mit denen zu verhandeln – vor dem Hintergrund dessen, was wir gerade gesagt haben, Kompromisse einzugehen?

Alexandra Kemmerer: Ich denke, es ist unabdingbar zu verhandeln, aber in einer Weise, die eben Verhandlung eben auch als Aushandlung versteht. Also, man stellt Bedingungen. Ohne Bedingungen gibt es keine Verhandlung. Es reicht vielleicht nicht, mit den Taliban zu beten, wie das manchmal auch gefordert wird, sondern es ist wichtig klarzumachen, dass man gemeinsam in einen Prozess eintritt, in dem auch Konditionen von der stärkeren Seite gestellt werden und dass dieser Prozess dann sehr sorgfältig reflektiert wird, auch dahingehend, dass man genau überprüft, ob die andere Seite bereit ist, diesen Weg mitzugehen.

Claus Leggewie: Wir haben unter anderem hier in dieser Sendung auch schon mal diskutiert über den, was man immer noch traditionell den "Nahostkonflikt" bezeichnet. Was mich ein bisschen an dem Buch von Margalit vielleicht enttäuscht hat, oder jedenfalls, was ich offen gelassen finde, ist der Bezug auf eben diesen Konflikt. Woran liegt das bei dem Autor?

Gerd Hankel: Vielleicht ist ihm der Konflikt zu undurchsichtig, zu schwierig oder er scheut es, eine klare Position zu beziehen. Oder er ist zu sehr verwoben in diesem – wie es ja gang und gäbe ist zurzeit – zwar, aber. Das heißt, man erkennt die Probleme an, aber sagt dann wieder, aber die Palästinenser sind doch nicht friedensfähig, und kommt dann doch wieder über viele Umwege dazu, dass man sagt, na ja, es bleibt doch alles so, wie es ist. Das hat mich auch etwas enttäuscht, dass er keine klare Position bezieht.

Ich war jetzt gerade kurz noch in Israel. Ich habe aus eigener Anschauung die Mauer gesehen, die man durchqueren muss, wenn man von Jerusalem nach Bethlehem fahren möchte, die entwürdigende Behandlung der Palästinenser. Dass er darüber kein Wort findet und dass er da nicht eine stärkere Kompromissbereitschaft auch der stärkeren, nämlich der israelischen Seite, fordert, das ist eine, wie ich finde, Schwachstelle ist übertrieben, aber ich hätte es mir gewünscht, dass er das macht.

Claus Leggewie: Gibt es denn Anzeichen, das wäre ja sozusagen ein empirischer Beleg dafür, dass Ihre Bestrebungen verfangen, gibt es denn Anzeichen in Israel, in Ihrem Buch streifen Sie es kurz, dass sich gewissermaßen eine Einsicht, zum Beispiel nach dem Gaza-Konflikt, in dem Israel sehr am Pranger gestanden hat und, ich glaube auch, berechtigterweise, dass hier sozusagen so etwas passiert wie eine Selbstaufklärung?

Gerd Hankel: Israel kann man ganz ohne Zweifel als eine Demokratie und auch noch in weiten Teilen liberale Demokratie in dieser Region der Welt bezeichnen. Und nach den Erfahrungen des Gaza-Kriegs, nach dem Desaster mit der Friedensflotte hat man den Posten eines Fachoffiziers für humanitäres Völkerrecht geschaffen. Den gab es vorher schon, aber es war nicht so ganz sicher, wofür er zuständig ist bzw. nicht so genau bestimmt. Und jetzt hat man diesen Posten geschaffen, aufgewertet, der künftig verhindern soll, dass es nicht mehr so eine Bilanz gibt wie im Gaza-Krieg – nach palästinensischer Seite über 1000 zivile Tote und 300 Kombattanten gefallen, nach israelischer Darstellung 300 zivile Tote, aber immer noch ein eklatantes Missverhältnis zu den zwischen 6 und 13 Toten, je nach dem, ob ich freundliches Feuer dazu zähle oder nicht, auf israelischer Seite. Und dass alleine dieses Zahlenverhältnis schon deutlich macht, was rechtlich zum Teil in Ordnung ist, zum Teil steht der Verdacht im Raum, dass Kriegsverbrechen begangen worden sind von israelischer Seite, aber zum Teil halt auch nicht, dass man sagen kann, nein, nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip geht diese Kriegshandlung so in Ordnung. Dass das nicht friedensfördernd ist, das hätte er sagen können und sollen.

Claus Leggewie: Gibt’s Anzeichen in Deutschland für eine ähnliche Selbstaufklärung in Sachen Afghanistan – im Lichte oder in der Linie Ihrer Reformvorschläge?

Gerd Hankel: Nein. In Deutschland ist es merkwürdig gespalten. Ich war vor drei Wochen für eine Woche bei der Bundeswehr und habe mit vielen Bundeswehrsoldaten mich unterhalten, die in Afghanistan waren, die meine negative Einschätzung teilen, die sagen, es geht nur noch darum, dass wir mit einigermaßen erhobenem Haupt da rauskommen und die Türe zumachen und das hier entsprechend verkaufen.

Dann habe ich einen Oberst im Generalstab gesprochen, der in sehr engem Kontakt mit Politikern steht, der also vielleicht auch noch General werden möchte. Für den war das alles prima und wunderbar und es ist ein Fortschritt und das Land geht in eine schöne Zukunft hinein. – Das heißt also, was nun die Umsetzung oder ein Anstoß dafür anbelangt, was mir im Kopf vorschwebt auf politischer Seite – da ist noch viel zu machen.

Claus Leggewie: Frau Kemmerer, Sie haben noch einen Buchtipp für unsere Hörerinnen und Hörer, und zwar einen, den es eigentlich schon sehr lange gibt.

Alexandra Kemmerer: Ja, das ist eigentlich in der Tat ein Klassiker: Immanuel Kants "Schrift zum ewigen Frieden" von 1795. Das ist ein Buch, das wie Kants Schriften zum Völkerrecht und zu den internationalen Beziehungen insgesamt eigentlich sehr lange wenig beachtet war und in seiner Bedeutung auch sehr umstritten, in den letzten 20 Jahren allerdings eine gewaltige Renaissance erlebt hat. Und heute kann man eigentlich gar keine Diskussion zu Völkerrecht und zu den internationalen Beziehungen führen, ohne auf Kant zu rekurrieren und solchen Bezugnahmen zu begegnen.

Kants Friedensschrift ist jetzt gerade erschienen in der Suhrkamp Studienbibliothek in einer hervorragend kommentierten Ausgabe von Oliver Eberl und Peter Niesen von der Technischen Universität Darmstadt. Und das Besondere daran ist, dass die beiden es schaffen, nicht nur eine sehr schön zu lesende Rezeptionsgeschichte zu liefern, sondern diese Friedensschrift auch einzubetten in die Position der gegenwärtigen völkerrechtlichen Diskussion, der Diskussion über Weltstaat und Staatenbund. Auch die Weltöffentlichkeit spielt eine Rolle, von der wir hier gesprochen haben. Und ich fand es auch einen sehr erhellenden Beitrag für mich bei der Vorbereitung auf das heutige Thema. Denn Eberl und Niesen kommen zu der Auffassung, dass man bei Kant eigentlich keine Rechtfertigung für humanitäre Interventionen jeglicher Art finden könne. Kant selber schreibt dazu im 5. Präliminarartikel der Friedensschrift: "Kein Staat solle sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen."

Claus Leggewie: Das ist das alte Souveränitätsprinzip. Herr Hankel, Sie haben auch einen Buchtipp.

Gerd Hankel: Ja, ich möchte Ihnen die Lektüre des folgenden Buches empfehlen: William Polk, "Aufstand. Widerstand gegen Fremdherrschaft: vom amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bis zum Irak". Der Autor Polk ist ein emeritierter Historiker. Er hat in Harvard gelehrt, war Politikberater, war dann an der Universität in Chicago und er zeigt hier in elf Kapiteln, dass ein Widerstand gegen Fremdherrschaft, dass eine Einmischung in die inneren, die massiven Einmischungen in die inneren Angelegenheiten anderer Länder immer gescheitert sind. Das heißt, was wir jetzt erleben – Afghanistan, Irak und in anderen Ländern zur Kolonialzeit, Vietnam –, hat es damit geendet, dass diejenigen Mächte, die dort einmarschiert sind, halt nicht gesiegt haben, sondern früher oder später den Rückzug haben antreten müssen.

Er bringt auf allen Kontinenten Beispiele, Afrika, Asien, USA. Und was er hier schreibt und was er zu sagen hat, ist sehr, sehr lehrreich und sollte denjenigen, die für solche Militäroperationen zuständig sind, eigentlich als Pflichtlektüre dienen.

Claus Leggewie: Das war Lesart Spezial. Besprochen haben wir insbesondere Gerd Hankel, "Das Tötungsverbot im Krieg", erschienen in der Hamburger Edition, und von Avishai Margalit "Über Kompromisse und faule Kompromisse", erschienen im Suhrkamp Verlag. Ich verabschiede mich von meinen beiden Gästen und wünsche noch einen schönen Sonntag.

Gerd Hankel: Das Tötungsverbot im Krieg. Ein Interventionsversuch
Hamburger Edition, 2011

Avishai Margalit: Über Kompromisse und faule Kompromisse
Suhrkamp, 2011
Buchcover: "Das Tötungsverbot im Krieg" von Gerd Hankel
Buchcover: "Das Tötungsverbot im Krieg" von Gerd Hankel© Hamburger Edition
Buchcover: "Über Kompromisse und faule Kompromisse" von Avishai Margalit
Buchcover: "Über Kompromisse und faule Kompromisse" von Avishai Margalit© Suhrkamp