Klettern: hoch hinaus

Die Wand und ich

Hand an Kletterwand
Pia Rauschenberger: "Beim Klettern werden Hände und Füße plötzlich gleichbedeutend." © picture alliance / Candy Welz / dpa-Zentralbild / dpa
Von Pia Rauschenberger · 13.08.2017
Scheitern und Stürzen gehören dazu. Warum also klettern? Weil wir uns im Alltag und bei anderen Sportarten fast ausschliesslich in der Ebene bewegen. Klettern gibt die Möglichkeit, den Raum anders zu erkunden.
Es knirscht, wenn man sich der Kirchbachspitze in Berlin-Schöneberg näher. Ein Felsen aus Betonplatten und Spritzbeton steht hier in einem Meer aus Kies.

"Hallo, hey"

Wer im Sommer in der Stadt bleibt, kann froh sein, hier einen Felsen zu finden. Denn Felsen sind sonst rar in Berlin. Aber zum Klettern braucht es einen Felsen, wie zum Segeln das Meer. Und wer keinen echten Felsen aus Granit oder Kalk oder Sandstein hat, greift zur Not auch an harten Spritzbeton.
Klettern funktioniert nur zu zweit. Eine Person klettert, eine andere steht unten und sichert. Man muss einander also vertrauen. Immerhin so sehr, dass man sich auf zwölf Metern Höhe ins Seil setzt und halten lässt. Aber so hoch muss ich erstmal kommen.
Bevor ich anfange zu klettern, ziehe ich mir den Gurt an – meine Kletterpartnerin kontrolliert, ob ich das Seil richtig angeknotet habe.

"Ok, bei mir ist zu" – Ja…

Dann geht es an die Wand. Der Spritzbeton ist von vielen schwitzigen Kletterhänden abgegriffen. Beim Klettern werden Hände und Füße plötzlich gleichbedeutend. Ich setze einen Fuß weit nach links und muss kurz darauf schnell meine Hand vom Fels lösen, um rechts über mich zu greifen, sodass ich fast diagonal hänge. Jede Route ist anders, erfordert andere Lösungen. Um zu verstehen welche, muss ich den Fels genau anschauen und wissen, wie ich meinen Körper einsetzen kann. Mit meinen langen Beinen und Armen klettere ich eine Route ganz anders als kleinere Kletterer, die dafür leichter sind.
An meinem Gurt baumeln Exen - zwei Karabiner verbunden mit einer Schlinge aus Nylon. Sie klingeln wie Kuhglocken, während ich mich Schritt für Schritt die Wand hocharbeite.
Die Exen klippe ich an Haken, die in der Wand festgemacht sind. Das Seil hänge ich in die Exen ein. Der Moment, wenn ich das Seil einhänge ist der prekärste Moment beim Klettern. Wenn ich falle, bevor ich das Seil eingehängt habe, falle ich bis zur nächsten Exe und noch weiter. Etwa vier bis fünf Meter können das sein.
Ein bisschen Angst ist immer dabei. Warum also klettern? Ich könnte auch Fußball spielen, Fechten oder Tanzen. Aber nein danke.
Im Alltag und in fast allen anderen Sportarten bewegen wir uns in der Ebene. Wir krabbeln, turnen oder rennen auf der X-Achse des Lebens. Die Höhe, die Y-Achse, beachten wir gar nicht, vergessen sie vielleicht sogar. Beim Klettern bleibe ich - was die X-Achse angeht - auf einem Fleck, dafür arbeite ich mich langsam auf der Y-Achse nach oben.

"Mach nochmal zu"

Kletterern kann natürlich leicht der Narzissmus-Vorwurf gemacht werden, weil sie in die Höhe streben. Größenwahn. Ganz ehrlich: das ist absoluter Quatsch. Gerade beim Klettern geht es darum, sich nicht auf das große Ganze zu konzentrieren. Um eine schwierige Route zu klettern, muss jeder Fitzel in der Wand genau inspiziert werden. Am Ende stehe ich auf einem winzigen Vorsprung, der etwa so groß ist wie mein kleiner Fingernagel. Das klappt nur, wenn man in dem entscheidenden Moment an sich glaubt und den Fuß genug belastet. Nur, wer mit Entschiedenheit diesen Fitzel betritt, den wird er tragen. Karl Jaspers hat über die Unbedingtheit des Entschlusses geschrieben. "Durch Entschlossenheit gelangen wir zur Selbstoffenbarung."
Das gilt auch fürs Klettern. Wir werden uns selbst offenbar, erkennen unsere Grenzen und unsere Möglichkeiten, durch die Herausforderung, der wir uns stellen, durch die Wand, die wir uns aneignen mit unseren eigenen Mitteln.

Oben angekommen, schaue ich mich um.

Um oben anzukommen, muss man fokussiert sein. Diszipliniert sein. Kreativ sein. Entschieden sein. Und alles, um am Ende vielleicht doch runterzufallen. Genau diese Fallhöhe zwingt uns aber, alles andere für einen Moment zu vergessen. Beim Joggen kann ich unendlich viel Grübeln. Beim Klettern bleibt wirklich keine Zeit, über irgendetwas außerhalb der Wand und mir nachzudenken.
Später trage ich blaue Flecken an den Armen und aufgeschürfte Knie mit nach Hause. Scheitern und Stürzen gehören zum Klettern dazu, nur so können wir am Ende eine schwere Route schaffen.
Am Fels dürfen wir scheitern, denn es gehört dazu, um besser zu werden. So machen wir Kletterer uns Routen zu einer Aufgabe. Jaspers sagt: "was ein Mensch ist, ist er durch das, was er sich zu eigen macht." Wie oft machen wir Sachen halbherzig, mit angezogener Handbremse. Beim Klettern sind wir ganz bei der Sache. Das macht es so unglaublich wunderbar.
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