Die Erfahrung von Freiheit und ihre Grenzen

Kleine Philosophie des Fahrradfahrens

Ein Fahrradfahrer fährt auf einer überfluteten Straße in Köln im Wasser mit ihrem Rad.
Mit dem Fahrrad Widerstände überwinden: Radfahrer auf einer überfluteten Straße in Köln © pa/dpa/Gambarini
Von Constantin Hühn · 06.08.2017
"Auf eure Räder, um das Leben zu ändern!" forderte der Ehtnologe Marc Augé. Denn wer Fahrrad fährt, erfährt Freiheit und Unabhängigkeit. Und gleichzeitig die Grenzen der Freiheit: etwa wenn Frauen mancherorts das Fahrradfahren noch immer verboten ist.
Der Wind rauscht in meinen Ohren, ich beuge mich ein bisschen tiefer über die Lenkstange. Je stärker der Wind mir entgegenbläst, desto kräftiger trete ich in die Pedale: links, rechts, links, rechts. Ich spüre meinen Atem schneller werden. Endlich biege ich ab und der Widerstand lässt nach. Mit dem Wind im Rücken richte ich mich auf, strecke die Arme zur Seite – und glaube, jeden Moment abzuheben.

"Das Fahrrad ist Teil unser aller Lebensgeschichte"

Wenn wir Fahrrad fahren, erfahren wir uns ein Stück Freiheit. Jeden Tag aufs Neue, wenn die S-Bahn streikt oder der Benzinpreis steigt. Aber auch in unserer persönlichen Entwicklung, wenn wir uns damit nach und nach die Welt erobern. Für den französischen Ethnologen Marc Augé ist das Fahrrad untrennbar verbunden mit dem Erwachsenwerden:
"Das Fahrrad ist Teil unser aller Lebensgeschichte. Es fahren zu lernen, knüpft sich an besondere Momente unserer Kindheit und Jugend. Durch das Fahrrad hat jeder ein bisschen von seinen körperlichen Fähigkeiten entdeckt und eine Kostprobe der Freiheit erfahren, die sich damit verbindet."
Marc Augé bei einem Auftritt im Jahr 2016
Marc Augé bei einem Auftritt im Jahr 2016© imago/Pacific Press Agency/Marco Destefanis
Als ich mit fünf Jahren Fahrradfahren gelernt habe, war das mein erster Schritt in die Unabhängigkeit: erst mit Stützrädern, dann mit der elterlichen Hand auf dem Rücken. Bis ich schließlich ganz ohne Hilfestellung davongeradelt bin: zu meinen Freunden, am anderen Ende der Stadt. Seither haben mich meine wechselnden Fahrräder zuverlässig hunderte Kilometer durch die Welt getragen. Ganz ohne Treibstoff, nur durch eigene Körperkraft und mechanische Raffinesse. Wie es eine frühe Fahrradenthusiastin ausdrückte:
"Die Maschine ist stets gebrauchsfertig. Frei und unabhängig von allem andern kann man auf die Minute bestimmen, wann und wo man sein will."

Radfahrende Frauen entscheidend für die Emanzipation

Vorbei an stehenden Stahlkolonnen, durch enge Gassen und zur Not ein Stück über den Gehweg. Das Radfahren ermöglicht, mit Immanuel Kant gesprochen, einen ganz konkreten "Ausgang aus der Unmündigkeit". Und zwar nicht nur für jeden Einzelnen, sondern auch gesellschaftlich: Noch vor 100 Jahren war eine Frau auf dem Fahrrad für manche ein Skandal. Als trotzdem immer mehr Frauen radelten, war das in den Augen mancher Frauenrechtlerinnen entscheidender für die Emanzipation als alle Bestrebungen der Frauenbewegung zusammen. Und die französische Schauspielerin Sarah Bernhardt war sich sicher:
"Ich glaube, dass die Benutzung von Fahrrädern dabei ist, unsere Sitten tiefgriefender zu verändern, als man sich allgemein noch im Zweifel ist. All diese jungen Frauen, die losfahren und den Raum erobern, hängen einen Großteil des häuslichen Lebens an den Nagel."
Fahrradfahren verändert die Sitten: Im 19. Jahrhundert galten Frauen auf dem Rad vielerorts noch als Skandal.
Fahrradfahren verändert die Sitten: Im 19. Jahrhundert galten Frauen auf dem Rad vielerorts noch als Skandal.© imago/Leemage
Fahrradfahren macht uns freier. Und konfrontiert uns zugleich mit den Grenzen dieser Freiheit: Meine eigenen begrenzten Fähigkeiten – wenn ich hinfalle oder einen Berg nicht schaffe. Die Widerständigkeit des technischen Materials – wenn mal wieder die Kette abspringt oder die Luft raus ist.
Und schließlich politische Einschränkungen der Freiheit: Etwa, wenn Frauen mancherorts immer noch nicht auf den Sattel steigen dürfen. Der Film "Das Mädchen Wadjda" der saudi-arabischen Regisseurin Haifaa Al Mansour erzählt von dieser Bevormundung. Aber auch, wie die Protagonistin mit allen Mitteln dafür kämpft, trotzdem Fahrrad zu fahren.

Eine Aufforderung, Widerstände zu überwinden

Und so stachelt uns das Radfahren im Idealfall auch dazu an, Widerstände zu überwinden, Grenzen zu verschieben: "Auf eure Räder, um das Leben zu ändern! Radsport ist Humanismus", wie Marc Augé schreibt.
Für Marc Augé ist das Fahrradfahren Ausgangspunkt für eine 'effektive urbane Utopie': technischer Fortschritt, der allen gut tut und niemandem schadet. Ökologisch nachhaltig und gesellschaftlich egalitär. Bis zur Verwirklichung dieser Utopie ist es noch ein steiler Weg. Mit ein paar mehr Radwegen ist es nicht getan. Aber möglich ist sie. Schalten wir also ein paar Gänge runter, um den Anstieg zu schaffen.
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