Jay Howard Geller: "Die Scholems"

Eine Familie, viele Lebenswege

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Cover des Buchs "Die Scholems. Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie" von Jay Howard Geller.
Panorama einer deutsch-jüdischen Epoche: die Scholems und ihre Familiengeschichte. © Jüdischer Verlag / Deutschlandradio
Von Andrea Roedig · 03.12.2020
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Der berühmte Kabbala-Forscher Gershom Scholem entging dem Holocaust durch Emigration nach Palästina. Am Beispiel seiner Familie schildert der Historiker Jay Howard Geller die Entwicklung der deutsch-jüdischen Kultur vor 1933.
Auf dem Friedhof Berlin-Weißensee erinnert ein Grabstein an die Familie Scholem; fünf Namen sind darauf verzeichnet, aber nur ein Mitglied der Familie, Arthur Scholem, liegt hier wirklich begraben. Seine Frau, seine Söhne – unter ihnen der berühmte Kabbala-Forscher Gershom Scholem – starben über die Welt verstreut, in Buchenwald, Sidney und Jerusalem.
Der Scholem-Grabstein ist nicht nur ein Sinnbild der jüdischen Diaspora, sondern auch der sehr unterschiedlichen Lebenswege, in die "deutsch-jüdische Kultur" des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts führen konnte. Mit einer neuen, groß angelegten Studie zeigt der Historiker Jay Geller am Beispiel der Familie Scholem, wie diese Kultur eines assimilierten Judentums aussah, und wie sie sich in die politischen Entwicklungen Deutschlands vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus einfügte.

Wohlstand in der zweiten Generation

Die Vorfahren der Scholems kamen Anfang des 19. Jahrhunderts als ungelernte Arbeiter aus dem schlesischen Glogau nach Berlin. Bereits in der zweiten Generation hatte sich Siegfried Scholem mit einer eigenen Druckerei einigen Wohlstand erarbeitet.
Im Zentrum von Jay Gellers historischer Erzählung stehen Arthur Scholem (1863-1925), Inhaber der "Druckerei Arthur Scholem", seine Frau Betty und deren vier Söhne, die in den 1890er-Jahren geboren wurden und deren Entwicklung in politischer wie weltanschaulicher Hinsicht konträrer nicht hätte sein können.
Während die Älteren, Reinhold und Erich, als Geschäftsleute in den väterlichen Betrieb einstiegen – Reinhold deutschnational gesinnt, Erich eher liberaldemokratisch – brach der drittgeborene Sohn Werner mit der bürgerlichen Tradition, wurde Reichstagsabgeordneter für die Kommunistische Partei und Redakteur der Parteizeitschrift "Rote Fahne".
Der Jüngste wiederum, Gerhard, später Gershom, entdeckte das Judentum für sich, vor allem die hebräische Sprache, engagierte sich in zionistischen Vereinen und emigrierte 1923 nach Palästina.

Vier Reaktionen auf den Antisemitismus

Jay Geller spannt ein ganzes Panorama der "deutsch-jüdischen Epoche" auf, die er zwischen 1812 und 1933 datiert. Es war die Zeit, in der Juden in Deutschland Bürgerrechte besaßen und eine eigene deutsch-jüdische Kultur entwickelten, die stets mit Antisemitismus konfrontiert war. Die vier Söhne von Betty und Arthur Scholem stehen – so Geller – auch exemplarisch für vier verschiedene weltanschauliche Orientierungen, mit denen Juden auf den Antisemitismus reagierten, von deutschnationaler Gesinnung bis hin zum Zionismus.
Gershom Scholem entging durch seine frühe Emigration der deutschen Katastrophe und wurde zum international gefeierten Gelehrten. Betty Scholem und ihren beiden älteren Söhnen gelang 1938 und 1939 die Ausreise nach Australien, wo Reinhold und Erich als Geschäftsleute mehr oder weniger Fuß fassen konnten. Werner Scholem aber war als Kommunist neun Jahre lang in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert, bevor er 1942 in Buchenwald angeblich "auf der Flucht" von hinten erschossen wurde.

Jay Howard Geller: Die Scholems. Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie
Aus dem Englischen übersetzt und für die deutsche Ausgabe bearbeitet von Ruth Keen und Erhard Stölting
Jüdischer Verlag im Suhrkamp-Verlag, Berlin 2020
463 Seiten, 25 Euro

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