Finnland

Anti-Helden in der Sauna

Von Jenni Roth |
Das "Kalevala" ist eine Art finnisches Nibelungenlied, ein Nationalepos, das im finnischen Alltag versponnen ist: Vom Kinderbuch bis zum Comic. Auch viele Vornamen und sogar Firmennamen sind der Heldensage entlehnt.
Am Anfang war Ilmatar, die Jungfrau der Lüfte. Geschwängert vom Wind, wird sie zur Mutter der Meere. Dann legt eine Taucherente ein Ei auf ihr Knie. Es zerbricht, und Sonne, Mond und Sterne entstehen. Ilmatar formt die Erde, und nach 730 Jahren wird ihr Sohn Väinämöinen geboren.
Die Folkloristin Sirpa Huttunen steht im Zentrum von Helsinki vor drei überlebensgroßen Bronzestatuen, Figuren aus dem Nationalepos Kalevala.
"Väinämöinen war ein weiser Mann, und auf seiner Kantele, einem Saiteninstrument, spielte er himmlische Musik, mit der er die Menschen, Tiere und Pflanzen in den Schlaf wiegte."
Die Deutschen haben das Nibelungenlied, die Isländer ihre Edda, die Briten die Artussage – aber kaum in einem Land hat ein Epos so großen Einfluss auf Kultur und Nationalgefühl gehabt wie in Finnland.
"Im Stadtteil Käpylä etwa haben wir viele Straßen, die nach Kalevala-Figuren benannt sind ..."
Huttunen ist Projektleiterin beim "Verein der Kalevala-Frauen" – viele Finnen haben sich das Epos zum Beruf gemacht: Es gibt den Kalevala-Verband, Übersetzer, Autoren und Zeichner, die ihre eigenen Versionen vom Kinderbuch bis zum Comic kreieren.
1828 zieht der junge Finne Elias Lönnrot zu Fuß und auf Skiern in die entlegenen karelischen Wald- und Seengebiete, er sammelt 65.000 Verse der berühmten Kantele-Sänger und setzt sie zu einem fantastischen Langgedicht zusammen. Es berichtet von der Rivalität des Nordreichs Pohjola gegen den Süden; von Brautfahrten, Zaubermühlen und sagenhaftem Reichtum.
"Wir waren Jahrhunderte unter russischer oder schwedischer Herrschaft und sehnten uns nach einer eigenständigen Nation – und jede Nation braucht ihren Mythos. Die Nationalbewegung wollte die fehlende Geschichte ausgleichen, und interpretierte das Kalevala als historisches Zeugnis der "Urzeit des finnischen Volkes". Ich glaube jedenfalls, es trug dazu bei, dass wir 1917 unabhängig wurden."
Sogar ein Donald-Duck-Comic ist an eine finnische Sage angelehnt
Huttunen steht jetzt in der Einkaufsstraße Aleksanterinkatu vor der Granitfassade von Pohjola, dem größten Versicherungsunternehmen im Land. In Stein gemeißelt ziehen zwei Wächter ihre Fratzen.
"In Pohjola ist der Sage nach der Sampo versteckt, ein magischer Schatz. Und diese Teufel hier bewachen ihn. Entworfen hat sie der Architekt Eliel Saarinen, und überhaupt ist das Kalevala Inspiration für viele Künstler gewesen."
Saarinen gestaltete auch den finnischen Pavillon für die Weltausstellung 1900 in Paris mit Deckenfresken aus Kalevala-Szenen. Viele seiner Bauten – wie der Hauptbahnhof – stehen für die nationalromantische, Kalevala-inspirierte Architektur jener Epoche. Der Nationaldichter Eino Leino orientierte sich am Kalevala-Versmaß, Maler wie Akseli Gallen-Kallela haben die Vorstellungen des Kalevala bis heute geprägt. Phantastik-Literaten wie Tolkien ließen sich von der Sage inspirieren, ein Donald-Duck-Comic ist an sie angelehnt – und da ist der Nationalkomponist Sibelius, der Werke wie "Kullervo" schrieb.
Kullervo verführte unwissentlich seine eigene Schwester und ist eine Metapher für junge Finnen, die nicht klar kommen, auf die schiefe Bahn geraten. Man sagt dann: "Er ist so ein Kullervo" – nur ein Beispiel für viele Redewendungen, die vom Kalevala kommen.
Finnisch wurde erst 1902 zur Amtssprache
Das Epos ist voller Anti-Helden, die sich mehr durch künstlerisches als durch kriegerisches Geschick auszeichnen. Sie haben menschliche Schwächen, gehen in die Sauna und schätzen ihre Frauen.
"Ich sehe mich in Louhis Tochter, der Herrscherin von Pohjola: eine toughe Geschäftsfrau, die sich aber gut um ihre Leute kümmert. Und, na gut, sie ist auch ziemlich egoistisch ..."
In den Auslagen von "Kalevala Koru" liegen Ringe und Ketten, meist aus Bronze. Fast jede finnische Frau besitzt so ein Schmuckstück – auch Huttunen trägt Kalevala-Ohrringe. 1937 gründete Elsa Heporauta, Vorsitzende des Vereins der Kalevala-Frauen, die Firma, um die im Epos erwähnten Frauen zu ehren.
"Das Epos zeigt, wie stark die Rolle der Frauen hier schon immer war: Finnland ist so dünn besiedelt, das Klima hart, für das Überleben der Familien waren immer Mann und Frau wichtig.
Dieses Restaurant heißt Aino, wie die junge Frau, die sich lieber umbringt, als den alten Väinämöinen zu heiraten. Aino kommt von "ainoa", die/ der einzige."
Väinö, Ilmari oder Tapio sind weitere beliebte Vornamen und der Mythos hat eine eigenständige finnische Schriftkultur mitbegründet – auch wenn Finnisch neben Schwedisch erst 1902 zur Amtssprache wurde.
Womöglich kennen gar nicht alle Finnen die Geschichten aus dem Kalevala – beleben die Tradition mit ihrer Sprache aber jeden Tag neu.
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