Expertin für das Zwischenmenschliche

Wie sich das Weihnachtsfest meistern lässt

Familie beim Weihnachtsessen
Familie beim Weihnachtsessen © imago / Westend61
Von Susanne Billig · 14.12.2017
Das Fest der Liebe endet oft in Streit und Frust, gerade im Familienkreis. Denn häufig werden zu Kinderzeiten festgeschriebene Rollen weiter praktiziert. Doch man kann sich daraus befreien, sagt Autorin Susann Sitzler, Expertin für das Zwischenmenschliche. Zum Beispiel mit überraschenden Fragen.
Ach, Weihnachten. Selige Weihnachtszeit. Leise rieselt der Schnee. Kalt ist es draußen und drinnen so warm und so nah. Nach weiter Anfahrt endlich alle wieder beisammen – die Mutter, der Vater, die Kinder, der Weihnachtsbaum, das Weihnachtsessen, der Weihnachtssekt, die Weihnachtsbescherung, die Weihnachtsgespräche, die Mutter, der Vater, die Kinder, der Partner, der Bruder, und noch ein Bruder, die Schwester, und noch mehr Weihnachtssekt, warum trinkt die denn immer so viel? Sagt da mal jemand was, oder muss ich das schon wieder machen? Und warum kann Mutter nicht einmal still sitzen, gleich beklagt sie sich wieder. Seht ihr! – Was hast du gesagt? Worüber soll ich mir Gedanken machen? Entschuldige bitte, geht dich das was an? ... o, du, du ... Weihnachtszeit.
Susann Sitzler: "Oft werden ja die Rollen, die festgeschrieben wurden, als man Kind war – das ist der große Bruder, das ist das Nesthäkchen – durchgezogen, bis das Nesthäkchen selbst 57 ist und längst Vorstandsvorsitzende, aber sie wird immer noch behandelt, als ob sie überfordert ist, einen Teller in die Küche zu tragen."
Die Autorin Susann Sitzler ergründet gern Tiefen und Untiefen des Zwischenmenschlichen. "Geschwister" heißt eines ihrer Bücher, ein anderes "Freundinnen".
"Einerseits ist das ja wahnsinnig schön, dass man in so ein vertrautes Setting kommt, wo jeder weiß, was kommt, wo jeder auch sich geborgen fühlen kann. Aber andererseits, wenn man dann einfach merkt: Ihr seht mich ja überhaupt nicht, wer ich heute bin. Ihr seht mich in einer Version von vor 30 Jahren, und da fühlt man sich auch verkannt. Und weil man darüber in der Regel natürlich überhaupt kein Bewusstsein hat, werden halt diese Rollen weitergespielt. Und das ist vielleicht noch für die ersten drei Stunden, wenn man sich trifft, wunderschön, und dann fängt's an, einen zu nerven – und nach drei Tagen möchte man die alle massakrieren."

Für Fluchträume sorgen

Weihnachten ist nicht ungefährlich. Die häusliche Gewalt steigt sprunghaft an, in den Frauenhäusern herrscht Platznot, Beratungsstellen richten Notrufdienste ein. "Rausrennen und um Hilfe schreien", rät die Caritas, wenn die Lage explodiert. Doch um fies miteinander zu sein, braucht es keine Schläge. Ein gepflegtes Mobbing reicht aus.
"Dass wirklich zum Beispiel immer auf einem Geschwister rumgehackt wird, was ja auch eine Art von Gewalt ist. Ein Beispiel, das mir mal eine Gesprächspartnerin erzählt hat: dass ihr immer ein bestimmter Spitzname gegeben wurde, der sich darauf bezog, dass sie früher sehr füllig war. Und sie hat das wirklich als totalen Horror irgendwann empfunden und gesagt: Das kann doch nicht sein, dass ich darum bitte, dass man mich – bitte! – jetzt nicht mehr soundso nennt – und die machen das einfach immer weiter."
Ist es also lächerlich, an ein "Fest der Liebe" zu glauben? Sind wir an Weihnachten wie die Gans ans Messer geliefert und dazu verdammt, das immer gleiche Bühnenstück aufzuführen? Nein, unterstreicht Susann Sitzler. Es gibt andere Wege, mit einer schwierigen Familiensituation klarzukommen, ohne Streit oder stummes Ertragen. Sie nennt es "sich wappnen". Schließlich kennt man ja die Konflikte und weiß um den Sog des weihnachtlichen Familienrollenspiels – alle guten Vorsätze sind wie weggeblasen, sobald man in Mutters weichem Ecksofa auf Zwergengröße geschrumpft ist oder der Nachwuchs seine Bissigkeiten versprüht. Eine simple Sicherheitsmaßnahme bestünde darin, schon im Voraus für Fluchträume zu sorgen. Zum Beispiel, indem man einen täglichen Spaziergang einplant: allein an der frischen Luft – Raum schaffen, außen und innen.
"Ganz oft lässt sich das über kleine Dinge auch schon regulieren. Also zum Beispiel dieses automatische Zuhause-Wohnen – bestenfalls noch im eigenen Kinderzimmer, noch mit seinem Partner im alten Kinderbett, wo man sagen könnte: Nein, wir wohnen im Hotel oder nehmen eine Wohnung, wir kommen dann und kochen zusammen, aber wir haben einen Rückzugsraum."

Das Theaterstück umschreiben

Verletzungen, Enttäuschungen kommen in den besten Familien vor – bei allen Beteiligten. Auch Mitgefühl für die anderen hilft, weiß Susann Sitzler. Wenn die Mutter mit ihrer Überfürsorge nervt, könnte sie tatsächlich Angst haben, dass die Kinder nie mit ihr zufrieden sind. Wenn alle Gespräche in bedrückter Stille ersterben, könnte ein Familiengeheimnis dahinterstecken, das man mal angehen müsste. Wenn die Schwester sich wieder betrinkt, könnte sie ein Leid auf sich genommen haben, das eigentlich die ganze Familie was angeht.
Die anderen kämpfen auch mit schwierigen Gefühlen – wer das versteht, kann vielleicht auf giftige Bemerkungen verzichten. Und stattdessen mal was Neues ausprobieren: das Theaterstück umschreiben, frische Dialoge einführen. Anstatt spitz zu reagieren, wenn der Vater schon wieder herablassend wird, ihm eine überraschende Frage stellen. Oder ihn für etwas loben, das alle bislang für selbstverständlich hielten.
"Schlimmstenfalls kann man immer noch in die alten Rollen zurückfallen, es kann aber auch sein, dass es einen neuen Weg nimmt. Das ist eigentlich auch das Schöne an so engen Familienbeziehungen, bei allem auch Quälenden, was die haben können: Weil's halt einfach Beziehungen sind, die nicht auflösbar sind. Es ist nicht gleich kaputt, wenn man mal was ausprobiert."

Auseinandersetzung mit sich selbst

Leider kann auch die Liebe selbst zur Belastung werden – wenn man es kaum aushält, wie die anderen ihr Leben mit schlechten Entscheidungen pflastern. Der kranke Bruder geht nicht zum Arzt. Die Nichte verstrickt sich in einer destruktiven Beziehung. Die traurige Schwester begreift einfach nicht, dass eine Psychotherapie ihr helfen könnte.
"Das ist total schwer zu ertragen, der Punkt ist nur: Die Möglichkeiten sind sehr, sehr begrenzt. Ich kann da sein, ich kann anbieten, und falls der andere sagt: Ja, ich brauche Hilfe, bitte hilf mir, kann man auch tätig werden. Aber man kann ihm diese Worte nicht in den Mund legen."
Das friedliche Weihnachtsfest fängt also lange vor Weihnachten an – Jahre, Jahrzehnte vor diesem Weihnachtsfest. In der Auseinandersetzung mit sich selbst, mit der eigenen Geschichte, den eigenen Gefühlen, den eigenen Wahl- und Handlungsmöglichkeiten.
"Nicht bloß die Weihnachtsgans zu kochen, ist eine große logistische Aufgabe, sondern sich seelisch darauf vorzubereiten, seiner Vergangenheit in der Familie zu begegnen: Das ist eigentlich die noch komplexere Aufgabe."
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