Europas Krise im Irrgarten historischer Vergleiche

Von Stephan Hebel · 27.05.2013
Orbans Hitler-Vergleich mit Merkel stinkt. Europas Krise, so gibt der Politikjournalist Stephan Hebel zu Bedenken, werde man nicht gerecht, indem man sich unter fragwürdigen historischen Vergleichen verirrt. Es gibt nämlich auch zutreffende Vergleiche.
Die Geschichte ist ein beliebtes Werkzeug. Wie jedes Werkzeug erweist sie sich bei richtigem Gebrauch als nützlich. Aber sie kann, missbräuchlich eingesetzt, auch zu erheblichem Schaden führen.

Wenn Geschichte zum Werkzeug der politischen Debatte wird, dann ist es sehr oft Adolf Hitler, mit dem die Handwerker des Wortes hantieren. Daran hat sich auch 80 Jahre nach dem Machtantritt des Jahrhundertverbrechers nichts geändert. Doch die meisten Vergleiche zwischen Gegenwart und Nazi-Zeit gehen eklatant daneben.

Eine Demonstrantin hält während einer Demonstration gegen das geplante Rettungspaket am 27.03.2013 in Nikosia, Zypern ein Bild von Angela Merkel mit angemaltem Hitlerbart in die Höhe.
Eine Demonstrantin hält ein Bild von Angela Merkel mit angemaltem Hitlerbart in die Höhe.© picture alliance / dpa / Iakovos Hatzistavrou
Merkel mit Bärtchen
So wird Angela Merkel im europäischen Ausland immer wieder mit Hitler verglichen. Das Spektrum derjenigen, die der deutschen Kanzlerin symbolisch das Bärtchen anhängen wollen, ist breit. Es reicht von links bis rechts, von griechischen Gewerkschaftern bis zu reaktionären Politikern wie dem Ungarn Viktor Orban.

Sie sollten es lassen. Und das gilt ganz besonders für diejenigen, die Merkels Politik mit gutem Recht kritisieren. Leute wie Orban gehören sicher nicht dazu – der Ungar benutzte den Hitlervergleich nur, um sein Land mal wieder zum Opfer der Nazis zu stilisieren, allen historischen Tatsachen zum Trotz. Das ist so unappetitlich wie seine gesamte, antidemokratische Politik.

Schwieriger wird es bei den Demonstranten in Griechenland oder Spanien, in Portugal oder Zypern. Sie mögen meinen, die hegemoniale Politik der deutschen Regierung – über die sie sich ja zu Recht empören - mit dem Hitlervergleich besonders schlagend zu entlarven. Aber das Gegenteil ist der Fall.

Ja, Geschichte kann sehr gut helfen beim Verstehen der Gegenwart. Aber billige Gleichsetzungen klären nichts. Sie verstellen im Gegenteil den Blick auf das sehr gegenwärtige Versagen der deutschen Regierung.

Historische Anknüpfungspunkte
Wer Merkels hegemoniales Gebaren in Europa entlarven will, fände in der Geschichte ganz andere Ansatzpunkte und passendere Jahrestage als Hitlers Machtantritt. Da wäre zum Beispiel das Londoner Schuldenabkommen, das die Bundesrepublik und die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs 1953 unterzeichneten, also vor 60 Jahren. Dem westlichen Nachfolgestaat der Nazi-Diktatur wurden damit Milliarden erlassen, unter anderem von Griechenland.

Den Siegermächten war klar: Wenn einem Land ökonomisch die Luft zum Atmen fehlt; wenn man es in eine Sparspirale und Mangelwirtschaft auf Kosten seiner Bevölkerung zwingt – dann gerät die Demokratie in Gefahr und damit die Stabilität, an der auch die Gläubiger interessiert sein mussten und müssen.

Das wäre mal ein Vorbild für den Umgang der inzwischen stärksten europäischen Macht mit der Krise ihrer Nachbarn. Zumal in einer Zeit, da rechte Extremisten und Populisten die Probleme für ihre Zwecke zu nutzen beginnen, nicht nur in Griechenland.

Sicher: Die Griechen und die Spanier und all die anderen Krisenländer haben Fehler gemacht. Sie sind auch, aber nicht nur Opfer einer von Anfang an auf deutsche Export-Interessen fixierten Euro-Politik. Aber bitte sehr: Vor 60 Jahren galt die Großzügigkeit der Sieger einem Land, das den ganzen Kontinent mit Krieg und Menschenvernichtung überzogen hatte.

Merkel verweigert echte Solidarität
Dasselbe Land hat heute eine Kanzlerin, die zwar von Rettungspaketen spricht, aber echte Solidarität – also zum Beispiel einen gemeinsamen Schuldentilgungsfonds und einen Erlass von Verbindlichkeiten – aus nationalem Egoismus verweigert. Womöglich, so ist zu befürchten, auf Kosten der demokratischen Stabilität in Europa und damit auch zum eigenen Schaden.

Mit Hitler hat das nichts zu tun, sondern – schlimm genug - mit notorischer Blindheit für die Lehren aus der Geschichte. Daran sollten die Demonstranten in Griechenland und anderswo erinnern, auch wenn es weniger plakativ daherkommt als eine deutsche Kanzlerin mit Hitlerbart.
Stephan Hebel, Journalist, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik und Romanistik, bevor er 1986 Redakteur der "Frankfurter Rundschau" wurde. Er arbeitete im Nachrichtenressort, als Korrespondent in Berlin, im Ressort Politik und als Mitglied der Chefredaktion. Seit 2011 ist er als politischer Autor tätig.
Stephan Hebel, freier Autor
Stephan Hebel, freier Autor© Frankfurter Rundschau
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