Europa der Vaterländer

Einigungsprozess mutiert "vom Mörtel zum Dynamit"

Besprochen von Martin Steinhage · 24.11.2013
Die zentrale Botschaft dieses höchst anregenden Buches findet sich bereits im Titel: Die Europäische Währungsunion ist eine Fehlkonstruktion, ersonnen für "ein Europa, das es nicht gibt".
Diese These, verbunden mit der Befürchtung, dass dem Euro eine "fatale Sprengkraft" innewohnt, ist nicht neu – allein die einschlägigen Werke seriöser Euro-Skeptiker füllen inzwischen Regalwände. Der Bonner Hochschullehrer für Neuere Geschichte bereichert die Debatte jedoch über eine rein politisch-ökonomische Betrachtungsweise hinaus, indem er aus der Perspektive des Historikers dem Thema zusätzliche Tiefe verleiht.
Geppert wirft den Müttern und Vätern des Euro vor, dass sie – beseelt von dem Wunsch, den europäischen Einigungsprozess voranzutreiben – geflissentlich die unterschiedlichen wirtschaftlichen Voraussetzungen, die kulturellen und politischen Traditionen der einzelnen Nationalstaaten ebenso übersahen wie die vorherrschenden Mentalitäten und Denkweisen:
"Ihre Wirtschaftskraft war ungleich entwickelt. Sie besaßen verschiedenartige Verwaltungs-, Steuer- und Sozialsysteme und wichen auch im Hinblick auf die in ihnen gegebenen Arbeitsmarktbedingungen stark voneinander ab.
Die Gesellschaften in der Eurozone stimmten weder in ihrem Konsumverhalten noch in den vorherrschenden Einstellungen zur Inflation oder zur Arbeits-, Zahlungs- und Steuermoral überein.
Dass diese Differenzen ignoriert oder vernachlässigt wurden, war und ist der entscheidende Konstruktionsfehler der Europäischen Währungsunion. Alle weiteren Schwierigkeiten folgten daraus." (S.67f)
Die Sprengkraft des Euro
Nach Auffassung des Autors wird diese Sichtweise hierzulande im intellektuellen Mainstream weitgehend ausgeblendet. Infolge der anhaltenden Schuldenkrise werde die Sprengkraft des Euro den Kontinent spalten und einen neuen Nationalismus der einzelnen Staaten erstarken lassen.
"Vor allem Deutschland als größtes Land in der Mitte des Kontinents wird immer stärker als Bedrohung empfunden – ehemals wegen seiner militärischen, aktuell wegen seiner wirtschaftlichen Macht.
Umgekehrt sieht sich Deutschland durch Koalitionen anderer Länder ausgegrenzt und eingekreist, früher militärisch, gegenwärtig im Rat der Europäischen Zentralbank und auf den Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs.
Der Eindruck verstärkt sich, man werde übervorteilt. Einige politische Schlagworte der Juli-Krise von 1914 – die 'Einkreisung', der 'Blankoscheck', die 'Flucht nach vorn' oder der 'Sprung ins Dunkle' – gewinnen im Jahr 2013 eine ungeahnte Aktualität." (S16f.)
Da die Wirtschaftsmacht Deutschland von ihren Nachbarn zunehmend als ökonomischer Hegemon wahrgenommen werde, drohe eine gefährliche Wiederbelebung anti-deutscher Klischees. Das Auseinanderfallen der Eurozone in Gläubiger- und Schuldnerstaaten habe längst eine "Spirale des Unmuts" (S. 73) in Gang gesetzt, die dem Gedanken der europäischen Integration diametral zuwiderlaufe.
Sehr zugespitzt befürchtet Geppert, dass "Maastricht" in der deutschen Öffentlichkeit einen ähnlichen Klang annimmt wie einst "Versailles". (S. 144)
Dominik Geppert benennt noch weitere Beispiele für seine These, wonach der gut gemeinte, aber schlecht gemachte europäische Einigungsprozess "vom Mörtel zum Dynamit" mutiere. So habe die aktuelle Krise fatale Folgen sowohl für Rechtstaatlichkeit und Demokratie in der EU als auch für die Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit der Europa-Politik insgesamt:
Cover: Dominik Geppert "Ein Europa, das es nicht gibt"
Cover: Dominik Geppert "Ein Europa, das es nicht gibt"© Europa Verlag
Die Aufweichung der Maastricht-Kriterien, der Zugriff auf die Einlagen der Sparer in Zypern,
Angela Merkels nächtliche Kehrtwendungen auf EU-Gipfeln – und nicht zuletzt die Entmachtung der nationalen Parlamente im Zuge der Rettungspolitik.
"Der alte Grundsatz, dass Verträge einzuhalten sind, gilt im Euroraum nicht mehr uneingeschränkt. Die Achtung des Rechts scheint ins Belieben der Regierungen gestellt. Im Namen Europas suspendieren unsere Politiker die Demokratie und hebeln den Rechtsstaat aus." (S. 106)
Der Autor beschränkt sich nicht nur auf den Blick zurück: Im letzten Kapitel versucht Geppert Wege aufzuzeigen in Richtung einer tragfähigen Ordnung der Europäischen Union wie der Eurozone, so wie wir sie heute kennen. Dabei spricht er sich gegen weitere Versuche aus, gleichsam verspätet doch noch die Vereinigten Staaten von Europa etablieren zu wollen.
Weniger als Bundesstaat, mehr als Freihandelszone
Ebenso erteilt er der "Weiterentwicklung der Transfer- und Haftungsunion durch die Zusammenarbeit der nationalen Regierungen" eine Absage (S.161). Nicht zuletzt, um – wie Geppert betont – zu vermeiden, dass die EU mittel- oder langfristig auf die Eurozone zusammenschrumpft, empfiehlt der Historiker eine dritte Zukunftskonzeption:
"Sie setzt auf die flexible Kooperation aller Mitgliedstaaten in einer EU, die gemeinsame Institutionen hat und sich gemeinsame Grundregeln des Zusammenlebens gibt, die aber vom Ziel einer immer engeren Einheit der ihr angehörenden Staaten und Institutionen ebenso Abschied nimmt wie von der Idee einer einheitlichen Regulierung und Normierung möglichst vieler Lebensbereiche.
Eine solche EU wäre weniger als ein Bundesstaat, weniger als die Vereinigten Staaten von Europa oder eine europäische Republik. Sie wäre aber mehr als eine bloße Freihandelszone." (S. 173f.)
Und was bedeutet das für die gemeinsame Währung? An dieser Stelle bleibt der Bonner Historiker erstaunlicherweise unentschlossen: Die Zukunft des Euro sei eine "durchaus offene Frage" (S. 182) – eine Option, aber kein Muss.
Fest steht für Geppert hingegen: Das Europa nach der Krise wird, "wenn es Bestand haben soll, ein Europa der Vaterländer bleiben" (S.184). In dieser Konstruktion werden die Einzelstaaten als Träger von Demokratie, Recht und Sozialstaat weiter eine zentrale Rolle spielen.
"Wenn wir einseitig die europäische Solidarität beschwören und nationale Traditionen, Denkweisen und Interessen verleugnen, sind wir auf ein Europa fixiert, das es nicht gibt." (S. 184)
Dieses Buch ist, wie bereits gesagt, höchst anregend und lesenswert. Sicherlich, des Autors historische Anleihen wirken bisweilen etwas bemüht und überspannt. Auch drückt sich Dominik Geppert vor der hochbrisanten Frage, wie die Schuldenkrise zunächst einmal ganz konkret zu bewältigen ist – und wie es generell mit dem Euro weitergehen soll.
Das aber tut dem positiven Gesamteindruck keinen Abbruch: Nach der Lektüre ist man klüger als zuvor. Darf man mehr erwarten?

Dominik Geppert: Ein Europa, das es nicht gibt. Die fatale Sprengkraft des Euro
Mit einem Vorwort von Udo di Fabio
Europa Verlag Berlin, August 2013
192 Seiten, 16,99 Euro

Mehr zum Thema