Erster Weltkrieg

Patchwork von Autorenstimmen

Von Hans-Jörg Modlmayr |
Der Historiker Matthias Steinbach befasst sich mit Reaktionen von Schriftstellern auf den Beginn des Ersten Weltkriegs. In "Mobilmachung 1914" kommen 80 Autoren zu Wort - darunter Gottfried Benn, Ernst Jünger und Thomas Mann.
Wer je die expressionistische Anthologie "Menschheitsdämmerung" ("Der deutsche Krieg im deutschen Gedicht") von Kurt Pinthus in der Hand gehabt hat, wird - auch als Nachgeborener - unvermittelt mit dem gewittrig-wabernden Zeitgeist von 1914 und dem Beginn des Großen Krieges konfrontiert.
Für viele brach im August 1914 die langersehnte bzw. befürchtete Apokalypse über Europa herein. "Ego-Dokumente" aus dieser Zeit sind für die heute hochaktuelle Erforschung der Geschichte des Ausbruchs und Verlaufs der ersten Kriegsjahre bedeutsame, spontane, "sprechende2 Quellen aus dem jeweils persönlichen Blickwinkel betroffener Verfasser.
Matthias Steinbach, der Herausgeber von "Mobilmachung 1914", ist als 1966 Geborener zwar gute 50 Jahre entfernt vom fatalen Jahr 1914, das in diesen Monaten geradezu urgewaltig - auch als Menetekel für uns heute - aus den Tiefen des kollektiven Gedächtnisses heraufbeschworen wird. Durch die lebendige mündliche Überlieferung in seiner Familie ist der Herausgeber aber seit seiner Kindheit mit den persönlichen Kriegserlebnissen seines erzgebirgischen Urgroßvaters auf Tuchfühlung.
Für den Urgroßvater, der seinen Kindern und Enkeln drastisch und deftig über seine Erlebnisse berichtet hatte, war der Große Krieg ein "grußer Scheissdrack", nichts anderes als eine die Große Natur tödlich bedrohende Manifestation des "menschlichen Wahnsinns."
Einziger nicht-deutschsprachiger Autor ist Jaroslav Hasek
Steinbachs geschichtswissenschaftliche Forschungsarbeit ist ganz entscheidend durch die authentische Überlieferung seines Vorfahren geprägt. In seiner Anthologie von schriftlichen Reaktionen deutschsprachiger Autoren auf die Anfangszeit des Ersten Weltkriegs vereint er einen vielstimmigen Chor von sehr unterschiedlichen Momentaufnahmen von Autoren, die nicht wussten, wie es weitergehen würde mit dem Krieg, den nicht wenige, auch Thomas Mann, zunächst als gerechten Krieg eintaxiert hatten.
Der einzige nicht-deutschsprachige Autor, der zu Wort kommt, ist, in Übersetzung, der unsterbliche Jaroslav Hasek, dessen Antiheld Schwejk die zeitlos humorvoll-bissige Variante des kollektiven Wahnsinns, der die Menschheit periodisch überfällt, repräsentiert. Erschütternd an den ohne jede Wertung abgedruckten - zu einem großen Patchwork aneinandergenähten - Autorenstimmen zum Krieg ist, dass sie letztendlich von heute stammen könnten, wenn die Unfähigkeit der Politik, Konflikte mit Vernunft zu lösen, weiter zunehmen sollte.
In "Mobilmachung 1914" kommen 80 Autoren zu Wort, darunter so bekannte wie Ernst Barlach, Johannes Becher, Max Beckmann, Gottfried Benn, Bertold Brecht, Alfred Döblin, Hans Fallada, Stefan George, George Grosz, Friedrich Gundolf, Sebastian Haffner, Gerhard Hauptmann, Hermann Hesse, Ernst Jünger, Harry Graf Kessler, Käthe Kollwitz, Klaus Mann, Thomas Mann, Robert Musil, Georg Trakl, Stefan Zweig.
Nicht chronologisch, sondern unter die vier Kapitelüberschriften "Sarajewo und die Julihimmel 1914", "Mobilmachung und Augusterlebnis", "Vormarsch und Aufprall" und "Erstarrung und Gewöhnung" - hat der Verfasser der Anthologie die Beiträge eingeordnet, so wie ein großer Komponist, der disparates 'Material' verwendet für vier monumentale Sätze eines vielstimmigen symphonischen Werks mit sehr viel Dissonanz und Melancholie, aber auch kurzen Visionen einer helleren Zukunft.

Matthias Steinbach: Mobilmachung 1914 - Ein literarisches Echolot
Reclam
288 Seiten, 19,99 Euro



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