Erfolgsgenre "Domestic Noir"

Angriff mitten in der Schutzzone

Eine Frau hält sich die Hände vor das Gesicht.
Das Buch "Gone Girl" löste den Boom bei den Domestic Thrillern aus. © imago / Pixsell
Sonja Hartl im Gespräch mit Andrea Gerk · 06.06.2018
Nach außen ist die bürgerliche Fassade makellos, doch in den eigenen vier Wänden herrschen Misstrauen und Gewalt: Die als "Domestic Noir" oder auch "Hausfrauen-Krimi" bezeichneten Thriller werfen einen Blick in die Abgründe familiärer Beziehungen.
Als Auslöser dieses Trends gilt gemeinhin Gillian Flynns "Gone Girl" (2012), das sich millionenfach verkauft hat und dessen Hype drei Jahre später durch "Girl on the train" von Paula Hawkins weiter entfacht wurde. Dabei haben diese Nachfolger mit "Gone Girl" meist nur noch drei Dinge gemeinsam: Das Setting ist weiß und zumeist wohlhabend; es gibt mindestens eine unzuverlässige Erzählerin und eine sehr große Wende oder Überraschung nach der Hälfte des Buches.
Der Erfolg dieser Bücher besteht insbesondere darin, dass sie Leser und Leserinnen sowohl von Unterhaltungsliteratur mit einer weiblichen Hauptfigur (despektierlich of "chick lit" bezeichnet) als auch von Kriminalliteratur ansprechen, indem sie deren Muster verbinden: Bücher wie "Schokolade zum Frühstück" oder auch Serien wie "Sex and the City" haben weibliche Hauptfiguren und liefern einen Blick auf die persönlichen Unsicherheiten von beruflich erfolgreichen, oftmals gut situierten Frauen, die die Liebe ihres Lebens suchen. Die "Domestic Thriller" liefern nun nicht nur diesen Blick, sondern auch die Abgründe, die warten, wenn man die Liebe des Lebens vermeintlich gefunden hat.

Bedrohung in der Ehe

Im Gegensatz zu anderen Thrillern, in denen die Bedrohung durch Spionage, Bomben oder politische Verschwörungen entstehen, holen die "Domestic Thriller" die Bedrohung wortwörtlich nach Hause in das vertraute Gebiet der persönlichen Beziehungen, die in allen diesen Büchern im Mittelpunkt stehen. Dabei handelt es sich in der Regel um eine Ehe; erst seit diesem Frühjahr spielt in Büchern gelegentlich auch die Bedrohung der Kinder (aktuell in "Wahrheit gegen Wahrheit"; "Unknown Girl") eine Rolle.
Und damit wird der Voyeurismus beim Lesen bedient: Die anfangs erfolgreichen Protagonistinnen werden aus der Bahn geworfen und entblößt. Sie geben Einblicke hinter die perfekte Fassade ihres makellosen Lebens in einem tollen Haus und glücklichen Ehe, die sie eigentlich nicht preisgeben wollten, und sprechen zugleich tiefste Ängste und Erfahrungen (Betrug, Eifersucht) sowie Unsicherheiten über Vertrauen und Intimität an.
Zu den persönlichen kommen gesellschaftliche Unsicherheiten: Weiterhin sind die Folgen einer Scheidung für Frauen oftmals dramatischer, ist die Gefahr, Opfer von häuslicher Gewalt zu werden, für sie größer. Außerdem bestätigt auch die Erfahrung, dass einem nicht geglaubt wird, wenn man von einem Übergriff erzählt. Das erlaubt – vom sicheren Sofa aus – eine sehr identifikatorische Lesart.

Zwischen Erfüllung und Gefahr

Diese Bücher werden als Lektüre mit starken Frauen vermarktet, jedoch reicht es dafür nicht aus, eine weibliche Hauptfigur zu haben und überwiegend von einer Autorin geschrieben zu sein – oder zumindest den Anschein zu erwecken, dass sie von einer Autorin stammen.
Die Erzählerinnen in diesen Büchern sind in der Regel nicht absichtlich unzuverlässig oder psychopathisch, sondern haben ein Trauma erlitten und / oder sind abhängig von Alkohol und / oder Medikamenten. Daher wissen sie oft selbst nicht, was passiert und was sie sich einbilden. Sie knüpfen an den literarischen Topos der "verrückten Frau" an, bewegen sich aber nie aus ihrer Opferrolle heraus. Darüber hinaus lauern Erfüllung wie Gefahren für diese Frauen ausschließlich in häuslichen oder familiären Sphären, an anderen Orten der Gesellschaft spielen sie keine Rolle. Erfüllung und Erfolg werden bestimmt von dem perfekten Mann an ihrer Seite und durch ihr Haus, das in der Regel einem "Schöner Wohnen"-Katalog entspricht.

Literatur:
Greer Hendricks/Sarah Pekkanen: The Wife Between us. Übersetzt von Alice Jakubeit. Rowohlt. 12,99 Euro
A.J. Finn: The Woman in the Window. Übersetzt von Christoph Göhler. Blanvalet 15 Euro
Gillian Flynn: Gone Girl. Übersetzt von Christine Strüh. Fischer Taschenbuch. 9,99 Euro
Paula Hawkins: Girl on the Train. Übersetzt von Christoph Göhler. Blanvalet. 9,99 Euro
Karen Perry: Girl Unknown. Übersetzt von Ulrike Wasel & Klaus Timmermann. Scherz. 14,99 Euro
Karen Cleveland: Wahrheit gegen Wahrheit. Übersetzt von Stefanie Retterbush. btb. 12 Euro
A.S.A. Harrison: Die stille Frau. Übersetzt von Juliane Pahnke. Berlin Verlag. 9,99 Euro

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