Eine Region großer Toleranz
Neben Christen, Juden und Muslimen sind im Ruhrgebiet noch etliche weitere Glaubensgemeinschaften aktiv. In kaum einer anderen Region herrscht eine derartige Vielfalt. Eine Foto-Ausstellung in Bochum gibt nun Auskunft über das überraschend bunte religiöse Leben an der Ruhr.
Dietmar Ossen: "Der Schlüssel zur religiösen Vielfalt im Ruhrgebiet ist sicher die Zuwanderung - und zwar in einem langen Zeitraum."
Dietmar Ossen ist Leiter des LWL-Industriemuseums Zeche Hannover. Dort entführt die Fotoausstellung "Im guten Glauben" die Besucher in die Glaubenswelt des Ruhrgebiets. Die hat sich früh entwickelt.
"Wir sehen schon nach der Reformation, in den Reformationsbestrebungen, die Diversität wachsen mit den Protestanten der verschiedenen Glaubensrichtungen. Dann haben wir über die Zuwanderungen aus den damaligen Ostprovinzen, aus dem ehemaligen Polen, einen ganz starken Trend von katholischen Zuwanderern, die hier viele Gemeinden gründen; jüdische Zuwanderung – bis zu drei Prozent der Bevölkerung in der Vorkriegszeit."
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die religiöse Vielfalt im Ruhrgebiet schnell wieder zu, durch Kriegsgefangene und Displaced Persons – dazu gehörten im Krieg deportierte Menschen oder Zwangsarbeiter aus ganz Europa. Die große Zahl muslimischer Gemeinden im Ruhrgebiet hat ihren Grund vor allem in der Zuwanderung der 60er-Jahre.
"Dann haben wir mit den Anwerbeabkommen der Bundesrepublik Deutschland nochmal einen großen Schwung, vor allen Dingen Griechisch-Orthodoxe, und dann in den letzten Jahren nochmal eine enorme jüdische Zuwanderung aufgrund der jüdischen Kontingent-Flüchtlinge, die in die Region einwandern. Heute können wir sehen, dass wir wieder 20 jüdische Gemeinden im Ruhrgebiet haben."
Damit zählt das Ruhrgebiet ungefähr wieder so viele Mitglieder jüdischer Gemeinden wie vor dem Zweiten Weltkrieg. Man findet sie alle neben den Tausenden weiterer Glaubensorganisationen in Nordrhein-Westfalen in einer interaktiven Karte, die das Centrum für Religionswissenschaftliche Studien der Ruhr-Uni in Bochumins Netz gestellt hat: die weltweit erste geografische Darstellung aller religiösen Gemeinschaften einer größeren Region. Da gibt es zum Beispiel die "Liberale Jüdische Gemeinde Ruhrgebiet Perusch e.V.". Was unterscheidet sie von anderen? Auskunft von Cornelia Richter, Professorin für Systematische Theologie an der Uni Köln:
"Das ist eine tatsächlich sehr offene, liberale Gemeinde. Die beschreiben sich selbst als sehr weltoffen, dem 21. Jahrhundert zugewandt, und das heißt, sie versuchen, die alte jüdische Tradition mit dem postmodernen Leben in Einklang zu bringen. Das zeigt sich dann in ganz vielen sozialen, kulturellen, aber auch ethischen Entscheidungen, die dort etwas offener getroffen werden als in orthodoxen Gemeinschaften. Das gilt besonders in der Lebensführung, für das Verhältnis von Männern und Frauen; wie Frauen in der Synagoge aktiv sein dürfen – die können sogar Leitungspositionen übernehmen bis hin zum Rabbinat."
Auch in der größten religiösen Gruppe der Region, die der Christen, verzeichnet die Karte Gemeinden und Gruppen, die neugierig machen. Zum Beispiel die "Schlangen-Evangeliums-Christengemeinde". Beschäftigt sie sich womöglich intensiv mit dem Sündenfall? Ganz falsch:
"Die Schlangen-Evangeliums-Christengemeinde lebt und arbeitet in einem Ort namens Schlangen. Und das ist eine ganz freundliche Gemeinde, die einfach eine sehr bibeltreue Arbeit betreibt, aber der Name eigentlich auf ‚Evangeliums-Christengemeinde‘ zugespitzt werden muss."
Bei den Altkalendariern dagegen liegt man richtig, wenn man den Namen wörtlich nimmt.
"Ja, die haben etwas mit einem Kalender zu tun. Das ist eine orthodoxe Teilkirche, und zwar eine, die am sogenannten Julianischen Kalender festhält. Der Julianische Kalender regelt - wie ja auch der heutige Kalender - die kirchlichen Feste, weshalb bei denen Weihnachten ein bisschen verschoben ist. Also da ist der Name Programm."
Besonders spannend findet die Theologin die "Tamilische Christengemeinde". Sie wurde in den 1980er Jahren in Mülheim an der Ruhr gegründet.
"Die Tamilen sind insofern sehr interessant, als das eine ebenfalls sehr an einem elementaren Bibelverständnis ausgerichtete Gemeinde ist, die aber einen ganz klaren Migrationshintergrund hat. In dieser Gemeinde ist es zum Einen um ein klares Evangeliumsverständnis gegangen, um die Gemeinschaft - aber eben als eine Gemeinschaft von Tamilen, die in der Fremde leben müssen, weil das zum Teil wirtschaftlich und politische bedingte Flüchtlinge waren. Diese tamilische Gemeinde hat sich dann ausgebreitet, erweitert, bis sie 1988 eine Kirche gegründet haben, nämlich die Living Word Missionary Church. Und diese Kirche hat sich dann weltweit ausgebreitet - der Ursprungsort ist aber Mülheim an der Ruhr."
Dass diese religiöse Vielfalt im Ruhrgebiet so gut funktioniert, ist nach Ansicht des Museumsleiters Dietmar Ossen auch der großen religiösen Toleranz in der Region zu verdanken.
"Diskussionen um Moscheebau haben wir natürlich auch, aber nicht so wie in Köln – es geht auch auf gemeinschaftlichem, nachbarschaftlichem Wege wie in Essen-Katernberg zum Beispiel, da wird gar kein langes Aufhebens drum gemacht. Und es gibt natürlich auch die Religionen, die sich ihre Nischen suchen, und da gibt es ganz kuriose Settings. Eins der buntesten Beispiele ist sicher der Hindu-Tempel in Hamm – der zweitgrößte Hindu-Tempel überhaupt in Europa, der zum Tempelfest jährlich über 20.000 Menschen anzieht. Wir können das schon ganz lange in der Geschichte sehen, dass der Glaube tatsächlich für die Menschen eine große Rolle spielt gerade in der Fremde, in der neuen Heimat.
Und das ist immer die Frage: Ist das jetzt ein Trend zu Parallelgesellschaften, die sich sehr isolieren? Heute haben wir die Einschätzung, dass diese Glaubensinseln viel mehr für Integration tun, als wir lange gedacht haben. Also es ist nicht so, dass Menschen sich nur für ihren Glauben zusammentreffen und nur ihren Glauben praktizieren, sondern es geht um ganz alltägliche soziale Dinge, und es sind einfach Hilfestellungen beim Orientieren in der neuen Heimat, im neuen Leben, wie man sich in der neuen Gesellschaft organisieren kann, es gibt einfach praktische Lebenstipps."
Noch ein letztes Beispiel einer interessanten Religionsgemeinschaft im Ruhrgebiet: Die Bahai. Sie sind entstanden aus einer schiitischen Bewegung, dem Babismus. Die Professorin für Systematische Theologie Cornelia Richter zu Geschichte und Hintergrund der Bahai:
"Das war eine militante messianische Bewegung. Messianisch heißt immer: mit Erlösungsvorstellungen verbunden. Ab 1860 haben die sich aber einem grundsätzlichen Wandel unterzogen und sind zu reinen Pazifisten geworden. Das Messianische, also der Erlösungsanspruch, ist immer noch mit drin, aber nicht mehr militant, sondern pazifistisch. Und zwar sagen sie: Unser Ziel ist nichts weniger als der universale Friede, und das unter einer möglichst einzigen Weltordnung. Wie schaut so eine Weltordnung aus? Gleichberechtigung aller Religionen, der Geschlechter, von Wissenschaft und Religion, um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Und wer sich zu diesen Prinzipien des universalen Weltfriedens bekennt und gleichzeitig anerkennt, dass Gott selbst so etwas wie eine unerforschliche Wesenheit ist, die nur in bestimmter Offenbarung erfasst werden kann – aber eben so, dass keiner entscheiden kann, welche Offenbarung jetzt die eindeutig richtige ist –, also wer sich dazu bekennt, der gehört eigentlich schon dazu."
Die Ausstellung "Im guten Glauben" im LWL-Industriemuseum in Bochum ist noch bis zum 30. Juni zu sehen.
Dietmar Ossen ist Leiter des LWL-Industriemuseums Zeche Hannover. Dort entführt die Fotoausstellung "Im guten Glauben" die Besucher in die Glaubenswelt des Ruhrgebiets. Die hat sich früh entwickelt.
"Wir sehen schon nach der Reformation, in den Reformationsbestrebungen, die Diversität wachsen mit den Protestanten der verschiedenen Glaubensrichtungen. Dann haben wir über die Zuwanderungen aus den damaligen Ostprovinzen, aus dem ehemaligen Polen, einen ganz starken Trend von katholischen Zuwanderern, die hier viele Gemeinden gründen; jüdische Zuwanderung – bis zu drei Prozent der Bevölkerung in der Vorkriegszeit."
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die religiöse Vielfalt im Ruhrgebiet schnell wieder zu, durch Kriegsgefangene und Displaced Persons – dazu gehörten im Krieg deportierte Menschen oder Zwangsarbeiter aus ganz Europa. Die große Zahl muslimischer Gemeinden im Ruhrgebiet hat ihren Grund vor allem in der Zuwanderung der 60er-Jahre.
"Dann haben wir mit den Anwerbeabkommen der Bundesrepublik Deutschland nochmal einen großen Schwung, vor allen Dingen Griechisch-Orthodoxe, und dann in den letzten Jahren nochmal eine enorme jüdische Zuwanderung aufgrund der jüdischen Kontingent-Flüchtlinge, die in die Region einwandern. Heute können wir sehen, dass wir wieder 20 jüdische Gemeinden im Ruhrgebiet haben."
Damit zählt das Ruhrgebiet ungefähr wieder so viele Mitglieder jüdischer Gemeinden wie vor dem Zweiten Weltkrieg. Man findet sie alle neben den Tausenden weiterer Glaubensorganisationen in Nordrhein-Westfalen in einer interaktiven Karte, die das Centrum für Religionswissenschaftliche Studien der Ruhr-Uni in Bochumins Netz gestellt hat: die weltweit erste geografische Darstellung aller religiösen Gemeinschaften einer größeren Region. Da gibt es zum Beispiel die "Liberale Jüdische Gemeinde Ruhrgebiet Perusch e.V.". Was unterscheidet sie von anderen? Auskunft von Cornelia Richter, Professorin für Systematische Theologie an der Uni Köln:
"Das ist eine tatsächlich sehr offene, liberale Gemeinde. Die beschreiben sich selbst als sehr weltoffen, dem 21. Jahrhundert zugewandt, und das heißt, sie versuchen, die alte jüdische Tradition mit dem postmodernen Leben in Einklang zu bringen. Das zeigt sich dann in ganz vielen sozialen, kulturellen, aber auch ethischen Entscheidungen, die dort etwas offener getroffen werden als in orthodoxen Gemeinschaften. Das gilt besonders in der Lebensführung, für das Verhältnis von Männern und Frauen; wie Frauen in der Synagoge aktiv sein dürfen – die können sogar Leitungspositionen übernehmen bis hin zum Rabbinat."
Auch in der größten religiösen Gruppe der Region, die der Christen, verzeichnet die Karte Gemeinden und Gruppen, die neugierig machen. Zum Beispiel die "Schlangen-Evangeliums-Christengemeinde". Beschäftigt sie sich womöglich intensiv mit dem Sündenfall? Ganz falsch:
"Die Schlangen-Evangeliums-Christengemeinde lebt und arbeitet in einem Ort namens Schlangen. Und das ist eine ganz freundliche Gemeinde, die einfach eine sehr bibeltreue Arbeit betreibt, aber der Name eigentlich auf ‚Evangeliums-Christengemeinde‘ zugespitzt werden muss."
Bei den Altkalendariern dagegen liegt man richtig, wenn man den Namen wörtlich nimmt.
"Ja, die haben etwas mit einem Kalender zu tun. Das ist eine orthodoxe Teilkirche, und zwar eine, die am sogenannten Julianischen Kalender festhält. Der Julianische Kalender regelt - wie ja auch der heutige Kalender - die kirchlichen Feste, weshalb bei denen Weihnachten ein bisschen verschoben ist. Also da ist der Name Programm."
Besonders spannend findet die Theologin die "Tamilische Christengemeinde". Sie wurde in den 1980er Jahren in Mülheim an der Ruhr gegründet.
"Die Tamilen sind insofern sehr interessant, als das eine ebenfalls sehr an einem elementaren Bibelverständnis ausgerichtete Gemeinde ist, die aber einen ganz klaren Migrationshintergrund hat. In dieser Gemeinde ist es zum Einen um ein klares Evangeliumsverständnis gegangen, um die Gemeinschaft - aber eben als eine Gemeinschaft von Tamilen, die in der Fremde leben müssen, weil das zum Teil wirtschaftlich und politische bedingte Flüchtlinge waren. Diese tamilische Gemeinde hat sich dann ausgebreitet, erweitert, bis sie 1988 eine Kirche gegründet haben, nämlich die Living Word Missionary Church. Und diese Kirche hat sich dann weltweit ausgebreitet - der Ursprungsort ist aber Mülheim an der Ruhr."
Dass diese religiöse Vielfalt im Ruhrgebiet so gut funktioniert, ist nach Ansicht des Museumsleiters Dietmar Ossen auch der großen religiösen Toleranz in der Region zu verdanken.
"Diskussionen um Moscheebau haben wir natürlich auch, aber nicht so wie in Köln – es geht auch auf gemeinschaftlichem, nachbarschaftlichem Wege wie in Essen-Katernberg zum Beispiel, da wird gar kein langes Aufhebens drum gemacht. Und es gibt natürlich auch die Religionen, die sich ihre Nischen suchen, und da gibt es ganz kuriose Settings. Eins der buntesten Beispiele ist sicher der Hindu-Tempel in Hamm – der zweitgrößte Hindu-Tempel überhaupt in Europa, der zum Tempelfest jährlich über 20.000 Menschen anzieht. Wir können das schon ganz lange in der Geschichte sehen, dass der Glaube tatsächlich für die Menschen eine große Rolle spielt gerade in der Fremde, in der neuen Heimat.
Und das ist immer die Frage: Ist das jetzt ein Trend zu Parallelgesellschaften, die sich sehr isolieren? Heute haben wir die Einschätzung, dass diese Glaubensinseln viel mehr für Integration tun, als wir lange gedacht haben. Also es ist nicht so, dass Menschen sich nur für ihren Glauben zusammentreffen und nur ihren Glauben praktizieren, sondern es geht um ganz alltägliche soziale Dinge, und es sind einfach Hilfestellungen beim Orientieren in der neuen Heimat, im neuen Leben, wie man sich in der neuen Gesellschaft organisieren kann, es gibt einfach praktische Lebenstipps."
Noch ein letztes Beispiel einer interessanten Religionsgemeinschaft im Ruhrgebiet: Die Bahai. Sie sind entstanden aus einer schiitischen Bewegung, dem Babismus. Die Professorin für Systematische Theologie Cornelia Richter zu Geschichte und Hintergrund der Bahai:
"Das war eine militante messianische Bewegung. Messianisch heißt immer: mit Erlösungsvorstellungen verbunden. Ab 1860 haben die sich aber einem grundsätzlichen Wandel unterzogen und sind zu reinen Pazifisten geworden. Das Messianische, also der Erlösungsanspruch, ist immer noch mit drin, aber nicht mehr militant, sondern pazifistisch. Und zwar sagen sie: Unser Ziel ist nichts weniger als der universale Friede, und das unter einer möglichst einzigen Weltordnung. Wie schaut so eine Weltordnung aus? Gleichberechtigung aller Religionen, der Geschlechter, von Wissenschaft und Religion, um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Und wer sich zu diesen Prinzipien des universalen Weltfriedens bekennt und gleichzeitig anerkennt, dass Gott selbst so etwas wie eine unerforschliche Wesenheit ist, die nur in bestimmter Offenbarung erfasst werden kann – aber eben so, dass keiner entscheiden kann, welche Offenbarung jetzt die eindeutig richtige ist –, also wer sich dazu bekennt, der gehört eigentlich schon dazu."
Die Ausstellung "Im guten Glauben" im LWL-Industriemuseum in Bochum ist noch bis zum 30. Juni zu sehen.