Ein Jahr Elektro-Scooter

Gehasst und unverzichtbar

04:28 Minuten
Detail einer Person die auf einem E-Tretroller fährt
Die Ökobilanz der E-Scooter ist umstritten: Ihre Lebensdauer ist oft noch zu kurz. © Getty Images / Edward Berthelot
Ein Standpunkt von Emil Nefzger · 15.06.2020
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Kleine E-Tretroller bevölkern seit einem Jahr deutsche Innenstädte. Die vielen, die sie hassen, irren sich, meint der Journalist Emil Nefzger – weil in der zweiradbasierten Elektromobilität der Schlüssel zum Stadtverkehr der Zukunft liegt.
Wegen der Coronakrise entgeht uns allen derzeit der vermutlich größte Aufreger des Sommers: Tausende rücksichtslos auf Gehwegen abgestellte E-Scooter. Seit genau einem Jahr sind diese Gefährte in Deutschland legal, möglich wurde es durch ein typisch deutsches Wortmonstrum, die "Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung".
Vor allem die Roller der vielen verschiedenen Leihanbieter haben seitdem für Ärger, Unfälle und hitzige Debatten gesorgt. Was soll man ein Jahr später von den kleinen Flitzern halten?
Zugegeben, meist sind die Roller einfach nur nervig. Gleichzeitig lässt sich noch nicht mit Sicherheit sagen, ob sie wirklich nennenswerten Einfluss auf die Verkehrswende haben. Trotzdem sollte man die Roller aber nicht verteufeln und innerlich in die Mülltonne oder einen Fluss werfen, wie es manche buchstäblich getan haben.

Verkehrswende braucht elektrische Zweiräder

Denn zweiradbasierte, elektrische Mobilität ist ein zentraler Baustein für das Gelingen der Verkehrswende in deutschen Städten. Die Gründe sind so vielfältig wie einfach. Die E-Scooter sparen im Vergleich zu einem Pkw enorm viel Platz. In eine Parklücke, die sonst ein Auto füllt, das die meiste Zeit des Tages nur herumsteht, passen rund 20 der kleinen Gefährte. Gleichzeitig sind sie erstaunlich effizient: Während ein VW Golf mit einer Kilowattstunde Energie rund zwei Kilometer weit kommt, schafft ein E-Scooter damit 100 Kilometer.
Trotzdem waren die kleinen Tretroller bisher nicht der große Wurf im Mobilitätsalltag, sondern eher Lifestylegefährte, auf denen Touristen und Teenager Innenstädte erkunden oder Wichtigtuer von Meeting zu Meeting flitzen. Als heimlicher Held der Verkehrswende entpuppte sich allerdings vor allem das Pedelec, also das "Pedal Electric Cycle", das die Tritte eines Radfahrers mit einem elektrischen Antrieb unterstützt.
Erst dieser Antriebskomfort der Pedelecs hat dafür gesorgt, dass viele Autofahrer aufs Fahrrad umgestiegen sind. Das klassische Fahrrad war für diesen Wandel offenbar nicht attraktiv genug, obwohl es zweifellos die ökologischste Mobilitäts-Lösung ist.

Flexibel aber mit umstrittener Ökobilanz

Im Vergleich ist die tatsächliche Ökobilanz der E-Scooter umstritten: Ihre Lebensdauer ist oft noch viel zu kurz. Zudem werden sie abends zum Wiederaufladen – welche Ironie – mit Dieseltransportern eingesammelt.
Trotzdem ist eine möglichst autofreie Zukunft ohne die zweiradbasierte, elektrische Mobilität wohl kaum möglich. Wie das Pedelec haben sie einen entscheidenden Vorteil. Denn das besitzt man üblicherweise, kann es also wie den privaten PKW bei Fahrten von A nach B einsetzen. Die in Sharingsysteme eingebundenen E-Roller sind dagegen flexibel.
Ich kann morgens auf dem Roller zur nahegelegenen S-Bahn-Station fahren, von dort ans andere Ende der Stadt gelangen und die letzten vier Kilometer fix auf dem nächsten Mietroller zurücklegen. Abends fahre ich gemeinsam mit einem Kollegen in seinem Auto zum Sport und von dort per Sharingroller zurück nach Hause. Mit einem Pedelec wären all diese Wege so nicht möglich gewesen.

Mobilitätsangebote verknüpfen und ausbauen

Dieses Beispiel zeigt die großen Möglichkeiten, die in den elektrischen Zweirädern stecken – aber auch die Herausforderungen, vor denen sie noch stehen. Denn eine Fahrt mit mehreren Verkehrsmitteln ist bisher unfassbar kompliziert, da jedes einzeln gebucht und bezahlt werden muss. Gleichzeitig wird die Fahrt so enorm teuer.
Deshalb muss der nächste Schritt nun darin bestehen, die Mietroller mit den Angeboten des Nahverkehrs zu verknüpfen, Paketpreise zu schaffen und sie auch an abgelegenen Stationen anzubieten. Denn ohne ein Angebot für die letzte Meile wird es der ÖPNV niemals schaffen, den Anteil des Autos am Verkehr in den Städten weiter zu reduzieren.
Und genau darum geht es am Ende: weniger Autos auf den Straßen. So viel berechtigten Ärger die Roller im ersten Jahr auch verursacht haben, man sollte darüber nicht vergessen, dass jedes kleine, flexible Verkehrsmittel dabei hilft, die Abhängigkeit vom Auto zu reduzieren – auch wenn gerade wieder mal ein Exemplar im Weg steht.

Emil Nefzger, 29, ist seit 2019 im Wissenschaftsressort des "Spiegel" als Redakteur im Bereich Mobilität tätig. Zuvor war er Redakteur bei "Spiegel Online". Der selbsterklärte "Mobilitätsfreak" studierte Geschichte, Kommunikationswissenschaft und Journalismus in München und machte eine Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule.

© David-Pierce Brill
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