Dirk van Versendaal: "Nyx"

Eiternde, alte Körper auf Kreuzfahrt

Dirk van Versendaals literarische Dystopie "Nyx" ist ein morbider, kühler, oft etwas schnöselig-distanzierter Zukunftsroman.
Dirk van Versendaals literarische Dystopie "Nyx" ist ein morbider, kühler, oft etwas schnöselig-distanzierter Zukunftsroman. © Rowohlt; imago/Westend61
Von Stefan Mesch · 27.12.2017
Ein schwimmendes Altenheim - 70 Decks hoch, vier Kilometer lang. Das ist der Schauplatz des Horror-Romans "Nyx", verfasst von "Stern"-Redakteuer Dirk van Versendaal. Doch trotz irren Settings, schräger Figuren und makelloser Sprache ist dieser dystopische Thriller schlecht erzählt.
Mit dem James Dickeys Roman "Beim Sterben ist jeder der erste" - und seiner Verfilmung - begann 1970 die große Zeit des Survival-Horrors. Vier Großstädter, die untereinander etliche Konflikte haben, verschlägt es in die schaurig-schöne Naturlandschaft der Apalachen. Und dann: Geht alles vor die Hunde. Mal quälend langsam. Bald wieder absurd schnell. Bis auch die letzte Figur versteht: Wir sitzen in einer Todesfalle.
Dirk van Versendaal lebt in Hamburg und bei Stockholm: Er war Schneider, Redakteur und schrieb 2014 einen ersten Krimi. Sein zweiter Roman "Nyx" liest sich bereits wie das fünfte oder zehnte Werk eines Erzählers, der seinen Ton und seine Themen kennt. Ein morbider, kühler, oft etwas schnöselig-distanzierter Zukunftsroman, den Rowohlt mit den Filmen Lars von Triers vergleicht. Und der dieses Versprechen auf den ersten Blick tatsächlich einlöst.
Nautische Vokabeln, gruselig-vieldeutige Adjektive und düstere Vergleiche
Die Nyx ist ein nachtschwarz lackiertes, über 70 Decks hohes, vier Kilometer langes schwimmendes Altenheim, aber es ist in den 2040er-Jahren bereits kein guter Ort mehr zum Arbeiten, Leben, Sterben. Die Promenadendecks haben bessere Zeiten gesehen. Die engen Kabinen riechen. Die alten Körper eitern. Und draußen auf dem Meer töten Drohnen und Kampfroboter Piraten. Was für eine Erzählwelt! Van Versendaal liebt Sprache, Jargon: Gibt es nautische Vokabeln, gruselig-vieldeutige Adjektive und düstere Vergleiche, die nicht auf diesen 448 Seiten untergebracht wurden? Um Bilder zu zeichnen, so kräftig, plastisch wie möglich?
Verschiedene Figuren hadern mit dem Alltag an Bord: der niederländische Techniker Rafael, dessen Kollege verschwindet, während sie tonnenweise Windeln in Hochöfe schütten. Die deutsche Ärztin Polly, die seit der Kindheit zwanghaft Dinge zählt. Und zwei Rentner, die so lange in relativem Luxus leben wollen, bis ihr Budget ausgeht und sie in einer tristen Innenkabine sterben. Und dann ist da noch die Italienerin Rosanna. Sie hat eine teure Kabine. Weil sie exklusive Erotik-Geschichten schreibt.
Wer den Film "Jurassic Park" oder die Serie "Westworld" kennt, kennt die Regeln des Genres - und ahnt, wie es zur Eskalation kommen kann. Geht es um Killer-Roboter, eine Technik-Verschwörung? Oder um eine Seuche, die alte Menschen gewalttätig macht? Müssen die Figuren, deren Wege sich auf dem Riesenschiff ein bisschen zu häufig zufällig kreuzen, eine Verschwörung aufdecken? Oder einfach nur entkommen? Wie wichtig sind ihre ausführlichen Vorgeschichten, Traumata? Ist "Nyx" ein warmherziges Buch - oder doch vor allem Satire? Tut sich, wie etwa bei Lars von Triers tollem "Geister" oder "Melancholia", am Ende eh die Hölle auf?
Die handelnden Personen schauen vor allem zu
Survival-Stoffe bleiben spannend: Eine Serie wie "Westworld" handelt von Autonomie, erzählt eine Geschichte, die zu einem Essay wird, bei dem verschiedene Figuren für verschiedenste Haltungen stehen. Und der Roman "Beim Sterben ist jeder der erste" fragte vor knapp fünfzig Jahren, wie Männlichkeit gebaut wird, in einer Konsumgesellschaft, die keine Jäger, Sammler braucht. Auch "Nyx" stellt in ähnlich großem Stil kluge Fragen nach einem erfüllten Leben, Freude im Alter, Glück gegen Wellness und soziale Spannungen an einem Ort, der globale Armut ausklammern will.
Doch die Figuren antworten gerade nicht unterschiedlich auf die Bedrohungen. Hier versagt "Nyx". Das Ensemble hat kaum Handlungsraum, die handelnden Personen schauen vor allem zu. Auch das dystopische Setting ist misslungen: Die Rentner-Hauptfiguren wurden in den 50er-Jahren geboren, doch klingen sie an keiner Stelle wie reale Baby Boomer, klug weiter gedacht ins tiefe Alter. Warum spielen kaum Pflegekräfte eine Rolle? Warum hält das Schiff eine Asien- und eine Afrika-Sektion so autark, dass wir nur europäische Figuren sehen, sogar die Crew-Figuren zwei Drittel des Schiffs komplett ignorieren?
Van Versendaal kann stimmige Dialoge. "Nyx" ist um Welten besser geschrieben als die meiste Spannungs- oder Gegenwartsliteratur. Nur eben oft nicht: gut erzählt. Echte Actionszenen fehlen. Nach einer sehr bedrohlichen ersten Hälfte wird das Buch seltsam tattrig und versöhnlich. Und wenn sich die lesbische Ärztin dem Techniker hingibt, ohne, dass Worte wie "Bisexualität" fallen, sie nie nachdenken muss, was das für ihr Begehren und die Sprache, die sie dafür nutzt, bedeutet, fehlt mir ein Lektorat, das den Text auf Timing und Figuren abklopft. Und nicht nur die oft makellose Sprache achtet.

Dirk van Versendaal: Nyx
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2017
448 Seiten, 22,95 Euro

Mehr zum Thema