Derek Parfit: "Personen, Normativität, Moral"

Identität wird überbewertet

Buchcover von Derek Parfit "Personen, Normativität, Moral" - im Hintergrund die Zeichnung eines Mannes mit einer Maske.
Buchcover von Derek Parfit "Personen, Normativität, Moral" - im Hintergrund die Zeichnung eines Mannes mit einer Maske. © Suhrkamp / imago stock & people
Von Eike Gebhardt · 25.07.2017
Identität - jeder will sie, aber keiner weiß, was sie ist. In seinem fast legendären Essay "Personen, Normativität, Moral", erstmals auf deutsch erschienen, erklärt Derek Parfit die Identität als bedeutungslos - jedenfalls für lebenspraktische Belange.
In der angelsächsischen Welt galt Derek Parfit, Anfang 2017 verstorben, als eine der wichtigsten Stimmen seiner Disziplin. Nun ließ der Suhrkamp-Verlag zum ersten Mal Schlüsseltexte des streitbaren Denkers übersetzen.
Eines seiner beiden Lieblingsthemen feiert – zur Leichtverdaulichkeit verdünnt – global gerade wieder fröhliche Urständ: Identität. Jeder will sie haben und keiner weiß, was es ist. Sie "haben" ist an sich schon problematisch, und Selbstverwirklichung setzt ja voraus, dass dieses Selbst schon existiere vor dem Versuch, es auch zu leben.
Parfits heute fast legendärer Essay, hier erstmals auf deutsch, erklärte Identität als bedeutungslos für alle lebenspraktischen Belange.
Er dekonstruiert nicht nur den Begriff der Identität, sondern zugleich die sozialpsychologische Mode – und legt die logischen (wiewohl nicht die historischen) Prämissen eines zumindest in der westlichen Welt zentralen Kulturideals frei. Wozu eigentlich soll eine Identität gut sein, was soll sie bewirken?

Was macht die Einheit des Ich aus?

Und was soll das überhaupt sein: eine persönliche Identität? Eigenschaften? Psychische Kontinuität? Die Einheit des Körpers? Sein berühmtes Beispiel: Nehmen wir an, wir könnten unseren Körper mit allen Informationen bis zur Molekularebene als Datei speichern - und ihn auf einem fremden Planeten wiederherstellen: Wäre es noch dieselbe Person?
Immerhin gehen wir ähnlich vor, wenn wir Körperteile Stück für Stück, zum Beispiel mit Organen und Prothesen, ersetzen - und haben dabei doch das Gefühl, wir selbst zu bleiben. Warum sollte es anders sein, wenn alles zugleich ersetzt würde? Ist es die psychische Kontinuität (wie Parfit glaubt), die körperliche, oder ein spezifisches Muster, das unsere Identität, die Einheit des Ich, ausmacht? Pseudoprobleme? Im juristischen Kontext z.B. müssen wir solche Fragen sehr wohl beantworten, und im kommunikativen Alltag allemal, weiß Parfit.
Sein dreibändiges Hauptwerk hat er programmatisch On What Matters, "Worauf es ankommt" betitelt; mehrere Kapitel aus den ersten beiden Bänden sind hier abgedruckt. In beinah allen diesen Texten verfolgt Parfit die Wechselwirkung von kognitiven und moralischen Fragen. Wie lassen sich Normen rational begründen? Können wir aus schieren Fakten Normen ableiten?

Parfit führt die Leser ins Licht

Ein scharfes Messer suggeriert durchaus Verhaltensnormen, wie nicht nur Eltern wissen. Lassen sich aus verschiedenen Lebensumständen unterschiedliche ethische Normen folgern? Sollten wir Schlechtergestellte bevorzugt behandeln – und zwar aus rein rationalen Gründen? Dürfen wir, entgegen Kant, Menschen zum guten Zweck (des allgemeinen Wohlergehens) instrumentalisieren? Es müsse gar nicht altruistisch, es könne schlicht vernünftig sein, das Wohlergehen anderer zu fördern. Parfit hält Kant und Konsequentialismus für durchaus vereinbar.
Derek Parfit, der Anfang dieses Jahres verstarb, war ein Denker erbarmungsloser Präzision. Mit gesundem Menschenverstand hinterfragte er das Unhinterfragte und führte seine Leser ins Licht, was durchaus entschädigt für die Mühen der Höhenflüge.

Derek Parfit: Personen, Normativität, Moral
Suhrkamp Berlin, 2017
436 Seiten, 20 Euro

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