Der Jude Jesus

Versuche einer "Heimholung"

16:50 Minuten
Walter Homolka steht während eines Interviews zu 20 Jahre Abraham Geiger Kolleg vor einem Bücherregal.
Der Rabbiner Walter Homolka hat einen Überblick über die Beschäftigung jüdischer Gelehrter mit dem historischen Jesus verfasst. © picture alliance / Wolfgang Kumm / dpa
Von Stefanie Oswalt · 24.07.2020
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Es war ein Skandal, den von Christen als „Messias“ verehrten Jesus als Jude zu bezeichnen. Dadurch wurde er für viele Jüdinnen und Juden zu einem Tabu. Doch immer wieder haben sich jüdische Intellektuelle mit dem Leben des „jüdischen Jesus“ befasst.
Berlin 1879. Mit seinem Gemälde "Der zwölfjährige Jesus im Tempel" löst der Maler Max Liebermann Entsetzen aus. Die christliche, von antisemitischen Ressentiments geprägte Öffentlichkeit empfindet es als skandalös, dass der jüdische Künstler sich hier eine Darstellung von Jesus erlaubt – und ihn nicht als Messias darstellt – sondern, ganz naturalistisch, als jüdischen Knaben mit ungekämmtem, schwarzen Haar und barfuß.
Der antisemitische, protestantische Hofprediger Adolf von Stoecker spricht von einer "Verhöhnung und Verspottung" des Christentums. Liebermann übermalt schließlich sein Bild, bevor er es – nun angepasst an gängige Jesusdarstellungen – 1884 in Paris auf einer Ausstellung präsentiert.

Die Frage nach dem jüdischen Jesus beschäftigt viele

"Der Dominanz des Christentums und seines triumphalen Anspruchs auf den Besitz der universalen Wahrheit wollten Künstler wie er (Liebermann) ein selbstbewusstes Judentum entgegenstellen. Ein Judentum, das sich gegen Antisemitismus behaupten kann und stolz ist auf seine Einzigartigkeit. Ein Judentum, das deshalb Jesus ganz als Teil des Judentums begreifen kann – als jemand, der die Werte des Judentums für die ganze Menschheit zugänglich macht."
Die Episode um das Jesusgemälde und ihre Interpretation leitet Rabbiner Walter Homolkas Abhandlung "Der Jude Jesus – Eine Heimholung" ein. Darin liefert er einen kenntnisreichen und sehr gut lesbaren Überblick über die Beschäftigung jüdischer Gelehrter und Intellektueller mit dem historischen Jesus.
"Ich bin auf die Thematik gestoßen bei meiner ersten Promotion über Rabbiner Leo Baeck und seine Beschäftigung mit dem Protestantismus. Und dann sieht man auf einmal: Aha, mitten im Dritten Reich mit den Evangelien als jüdischer Glaubensurkunde und auch mit Jesus. Und dann gräbt man über die Jahre weiter, und stellt fest: Das ist nicht nur eine Einzelposition, sondern es gibt da wichtige Leben-Jesu Forscher."
Die Bedeutung des jüdischen Jesus für das Verhältnis von Judentum und Christentum zueinander beschäftigt Walter Homolka, der als Rektor des Berliner Abraham-Geiger Kollegs auch mit der Ausbildung liberaler Rabbiner betraut ist, schon lange.
"So wie man im Christentum eine Leben-Jesu-Forschung darstellen kann von Reimarus bis Käsemann oder auch in die aktuelle Zeit, so kann man auch für das Judentum flächig darstellen, dass schon seit Ende des 18. Jahrhunderts mit Jakob Emden und dem großen Aufklärer Moses Mendelssohn ein ständig wachsendes Interesse an dieser Person des Jesus von Nazareth existiert. Und meine Frage war dann: Warum?"

Lange war er nur der Bastard oder Zauberer

Denn jahrhundertelang, das zeigen die ersten Kapitel von Homolkas Darstellung, war der Blick auf Jesus aus jüdischer Perspektive sehr negativ. Jesus findet in Mischna und Talmud Erwähnung als Zauberer und Betrüger.
Die im Frühmittelalter entstandenen Toldot Jeschu, die der Volksliteratur zugeordnet werden, verhöhnen Jesus als Bastard – Ausdruck des Leidensdrucks des Judentums im Mittelalter, wie Homolka schreibt. Juden wurden zwangsmissioniert, ihre Schriften galten als ketzerisch und wurden verbrannt.
Mit Beginn der Aufklärung und Emanzipation wächst dann das jüdische Interesse an der historischen Jesusfigur. Eigentlich überraschend, wie Walter Homolka anmerkt, denn Jüdinnen und Juden seien ja Jahrhunderte lang als vermeintliche Christusmörder diffamiert und verfolgt worden.
"Insofern ist da also eine Kehrtwende festzustellen und sie geht bis ins Heute und sie beschäftigt sich auch nicht nur mit theologischen Inhalten, sondern man findet dann auch oh Wunder, dass das auch in der Literatur oder in der bildenden Kunst einen eklatanten Niederschlag gefunden hat."
Viel des von Rabbiner Homolka zusammen getragenen Wissens sei sowohl innerhalb der jüdischen wie der christlichen Welt nur wenig bekannt, sagt der jüdische Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik. Auch er befasst sich seit Jahrzehnten mit der Entstehung des Judentums und unterrichtet am Berliner Zentrum für Jüdische Studien.

Rückschlüsse auf verschiedene Strömungen des Judentums

Im Jahr 2010 hat er zudem ein Buch über das frühe Christentum publiziert – und er engagiert sich im Arbeitskreis Juden und Christen beim Evangelischen Kirchentag:
"Das ist eine sehr interessante Geschichte: Inzwischen ist ja längst anerkannt, dass das Christentum die Tochterreligion des Judentums ist – was übrigens nicht ganz stimmt. Ich sehe es so, dass sowohl Judentum als auch Christentum Tochterreligionen der Religion der hebräischen Bibel des Alten Testaments sind. Das rabbinische Judentum und das Christentum sind beide ungefähr gleichzeitig entstanden. Die wenigsten Leute wissen übrigens, dass in der ganzen hebräischen Bibel das Wort 'Juden' gerade zweimal vorkommt."
Brumlik findet die Beschäftigung mit Jesus von jüdischer Seite auch deshalb so wichtig, weil sie Rückschlüsse auf verschiedene Strömungen des Judentums gibt.
"Das ist deswegen interessant, weil – und das kann man nicht oft genug sagen – es um das vorrabbinische Judentum geht. Damals gab es heftige Debatten zwischen unterschiedlichen Gruppen im jüdischen Land Israel zwischen den Zeloten, zwischen den Pharisäern, zwischen den Jesusanhängern also da gab es einfach die verschiedensten Gruppierungen. Das, was wir heute als Judentum bezeichnen, als rabbinisches Judentum, das gab es damals noch nicht ... er (Jesus) war eine Spielart des antiken Judentums."

Vielfältige Projektionen sind möglich

Im 19. Jahrhundert allerdings blieben die Forschungen jüdischer Intellektueller über Jesus in der christlichen Theologie noch weitgehend ungehört. Jesus als Jude zu sehen, war für viele Theologen und Gläubige – tabu. Während der nationalsozialistischen Zeit gipfelte diese Position in der Behauptung der Deutschen Christen – einer Strömung des Protestantismus – Jesus sei arischer Abstammung gewesen – ein Irrglaube, wie die evangelische Kirche nach der Schoah deutlich bekannte.
München 2020. Archaische Klänge, Stimmen aus der Ferne, Wüstenwind-Assoziationen. Ein Klangteppich des Elektromusikers Philippe Cohen Solal unterlegt die unlängst eröffnete Schau mit dem Titel "Adam wo bist du" im Staatlischen Museum Ägyptischer Kunst.
Darin beschäftigt sich die Künstlerin Ilana Lewitan in einer Reihe von Interventionen mit der Frage, was geschehen wäre, hätte Jesus zur Zeit der Nationalsozialisten gelebt. Die Antwort springt den Besucher förmlich an – schon im Eingangsbereich hängt die überdimensionierte Ausfertigung eines Schutzhaftbefehls, ausgefertigt auf den Jeshua Israel Ben Joseph, geboren in Nazareth im Jahr 1938, wohnhaft in München:
"Man sieht in diesem Schutzhaftbefehl, dass er zunächst '38 natürlich als Rassejude bezeichnet wird, was dann später für ihn das Verhängnis sein wird. Ich stelle ja die Frage, was wäre, wenn Jesus im Dritten Reich gelebt hatte."
Ilana Lewitan ist 1961 in München geboren und aufgewachsen – in einer katholischen Mehrheitsgesellschaft. Trotzdem hat sie erst sehr spät realisiert, dass Jesus jüdisch war – eine Folge ihrer Biografie, wie sie sagt, denn ihre Eltern, beides polnische Überlebende der Schoah, die nach dem Krieg in Deutschland blieben, legten großen Wert auf eine traditionell-jüdische Erziehung.
"Ich hatte, bis ich eingeschult wurde überhaupt noch nie von Jesus gehört", erzählt sie. "Jesus spielte natürlich in der jüdischen Erziehung und zu den jüdischen Feiertagen überhaupt keine Rolle. Ich habe - für mich damals erschreckend – erstmal – also diese leidende männliche Figur am Kreuz an der Wand gesehen und hab überhaupt gar nicht verstanden, um wen es da geht. Und für mich war Jesus dann auch immer derjenige, der zum Christentum gehört hatte. Damit hatte ich nichts zu tun."

Der historische Jesus ist eine einfache Figur

Während des katholischen Religionsunterrichts hatte Ilana Lewitan eine Freistunde – Jesus blieb ihr unbekannt. Umso mehr hat sie Jahre später die Lektüre von Lion Feuchtwangers Josephus-Trilogie beeindruckt:
"Dieser historische Roman, der nach den Aufzeichnungen der damaligen Zeit erklärt hat, wer Jesus war, dass er Jude war, dass er als Jude gelebt hat, dass er Wanderrabbiner war, dass er die Tora wirklich beherrscht hat. Er war ein guter Schüler, sehr religiös und er hat nie anders als ein Jude gedacht, gefühlt, gelebt, er hat die Feiertage gefeiert und er hatte nie die Absicht, eine neue Religion zu gründen."
Gerade die Figur Jesus habe in ihr immer wieder eine Frage ausgelöst, mit der sich alle Exponate ihrer Ausstellung befassen: "Was bedeutet zugeschriebene Identität und selbstdefinierte Identität. Und wir wissen ja, dass Jesus seine Identität als Jude nicht in Frage gestellt hat. Welcher Zufall beschert uns, zu welcher Zeit wir am richtigen oder falschen Ort geboren werden."
Ilana Lewitan bezieht diese Frage auf Biografien der Gegenwart – sie hat in ihre Installation Interviews eingebaut, in denen Menschen von ihren Grenz- und Ausgrenzungserfahrungen berichten: Jüdinnen und Juden, Geflüchtete, Theologen, Trans-Menschen. Einige thematisieren auch ihren Blick auf Jesus.

"Ich setze diese Zeiten als Narrativ zusammen"

"Ich setze ja Jeshua in eine andere Zeit und wäre er in dieser Zeit geboren, dann hätte wohl niemand hinterfragt, ob er jüdisch ist. Und ich glaube, damit sensibilisiere ich auch, wer er war."
Die Frage nach Jesus Schicksal im Dritten Reich, die Ilana Lewitan eingangs mit ihrem Schutzhaftbefehl aufwirft, beantwortet sie am Schluss der Ausstellung: Dazu hat sie ein über vier Meter hohes Kreuz aus Stahl geschaffen. Davor die Hülle einer leidenden Figur – ein überdimensionierter KZ-Anzug, dessen Ärmel sich in flehentlicher Haltung dem Himmel entgegenstrecken.
"Ich zeige dieses sehr harte Stahlkreuz nicht als christliches Symbol, das ist mir ganz wichtig, deswegen will ich auch keine Gefühle verletzen, sondern es ist in meiner künstlerischen Arbeit das Kreuz – das Tötungswerkzeug der Römer. Das heißt, er ist damals als Jude am Kreuz gestorben und dann setze ich ihn in eine andere Zeit und da wäre er als Jude in der Gaskammer gestorben. Und das zeige ich in einer Skulptur. Das heißt, ich setze diese Zeiten als Narrativ zusammen."

Liebe deinen Nächsten ist keine Revolution

In fünf Sprachen klingt der Satz aus einem Telefon am Rande der Kreuzinstallation. Es ist Ilana Lewitan wichtig, ihrem Publikum zu vermitteln: Auch das Postulat der Nächstenliebe, das gemeinhin dem Christentum als Essenz zugeschrieben wird, ist bereits in den fünf Büchern Mose vorhanden und für das Judentum verbindlich:
"Jesus – ich nenne ihn dann Jeshua – ist als Wanderrabbiner zu den Menschen und hat ihnen das gelehrt – aber aus der jüdischen Lehre. Und es wurde übernommen."
Für Walter Homolka zählt Ilana Lewitan damit auch als Beleg dafür, "wie sich jüdische und israelische Künstler fast schockierend freimütig christlicher Motive bedienen. Jesus ist hier schon längst der jüdische Bruder geworden, der nicht wie Jahrhunderte zuvor gegen sein Volk gerichtet wird, sondern in einem Akt der künstlerischen Heimholung als Projektionsfläche jüdischer Identitätsbewältigung dienen kann."

Jesus nicht gegen jüdisches Leben missbrauchen

Die Hülle des jüdischen Jesus als KZ-Häftling am Kreuz – das wird für beide, christliche wie jüdische Betrachtende eine Herausforderung sein – und bietet, genauso wie Homolkas Reflexion über den jüdischen Jesus, eine Gelegenheit zum interreligiösen Dialog.
Der Rabbiner schreibt: "Spannend bleibt deshalb die Frage, wie die Kirche künftig von Jesus sprechen und lehren will, wenn sie ernst nimmt, dass er ganz aus dem Judentum heraus zu verstehen ist, weil er ganz im Judentum beheimatet war. ... Eins ist klar: Unterschwellige und offene antijüdische Tendenzen dürfen für die christliche Identitätsbildung heute keine Rolle mehr spielen."
Der Begriff einer "Heimholung" Jesu sei ins Judentum sei allerdings zu diskutieren, meint Micha Brumlik: "Jesus gehört in religiöser Hinsicht natürlich wesentlich zum Christentum. Dadurch, dass jüdische Gelehrte anerkennen, dass Jesus Jude ist, folgt jetzt nicht, dass er nur und vor allem ein – sagen wir mal – Besitz oder Eigentum des Judentums ist."
Tatsächlich geht es Homolka darum wohl auch weniger: "Mein Anliegen war, deutlich zu machen, dass es dieses jüdische Interesse an Jesus gibt, worauf es sich gründet, dass es auch um Augenhöhe der Religionen geht und das ist eine ganz aktuelle Frage in unserer Gesellschaft. Wie schaffen wir es, das Miteinander von Religionen zu managen? 100 Jahre nach Fall des Staatskirchentums haben wir da immer noch viel zu lernen."
Im Übrigen, sagt Rabbiner Homolka, spiele die Einzelfigur Jesus für die jüdische Theologie nur eine untergeordnete Rolle:
"Wenn Sie fragen, was ist heute der wichtigste Begriff für Juden in der Theologie dann werden Sie feststellen, das ist nicht mehr das Streben nach dem messianischen Zeitalter, sondern heute spricht man von der Heilung der Welt, Tikkun Olam. Das heißt: Pack an und repariere diese Welt. Darin unterscheidet sich eben das Christentum vom Judentum: Das Judentum ist eine Religion, die alles von den Gläubigen erwartet und nicht so viel von Gott."

Walter Homolka: Der Jude Jesus – Eine Heimholung
Herder, Freiburg 2020
256 Seiten, 22 Euro

Ilana Lewitan: "Adam, wo bist du?"
Eine Kunst-Installation
Staatliches Museum Ägyptischer Kunst München,
bis 10. Januar 2021

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